Ulrike Ulrich «Ist sie nicht»

Sie ist die alte Frau, die gegen den Tisch stösst, die den Tisch neben der Theke anstösst, auf dem schon das Tablett mit zwei Tassen und zwei Croissants steht, das Tablett, das sie eben erst vorsichtig abgestellt hat. Sie ist die alte Frau und der Kaffee, der überschwappt, auf das Tablett, über die Croissants.
Sie ist der Moment, das Überschwappen, das nicht zu verhindern war, und der alte Mann, der zusammen gesunken hinter dem Tisch auf der Bank sitzt und zusieht, wie sich das Croissant mit Kaffee vollsaugt. Sie ist das Croissant, das weich wird, und der wacklige Tisch, das Tablett voller Kaffee. Sie ist der Mann, der nicht weiterweiss. Und die alte Frau, die sich umschaut, die Hilfe sucht.
Sie ist die junge blonde Frau, die Servietten bringt, der alten Dame Servietten reicht, die junge Frau mit den einheitlich hellen Haaren, die jedem und jeder sagen muss, dass es den Kaffee heute gratis gibt, wenn man eine Tasse kauft, eine Tasse für 14 Franken. Und der Mann um die 40 ist sie, der keine Tasse will, keinen zusätzlichen Schuss Kaffee und auch keinen Lebkuchengeschmack, nur ein Glas Wasser.
Sie ist der Mann um die 40, der sich umdreht und dann mit seinem Tablett in der Mitte steht, keinen Platz findet, der Mann, dessen Weste zu eng ist, auch das Hemd. Sie ist das Hemd und die enge Weste und der Knopf, der abspringen will, der so aussieht, als wolle er abspringen.
Und sie ist der rothaarige Mann mit der grünen Brille, der aufsteht, einen Platz freimacht, aber auch die Unordnung, die er auf dem Tisch hinterlässt, der Stapel Zeitungen, den der Mann mit der engen Weste nicht entfernen kann, solange er das Tablett trägt.
Sie ist der Moment, als er das Tablett auf den Zeitungen abstellt, sich setzt und aufatmet, ohne dass der Knopf abspringt. Sie ist das Buch, das er sich holt, ein Reiseführer, seine Sehnsucht nach Sizilien ist sie und auch das Buch, das auf dem Nebentisch liegt. Sie ist das Buch und das Bild von der Frau auf dem Buch und der Titel des Buchs ist sie auch. Sie ist die Studentin, die am Tisch nebenan einen Text übersetzt, in den Computer tippt. Und die Freundin, die ihr dabei hilft, ihr gut zuredet. Aber am meisten ist sie die alte Frau am Tisch neben der Theke, die den Kaffee mit den Servietten weggewischt hat, auf deren Tablett die vollgesogenen Servietten liegen und deren Mann vor sich hinkaut.
Und der ältere Mann im eleganten Mantel ist sie, der erst einen Tisch sucht, bevor er sich den Kaffee holt, der da steht in dem eleganten Mantel mit seinem eleganten Gesicht und dem eine Frau einen Platz an ihrem Zweiertisch anbietet. Sie ist diese Frau mit der beigen Wollmütze und den tiefen Falten, die auf den Stuhl gegenüber zeigt, mit einem verlegenen Blick. Und die sich in sich zurück zieht, als der Mann sich lächelnd bedankt, für die Freundlichkeit, und es dann aber doch vorzieht zu warten, bis die beiden Studentinnen aufgestanden sind, die gerade Computer und Bücher einpacken.
Sie ist diese Frau mit der beigen Wollmütze, die einen Schritt getan hat, und der Mann, der versucht so freundlich wie möglich das Angebot abzulehnen. Sie ist der Mann, der den eleganten Mantel über die Stuhllehne legt und dann zur Theke geht, aber noch mehr ist sie die Frau, die aufsteht, noch immer mit Wollmütze, und sich ein Buch holt, die mit einem Buch zurückkehrt, darin liest, als der Mann mit einem Tablett zurückkehrt, auf dem ein Espresso steht.
Sie ist die blonde Frau, die an allen vorbei auf die Personaltür zugeht, schnell, und mit Tränen in den Augen. Und sie ist die Frau am Tisch mit der Kaffeepfütze, die jetzt ein Buch über die Physik der Wunder liest, während ihr Mann eines über Topfpflanzen durchblättert.
Sie ist die Frau, die ihren Namen mehrmals sagen muss, weil sie ihren Kaffee mitnehmen will und weil die Frau mit der rosa Blüte im Haar, die hinter der Theke Bestellungen aufnimmt, den Namen auf den Pappbecher schreiben will, aber den Namen nicht versteht, sie ist die Frau mit der rosa Blüte oben auf dem Kopf, die den Namen nicht versteht und nicht schreiben kann, und die Frau, die einen schwierigen Namen hat, den man nicht kennt, hier in dieser Stadt und in diesem Café, das zur Buchhandlung gehört, in dem man die Bücher mit an den Tisch nehmen darf, und den Kaffee mit hinaus, wenn man einen Namen hat. Sie ist auch der Name, der unverständliche Name, den man mehrmals sagen muss. Und sie ist die Frau, die sagt, dass doch der Name egal sei, die den Namen nicht nochmals wiederholen will, einfach mit dem Kaffee das Gebäude verlassen, und die zierliche Frau mit der rosa Blume, die sich entschuldigt, und die blonde Frau, die wieder aus dem Personalraum zurückkehrt, mit einem angestrengten Gesicht.
Sie ist die elegante Frau mit bordeauxrotem Hut, die an den Tisch des eleganten Herrn, neben der Frau mit der beigen Wollmütze, tritt, und ungarisch spricht, und die Frau mit der Wollmütze, die aufschaut, als der Mann seinen Mantel nimmt und sich freundlich verabschiedet. Sie ist das Bild auf der Zeitung, die der Mann liegen gelassen hat.
Sie ist die Frau mit der rosa Blume, die dem Paar mit der Kaffeepfütze erzählt, wie anstrengend das ist, an so einem Samstag zu arbeiten, von morgens bis Ladenschluss, und der alte Mann, dessen Kinn so aussieht, als würde er immer kauen, als würde er nichts so trainieren wie diesen Muskel. Sie ist die Musik aus dem Lautsprecher und der Schnee vor dem Fenster, sie ist das Kind, das unter den Tisch eines Mannes mit Computer kriecht, am Kabel zieht, sie ist die leichte Bewegung des Computers und die blonde Frau, die wieder Tassen anpreist.
Und die Frau mit der beigen Wollmütze ist sie, die aufsteht und das Buch zurückbringt, das von Legenden handelt. Sie ist der Kaffeegeruch und der Moment, als die Frau mit der Blume das Kaffeepfützentablett abräumt, sie ist die Hand, die sie der blonden Frau auf die Schulter legt. Und sie ist der vergessene Schal drei Tische weiter.

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt und arbeitet seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien im Luftschlacht Verlag ihr Debütroman «fern bleiben», dem im März 2013 der zweite Roman „Hinter den Augen“ folgte. 2015 erschien ebendort ihr erster Erzählband «Draussen um diese Zeit».

Webseite der Autorin

Zora del Buono „Death valley coffee shock“

Als ich Rodriguez an der Polizeistation 70 Miles Junction ablieferte, war er schon fünf Stunden tot. Fünf Stunden sind eine lange Zeit bei der Hitze, und deshalb war ich erleichtert, als ich ihn dem Sheriff übergeben konnte. Sie haben einen Kühlraum für solche Fälle. Vielleicht klingt das jetzt ein wenig gleichgültig, aber so ist es nicht gemeint. Rodriguez war mir in den vier Tagen unseres Zusammenseins sehr nah gekommen, ich möchte sagen, wir waren Freunde. Dass ich ihn so schnell verlieren musste, bedauere ich. Und seinen toten Körper durch die Wüste zu chauffieren war grauenvoll, ich bin sicher, ich werde noch in Jahren nachts erwachen und ihn auf dem Beifahrersitz sehen, den Kopf an die Scheibe gelehnt, die kurzen Beine seltsam gestreckt, diesen kleinen Mann mit den langen Haaren, die so kräftig und glänzend waren, dass jede Echthaarperückenfirma ihm einen horrenden Preis dafür geboten hätte. Ich hatte ihm den Hut aufgelassen und auch die Brille nicht abgesetzt, weil er sie im Wachzustand stets trug, eine grün verspiegelte Pilotenbrille, ich weiss nicht, wie er das aushalten konnte, immer dieser Blick auf die Welt durch froschgrünes Glas. Das Kissen mit den Kaffeebohnen hatte ich zwischen die Scheibe und seinen Kopf geschoben, aber es war weggerutscht, so hatte ich es ihm in den Schoss gelegt und seine Hände darauf zusammengefaltet, nicht damit es aussah, als bete er, sondern damit seine Arme nicht herunterbaumelten während der Fahrt, an die in der Hitze schnell einsetzende Totenstarre hatte ich nicht gedacht vor lauter Aufregung.

Rodriguez und ich sind im selben Jahr geboren, 1961. Das stellten wir in der Bar in Veracruz, in der wir uns kennengelernt hatten, schnell fest. Man fühlt sich Menschen des selben Jahrgangs ja auf eigentümliche Weise nah, sogar dann, wenn man aus unterschiedlichen kulturellen Räumen kommt, so wie wir. Rodriguez war Mexikaner, ich bin Schweizer. Ich bin einer von jenen Männern mittleren Alters, die man in der Zürcher Altstadt in den Kneipen herumsitzen und vor den Kneipen herumstehen sieht. Einer von denen, die Zeit im Überfluss haben. Wir sehen einander alle ähnlich, leicht ergraut, die dünner werdenden Haare im Nacken etwas zu lang, die Jeans etwas zu ausgebeult, viele von uns sind Fotografen oder Schreiber oder Künstler oder Handwerker, Instrumentenbauer zum Beispiel. Fast alle rauchen wir. Solche wie mich gab es schon immer; als ich ein Kind war, sahen sie auch so aus, glaube ich mich zu erinnern, sie waren mir nie unangenehm.

T. hatte mich nach monatelangem Hin und Her mit einer SMS endgültig abserviert, der Satz lautete: Ich liebe dich nicht, wie du mich liebst; ich will eine Pause. Das mit den Pausen kennt man ja, das wird nichts mehr. Deshalb war ich nach Mexiko geflogen. Und hatte Rodriguez in der Bar kennengelernt. Ihm ging es an jenem Abend blendend, ganz im Gegensatz zu mir. Er hatte Pläne, bahnbrechende Pläne, und er teilte sie mir umgehend mit. Er wolle in die Vereinigten Staaten reisen, er habe nämlich eine Geschäftsidee. Männer wie ich haben oft Geschäftsideen, in Zürichs Kneipen stehen wir gerne am Tresen, trinken Rotwein und erzählen einander davon. Ich bin also ein grosser Freund von Geschäftsideen. Rodriguez, so erfuhr ich, besass eine bescheidene Kaffeeplantage in den Bergen hinter Veracruz, er war einer jener fünfundzwanzig Millionen Kleinbauern, die die Welt mit Kaffeebohnen versorgen, handgepflückt. Er wolle sich, so sagte er, mit seinen Bohnen von den anderen Bauern abheben, er strebe nach Höherem. Um den Marktpreis – el precio del mercado – eines Produktes anzuheben, müsse es sich von anderen durch eine gezielte Werbemassnahme unterscheiden. Und die fände er in Amerika, im Valle de la muerte, dem Tal des Todes. Ich war beeindruckt. Er wolle sich umschauen, ob er einen abgeschiedenen Platz finde, wo er seine frisch geernteten und gewaschenen Bohnen zum Trocknen auslegen könne. Dann könne er den Kaffee so nennen: Coffea arabica – Valle de la muerte. Die Idee sei ein Knaller, das müsse ich doch zugeben. Es gebe ja auch diesen schottischen Whisky, der über den Äquator geschifft werden müsse, bevor er verkauft werden dürfe. Der sei weltberühmt! Ich war wirklich beeindruckt. Und ich hatte nichts zu tun. Also begleitete ich Rodriguez auf seiner Fahrt nach Norden, drei Tage waren wir quer durch Mexiko unterwegs, ich schlief in mittelmässigen Hotels, Rodriguez auf dem Hotelparkplatz im Auto zusammengekauert, er meinte, er wolle die Kaffeebohnen nicht unbeaufsichtigt lassen. Sein Mazda war in einem beklagenswerten Zustand, zudem roch es darin eigentümlich. Die feuchten Bohnen, erklärte Rodriguez, er habe sie in Kissen und Decken eingenäht, der Grenze wegen. Er wisse nicht genau, ob Kaffeeimport legal sei, er fürchte aber eher nicht. Ich machte mir keine Sorgen, man hat ja in den Wochen, nachdem man verlassen worden ist, sowieso das Gefühl, das Leben sei am Ende angelangt. Es sind irgendwie grossartige Wochen, ich habe sie schon mehrmals durchlebt. Bei Lichte besehen war bislang immer ich derjenige, der verlassen worden ist. Und nie war ich so wagemutig wie in den aufgewühlten Zeiten danach.

Wir kamen problemlos über die Grenze. Ich wedelte mit meinem roten Pass, der Immigration Officer wurde sofort freundlich, murmelte etwas von einem Schweizer Urgrossvater, Amstutz oder so, vielleicht sprach er auch von Amsteg. Rodriguez nahm sogar für einen Moment seine Brille ab. Er hatte goldenglänzende Augen, einen liebenswürdigen Blick. Ich glaube, wir sahen vertrauenserweckend aus. Vielleicht war der Beamte auch nur müde. Auf alle Fälle ging alles sehr schnell, Grenzzaun und illegale Immigranten hin oder her. Von Douglas aus dauerte es weitere neun Stunden, bis wir unser Ziel erreicht hatten: das Death Valley.

Natürlich kannten wir die Geschichten von jenen Leuten, die vom Highway abfahren, um auf Sandpisten durch die Gegend zu holpern und dann verloren zu gehen. Man liest immer wieder davon, Gerippe, die Jahre später aufgefunden werden, Zeichen menschlichen Lebens, Wasserflaschen hinter Kakteen, ein kaputtes Handy, ein zerfledderter Personalausweis, all diese Sachen. Aber, das war ja gerade der Witz an Rodriguez’ Plan: Wir mussten eine möglichst abgelegene Stelle finden, an der er sein zukünftiges Geschäft aufbauen – oder besser gesagt: auslegen – konnte. Wir übernachteten im Amargosa Opera House, ein im Laufe der Jahrzehnte schäbig gewordenes Kulthotel am Eingang des Tals. Die Zeiten der Theateraufführungen unter der Regie einer exzentrischen Besitzerin waren längst vorbei, ausser uns war nur noch ein holländisches Paar zu Gast, sie stritten ausdauernd. Wir wollten früh schlafen, blieben aber an der Bar hängen. Nach ein paar Schnäpsen schlug ich im Scherz vor, wir sollten unsere Testamente schreiben, man wisse ja nie, Klapperschlangen und so. Rodriguez ging erstaunlicherweise sofort darauf ein, rief laut nach Stift und Papier. Echt jetzt?, fragte ich. Klar, sagte Rodriguez. Ich verzog mich an den Tisch mit der Eckbank, dachte kurz nach und setzte T. als Alleinerbin ein. Das war natürlich reine Boshaftigkeit, sie würde zwar rund zwölftausend Franken erben, hätte allerdings auch ungeheuer viel Aufwand mit den zahllosen Kleinigkeiten, die es nach einem Todesfall zu erledigen gab, zumal bei einem unordentlichen Menschen wie mir. Gleichzeitig wäre sie gerührt und würde ihr Leben lang von einem schlechten Gewissen geplagt. Zudem müsste sie sich meine Fotoalben anschauen und würde mich lieben für immer. T. war die perfekte Wahl. Bei Rodriguez dauerte das Schreiben kaum länger. Beide steckten wir die kleingefalteten Testamente in unsere Brieftaschen. Dann ging ich ins Bett und er ins Auto.

Ich kann die Geschichte hier abkürzen. Wir fanden am nächsten Tag nach langer Suche tatsächlich einen geeigneten Platz, weit abgelegen, nicht sandig, nicht steinig, nicht hügelig. Ein flaches Stück Land, im Hintergrund waren kahle Berge zu sehen. Rodriguez stürzte aus dem Auto, breitete Tücher auf dem Boden aus und riss zitternd vor Aufregung seine Kissen und Decken auf. Die Kaffeebohnen, die herauskullerten, sahen anders aus, als ich es erwartet hatte. Blass, gräulich, unspektakulär. Sie waren trocken, aber eben noch nicht sonnengetrocknet. Und die Sonne schien gnadenlos, die Hitze war wirklich grotesk. Wie lange die hier liegen müssten, fragte ich etwas bang, doch Rodriguez schwieg. Er kauerte am Boden, verteilte die Bohnen über die Tücher und streichelte sie liebevoll mit den Händen, manchmal zupfte er ein Resthäutchen ab. Vielleicht war es dieses versonnene Liebkosen, das mich derart rührte, dass ich keine spöttische Bemerkung machte; der Mann liebte seine Bohnen wirklich. Ich setzte mich in den Schatten des Autos und schaute Rodriguez nur zu, beobachtete seine rauhen Bauernhände, die plötzlich unfassbar zart zu sein schienen. Es war still, sehr still. Sämtliche Geräusche fehlten. Einmal blickte er auf und hob glückstrahlend beide Daumen. Sein Business – bisiness, wie er immer sagte – würde funktionieren.

Dann fiel er um. Rodriguez kippte einfach zur Seite. Sein Kopf stürzte auf den ausgetrockneten Boden, vom langen Haar umringt, die Brille hing ein wenig schief. Es kann kein lautes Geräusch gewesen sein, aber mir war, als ob ein Donnergrollen durch das Tal gezogen wäre, eine Art verzögerter Knall, mit einem bebenden Nachhall. Es muss die Hitze gewesen sein oder der Schock, der mein Gehirn anders arbeiten liess. Ich wusste sofort, dass er tot war. Ich schleppte ihn zum Auto und hob ihn auf den Beifahrersitz. Wir rumpelten Ewigkeiten über diese Piste zurück auf den Highway und dann direkt zur Polizeistation. Der Sheriff wunderte sich nicht sehr, ein Herzstillstand in der Wüste ist kein ungewöhnlicher Tod. Ich überreichte ihm die Brieftasche. Erst da erfuhr ich den vollständigen Namen meines Freundes: Ruben Ramón Rodriguez. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie zwei Polizisten den Leichnam ins Gebäude trugen. Als ich mich zurückdrehte, sagte der Sheriff: Sie sind also der Alleinerbe? Was bin ich, fragte ich. Der Alleinerbe. Wir müssen das aber erst prüfen, bevor Sie den Wagen übernehmen dürfen. Ich liess mir Rodriguez’ Testament zeigen. Und tatsächlich, da stand mein Name. Und davor: mi fiel amigo. Ich war sehr bewegt.

Nun sitze ich also in dieser Ödnis in einer Polizeistation, warte und friere. Sie kühlen hier wie die Verrückten. Sobald alles geregelt ist, werde ich ins Tal des Todes zurückgehen und die Bohnen einsammeln, hoffentlich finde ich den Abzweig noch. Danach fahre ich nach Mexiko und schaue mir meine kleine Plantage an. Ich werde mit einem Kumpel in der Schweiz telefonieren, dessen Stiefbruder in einem Kaffeeladen arbeitet. Ich werde eine Werbekampagne lancieren und einen neuen Espresso auf den Markt bringen, einen höllenstarken. Er wird Coffea arabica – Valle de la muerte – limited edition Ruben Ramón Rodriguez heissen. Ja, so wird das sein.

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich als Tochter einer Schweizerin und eines Italieners geboren. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich und an der Hochschule der Künste Berlin und arbeitete als Entwurfsarchitektin und Bauleiterin in Berlin. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern von mare – die Zeitschrift der Meere und war stellvertretende Chefredakteurin. Von Zora del Buono sind in Buchform bisher die Romane „Canitz› Verlangen“ und „Big Sue“ sowie „Hundert Tage Amerika“, Aufzeichnungen einer mehrwöchigen Autofahrt von Neufundland nach Florida, die Tunnelnovelle “Gotthard”, das Baumbuch „Das Leben der Mächtigen“ und zuletzt bei C. H. Beck der Roman „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“.

Daniela Danz „Aber heute Nacht treffen wir uns wieder im Waldkasino“

Aber heute Nacht treffen wir uns wieder im Waldkasino und sitzen mit den rußigen Brüdern schwarz im Rauch wie eine Wand kommt der Regen herab in die Senke es geht um die Grenzen die oben auf dem Pass von den Patrouillen abgefahren werden es geht um uns unser Einsatz wird in die Loren verladen und zur Furt gebracht wo tagsüber die Passgänger sich das Wasser über den Schädel schöpfen: es gibt dieses Glitzern von Nähe und Abstand – doch das Kasino ist lang schon zerfallen und wir stehen im Dämmerlicht der Buchen nur um zu sagen: ich weiß nicht was sie hier taten die Köhler die Schmuggler und was aus uns wird wenn die
schwarzen Kübel voll sind mit Laub und Schnee und
selbst nachts das Kasino verriegelt bleibt für zwei die
zu wenig Tricks kannten etwas ins Trockne zu bringen Brombeergestrüpp überwuchert langsam den Boden

Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren und lebt in Kranichfeld. Sie studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle und promovierte über den Krankenhauskirchenbau der Weimarer Republik. Seit 2002 ist sie freiberufliche Autorin und Kunsthistorikerin. Mehrere Jahre arbeitete sie als Kunstinventarisatorin für die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland. 2010 gründete sie die internationale Schülertextwerkstatt svolvi und bekleidet seit dieser Zeit einen Lehrauftrag an der Universität Hildesheim. Daniela Danz ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz und leitet seit 2013 das Schillerhaus in Rudolstadt.

Rezension von „Lange Fluchten“ auf literaturblatt.ch, ein »Roman voller Verzweiflung und Schmerz, in bildhafter, starker Sprache, mit Sätzen die sich tief einbrennen«
(Gallus Frei, Literaturblatt, 06.04.2016)

Bettina Spoerri „An einer steilen Strasse“

Ein paar Cafétische stehen am Strassenrand. Hier sitzt sie und geniesst es, auf die hellen Tischplatten zu schauen, auf denen sich milchigmild die Sonne spiegelt. Es ist heiss. An den Gläsern schlägt sich Wasser nieder. Ein weisser Sonnenschirm und ein hellgrüner Baum werfen Schatten. Am Tisch neben ihr sitzt ein junges Paar. Die übrigens Tische sind leer. Von Zeit zu Zeit gleitet ein Auto vorüber.
Sie blickt die Strasse hinunter.
Ein dunkles Auto nähert sich. Ein Mann fährt es schnell nahe an die weissen Tische heran, hält, lässt das Motorengeräusch versickern, öffnet die Türe, steigt mit einer geübten Handbewegung aus und lässt hinter sich Metall in Metall schnappen: Er weiss sich beobachtet. Er hastet in das Hausinnere.
Sie sieht, wie das Auto durch das Türschlagen in eine sanft wiegende Bewegung versetzt worden ist, wie es langsam und zögernd beginnt, rückwärts zu rollen, lautlos gleitet es die steile Strasse hinunter, immer schneller.
Alles ist still. Sie sagt nichts. Sie ruft nicht. Sie sitzt bei ihrem Glas unter dem Schirm und lässt ihre Augen dem grossen dunklen Gegenstand folgen, der sich entfernt.
In dem Augenblick, da das Auto die erste Kurve nimmt und im Erdboden zu verschwinden scheint – nur das gewölbte Dach ist jetzt noch sichtbar -, kommt der Mann mit zielstrebigen Schritten aus dem Haus, schaut, zögert – rennt los, die Strasse hinunter, dem Auto nach. Seine eiligen Schritte auf dem Asphalt ein trockenes Geräusch: Kurze Schläge auf ein zum Platzen gespanntes Trommelfell.
Schliesslich ist alles wieder still, hell, weiss. Die Eiswürfel klappern leise, als sie das Glas hinstellt. Würde man sie beobachten, könnte man sie nun lächeln sehen. Denkt sie, dass das Auto in einen Baum fahren wird? Oder in eine Hauswand, eine weisse Hauswand – zertrümmert liegt es da. Vielleicht aber rollt es immer weiter die Strasse hinunter, hinter ihm mit langen Schritten der Mann; das Auto nimmt alle Kurven und wartet zuletzt irgendwo auf ihn.
Sie blickt die Strasse hinunter.
Da schiebt sich etwas in den Horizont, von oben nach unten taucht das Auto wieder auf und nähert sich. Etwas langsamer und zaghafter als das erste Mal. Der Mann steuert es auf dieselbe Stelle vor dem Café hin, stoppt, öffnet die Türe und steigt vorsichtig aus. Ein Bein ums andere erscheint. Dann schliesst der Mann die Türe behutsam hinter sich.
Und nun steht das schwarzlackierte Auto schon lange unter der hellen, heissen Sonne und glänzt.

Bettina Spoerri ist in Basel aufgewachsen, studierte in Zürich, Berlin und Paris Literaturwissenschaft, Philosophie und Musik­wissenschaft, arbeitete nach einem längeren Aufent­halt in Israel als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und promovierte zum Thema literarische Todesdarstellungen. Ihre Romane „Konzert für die Unerschrockenen“ (2013) und „Herzvirus“ erschienen bei Braumüller. Bettina Spoerri arbeitet heute als freie Autorin, Filmkritikerin, Kulturvermittlerin und leitet das Aargauer Literaturhaus. Ihr Romanprojekt „Im Wellental oder das Ende der Unschuld“ soll bald zum Buch werden.

Foto: Ayşe Yavaş

Ruth Loosli „Sonntag mit Klee und Sanne“, Gedichte

Allerheiligen

Falls die Toten
toter sind als
angenommen

schlagen die
Krähen lauter mit
ihren Flügeln

und krächzen
heiserer als
erlaubt ist.

 

Ein Mittwoch

Hier stand ein Zug
Und hier ein Haus

Hier wühlen ganz gewöhnliche
Gedanken.

Und da sticht die Forschung
in die Nervenstränge.

Hier stehen Bauarbeiter
mit ihren Helmen

Und begraben ihre eigene
Mahlzeit.

 

Beim Aufstehen im Restaurant

Nachschauen ob Zähne im Mund
Mantel auf Leib
Herz am rechten Fleck.

11.12.2017

 

Das Glück

ist ein gefräßiges Tier.
Es schlägt seine Krallen in meinen
Kopf und vergräbt sich lustvoll in den
Synapsen.
Dann liege ich lange wach und warte auf
den Morgen.

 

Sonntag mit Klee und Sanne

Ein ‚und‘ im Hund
damit er bellt
gefällt.

 

Sonntag mit Klee II

Es hat sich gelohnt
den Mond im Kalb
zu halbieren

und ihn um die Leber
zu drapieren.

 

Man könnte sich

man könnte sich
und den Hunger meiden
und auch das Wild
das sich so nah an die Häuser
traut

so nah an den Häusern
die Stimmen eines Hungers
man könnte sich
meinen mit dem Wild
im Bauch
das sich
so heftig
staut.

 

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Aktuell ist in derselben Reihe im Frühling 2016 der Lyrikband «Berge falten» erschienen.

Titelfoto: Anne Bürgisser

Peter Weibel «Der Schmetterling schläft»

Ich weiss nicht genau, was es zu bedeuten hat, dass ich jetzt jeden Tag Leas Fragen höre. Die Fragen sind lauter geworden, seit sie nicht mehr da ist, lange bin ich an ihnen vorbeigegangen, jetzt sind sie wieder da. Manchmal entfernen sie mich von Lea, führen mich an einen fernen Ort, wo ich nie war, und bringen mich doch immer wieder zu ihr zurück. Wenn ich am Fluss unterwegs bin, kann ich die Fragen überall hören, sie sind eine verborgene Spur, Lea hat hier eine Spur hinterlassen. Überall liegen Zeichen, die von ihr erzählen, aber vielleicht werden sie nur deshalb zu Zeichen, weil ich an eine Verbindung glauben will. Und es kann vorkommen, dass ich Lea sehe, in einem Bild: Da ist sie noch, da geht sie und fragt nach dem Vergessenwerden. Da kommt sie mir entgegen, mit ihrer Wollmütze über der zerschundenen Haut, mit der verpackten Stummelhand. Mit ihren kurzen, sperrigen Schritten, dem gekrümmten rücken, mit diesem scheuen und prüfenden Blick von unten, aus den Lidwinkeln heraus. Da kommt sie und fragt mich, wie ist es in einem gesunden Leben, wie ist das, wenn die Haut noch lieben kann? Wie ist das, wenn die Engel jeden Morgen zu Tisch sitzen, wenn der Mond seine Versprechungen hält?

Vielleicht ist es eine Täuschung, wenn wir uns versichern, dass wir nie vergessen werden. Das Vergessen ist ein grosser Meister. Auch das Erinnern, das Bilder häutet, Bilder schluckt und verändert, ist eine Form des Vergessens. Die Erinnerung ist ein Brennglas, das Glas brennt Bilder ein, blendet aus, was ausserhalb der Bilder ist. Das Brennglas bestimmt, was bleibt, eingebrannte Lebensstücke, nicht das ganze Leben. Das Leben bleibt unauffindbar.

Schmetterlingskind. Die Haut ist filigrandünn, zerreisslich wie die Flügelhaut des Schmetterlings. Nicht leuchtend wie die ausgespannten Flügel, nur schutzlos wie sie. Lea braucht das Wort nie, es ist ihr zu leicht, zu verheissungsvoll. Sie weiss, dass ihr Leben als Schmetterlingsfrau kein Schmetterlingsleben ist.

Ich habe Lea gesagt, dass ich ihre Fragen dem Fluss überbringen will; sie hat ihn geliebt. Aber der Fluss hält keine Antworten bereit. Nur immer neue Fragen.

Das Bootshaus sieht am Ende des Sommers verlassen aus, die Planen für das Vordach sind weg, die Leute vom Bootsfahrverein haben alles geräumt. Nur der Kater Graupp ist noch da, er streicht mir um die Füsse, er hat Hunger. Er ist der letzte, der geblieben ist. Im Sommer waren es fünf oder sechs Katzen. Sie waren immer da, wenn Feste gefeiert wurden, wenn die Bootsfahrer zu singen begannen und ihnen ein paar Fleischbrocken zuwarfen. Unten schaukelt ein einsamer Kahn im Fluss, der fast stillsteht; er hat eine silberne Haut. Man kann jeden Stein am Flussgrund sehen. Auch die beiden Schwäne sind wieder da, sie sind schon heimisch geworden, sie stelzen die Treppe hoch und besetzen das Revier. Für sie ist es ein Anfang, wenn die Menschen gegangen sind.

aus «Der Schmetterling schläft», Waldgut Verlag

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

Claudia Schreiber „Die Brautmutter“

​Sie führte die Friseurin zu dem Mädchen ins Badezimmer, schminken und den Schleier am Hinterkopf befestigen, für zehn Euro schwarz, da konnte man nicht meckern. Das Kleid hing auf einem Bügel, bodenlange Spitze aus Polyester, dazu Schmuck, Schuhe, Täschchen, Blumenstrauß, alles war bereit. Make-up bitte dezent, bestimmte sie. Allenfalls getönte Tagescreme mit etwas Puder, Gloss auf den Lippen, die Augen betont. Mehr nicht. Eine gesunde Röte stand einer Braut eh im Gesicht. Sie verließ den Raum. In einer Stunde würde ihre einzige Tochter verheiratet sein.

Es war ein warmer Maitag und sie schwitzte stark, wegen des Wetters, der bevorstehenden Ereignisse oder der Wechseljahre, sie wusste es nicht: Ihre Haare waren regelrecht nass, ihre Frisur zerzaust. Ihre Augen hatten dunkle Ränder. Seit Tagen schlief sie erst nach Mitternacht ein und wachte morgens viel zu früh auf, immer in Gedanken an die Dinge, die noch zu erledigen waren.
Draußen auf der Straße sammelten sich die ersten Gäste, Autos formierten sich zu einem Konvoi, angeführt vom Wagen für das Brautpaar mit einem Blumenbouquet auf der Motorhaube. Die anderen waren an den Außenspiegeln oder Antennen mit weißen Schleifen geschmückt, wie das so üblich war.
Sie atmete schwer, weil der neue Body-Shaper ihren Leib eine Konfektionsgröße kleiner quetschte. Sie musste es aushalten, öffnete das Flurfenster, schnappte erschöpft nach Luft.
Vor zwanzig Jahren waren sie von hier aus in dieselbe Kirche gefahren, auch damals Schleifen, Blumenschmuck, Konvoi. Sie seufzte. Wo war bloß die Zeit geblieben? Da war die Hochzeitsreise nach Tirol gewesen. Gut. Dann die Einschulung des Mädchens. Süß. Drei Jahre später der Lotteriegewinn, das Auto. Krass. Und sonst, so richtig selige Stunden? Sie warf einen Blick in Richtung des Mannes, dem sie ihr Jawort gegeben hatte. Er stand mit zusammengekniffenen Augen hastig rauchend bei den Blumenmädchen, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, als wollte er sie jeden Moment wegwerfen. Er zog an der Filterlosen, bis die Glut der Haut gefährlich nah kam. Schaute abwesend, als ginge ihn das alles nichts an. Griff zwischen seine Beine, er fühlte sich offenbar unbeobachtet, trotz der vielen Leute.
Sie schüttelte den Kopf. Für ihn hatte sie sich seinerzeit die Haare hochstecken lassen, in demselben Bad, Schleier am Hinterkopf. Sie durfte gar nicht dran denken!
Dieselben Rituale und Lieder, derselbe Vers aus dem 1. Korinther: „Die Liebe ist“ und so weiter, sogar derselbe Pfarrer. Aufmarsch in zwei Reihen, auch heute würden alle auf Blüten treten, von Kindern gestreut. Willst du, danke, willst du, bitte, bis dass der Tod euch scheidet. Für andere mochte das eine Floskel sein, wenn’s nicht lief, lief’s halt nicht, fertig, aus. Doch bei ihnen daheim nahm man noch ernst, was man in Kirchen versprach. Zum Schluss würde heute das Halleluja gesungen, in der Shrek-Version, Disneyfilm, vom Kinderchor. Hatte sich Mr. Pickel gewünscht. War das einzig feierliche Lied, das er kannte, ansonsten nur Gedröhne.

Ihrer stand damals auf Wolfgang Petry, der mit den Bändern am Handgelenk. Hölle! Hölle! Hölle! Im Bett benahm er sich, als müsste er den letzten Bus erreichen. Sie hätte gern einfach nur dagelegen, damit er sie streichelte. Fünf Minuten hatte er eben so ihre Haut gerieben, dann wurde es ihm zu langweilig. Nach der Geburt der Tochter lief es noch schlechter, die Entbindung war so fürchterlich gewesen, dass sie nie mehr schwanger werden wollte, aber Lust hatte sie doch. Hatte ihm Kotelett mit Bratkartoffeln gebraten und endlich schüchtern gefragt, ob er sie mal untenrum streicheln könnte, sie ist beinahe gestorben vor Scham, aber sie wünschte es sich so, mit der Zunge, wenn’s ging.
Er hatte sie groß angesehen: „Jetzt?“
Mehr links oder weiter unten bitte. Sie fürchtete, dass er es nie wieder versuchen würde. Er war nicht zärtlich genug. Mach es wie ein Schmetterling. Ein Schmetterling, der fliegt. Er mühte sich minutenlang, sie war ihm dankbar, so könnte es klappen! Ein Wohlgefühl schlich sich an, bald, nur ein ganz klein wenig länger. Sie wünschte sich, dass er es mochte, dass es ihm nichts ausmachte, es ihr zuliebe zu tun. Ein letzter Schmetterlingsschlag, dann! Da tauchte sein Kopf zwischen ihren Beinen auf, und er fragte kühl: „Wie lang dauert’s denn noch?“

Sie war in derselben Sekunde aufgesprungen, aus dem Schlafzimmer gerannt, hatte die Tür geknallt und laut geschrien, durchs ganze Haus. Das Kind war wach geworden. Sie hatte es in den Arm genommen, getröstet, seinen süßen Geruch eingeatmet und auf seinen Kopf geweint.
Seitdem war es vorbei mit der Liebe. Er fand eine andere, irgendwo. Hauptsache, die Leute bekamen es nicht mit. Das war Bedingung. Warum hatte eine Frau was mit dem? Ihr Herz war seitdem schwer. Im Hals ein Gefühl, als hätte sie mehrere Knödel verschluckt. Seit Jahren kein Mensch mehr in ihren Armen, bloß tausend Wünsche, die nie über ihre Lippen kamen.

Sie hat alles allein vorbereitet: Torte, Deko, DJ und Spiele. Auf dem Rasen vor dem Festsaal stand der Holzbock bereit, mit einem Stamm, den das Brautpaar gemeinsam zersägen musste. Die Freiwillige Feuerwehr stand Spalier, danach würden sie zum Dank einen Schnaps bekommen, bloß nicht die Flasche vergessen.
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Ihre Kopfhaut war inzwischen wieder trocken, sie drückte ihre Frisur mit beiden Händen in Form. Blieb am offenen Fenster stehen. Sie mochte frische Luft, und dennoch hätte sie jetzt gern eine geraucht. Hatte sie längst aufgegeben, der Gesundheit zuliebe, aber die Gier danach war geblieben.
Als ihre Schwiegereltern goldene Hochzeit feierten und die Gäste endlich aus dem Haus waren, saß sie mit der alten Dame im Wohnzimmer auf eine letzte Zigarette. Da sagte die, den goldenen Brautkranz noch im Haar: „Wenn es nach mir gegangen wär, ich hätte ihn schon vor vierzig Jahren verlassen.“
Was für ein Satz: vor vierzig Jahren! Warum war sie um Himmels Willen geblieben? Die Kinder, das Geld. Was würden die Leute sagen. Alle faselten dasselbe.

Ihr war das Gerede nicht wichtig, sie hätte ihn so gern an ihrer Seite gewusst. Als das damals anfing mit seinen Geschichten, was hatte er da für einen Unsinn zusammengelogen! Er müsse ein Klassentreffen organisieren in einer Vorbereitungsgruppe, mittwochabends. Dann später, man plane nun gar gemeinsam eine Reise nach Wien. Die Schulkameraden wussten von nichts, sie hatte sich erkundigt. Ihrem Mann schließlich die Pistole auf die Brust gesetzt, da rückte er damit raus. Es gäbe da eine Arbeitskollegin. Mit ihr hat er gemacht, was sie selbst zu gern erlebt hätte: einen Ausflug an die Nordsee, eine Wanderung am Strand. Wie er es wohl mit ihr tat, auch so hastig? Ihre Schwiegermutter winkte ab: „Vergiss die Männer. Genieß den ungestörten Schlaf.“

Es wurde Zeit. Sie klopfte an die Badezimmertür.
„Wir müssen los.“
„Drei Minuten noch.“
„Was braucht ihr denn so lange?“
Sie lugte hinein. Das Kind war grell geschminkt, die Haare hochgetrimmt wie eine Puppe. Sie war schockiert: „Du siehst aus wie eine Nutte.“
Die Braut verscheuchte ihre Mutter mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Das ist meine Sache, raus.“

Sie stand im Flur, zitterte. Sie verlor ihre Tochter an allen Fronten. Wollte weinen, konnte nicht. Atmete flach. Nuttig war sie selbst gewesen. Damals, sie war im dritten Lehrjahr, hatte der Chef ihr angeboten, gutes Geld zu machen nach Feierabend. Ein lieber Mann, graue kurze Haare, schlank und hochgewachsen. Hatte sie oft angelächelt, ihre Schulter leicht berührt und auf Zuneigung gehofft. Zuletzt hatte er bitterlich in ihren Nacken geschluchzt, seine Frau sei krank und er sei doch auch nur ein Mann. Und weil sie so schäbig herumlief, hatte sie tröstend genickt und zehn Mark erbeten. Für jedes Mal.
Er war ein großer Küsser, Zunge minutenlang in den Hals, hin und her. Wollte, dass sie ihn in der Hand hielt, bis er kam, das war´s im Grunde. Als die Eltern ahnten, dass da was lief, war Schluss mit allem. Nicht mal die Lehre hat sie beenden können. Hat geheiratet, Ende Gelände.

Sie holte ihre seidene Stola, legte sie sich um die Schultern und betrat das verwaiste Kinderzimmer. Warmes Holz, natürlich die üblichen Poster und ein Schreibtisch mit Blick in den Garten. Einige Sachen hatte die Braut bereits ins neue Heim geschleppt, der Schrank fehlte, Lampe, Kommode.
Das Kind hatte eben erst ihr Abitur gemacht, beste Noten. Schon vor drei Jahren hatten alle gestaunt, dass sie so gut war in Chemie und so, in Bio und Physik auch. Für viele unverständlich, doch das Mädchen hatte seine wahre Freude dran. Ist zu Wettbewerben gefahren, bis zum Landesausscheid gekommen. Hat sich auch in Englisch gemacht. Beim Elternsprechtag meinte der Lehrer, sie könnte mit den Leistungen ohne Probleme ein Stipendium bekommen, ein Jahr Amerika. Danach wiederkommen, Abi machen und studieren. Naturwissenschaftlerinnen würden händeringend gesucht.
Sie waren stolz, die Oma hatte gestaunt, der Pfarrer genickt. Man hatte bereits Fotos von der amerikanischen Familie in Händen gehabt, wo sie leben würde. Anständige Leute, Jimmy und Susanna aus Milwaukee mit drei Töchtern. Doch plötzlich wollte sie nicht mehr weg.
„Ich hab mich verliebt!“
Und nun heiratete sie den, obwohl sie nicht mal schwanger war.

Draußen hupten die Fahrer, starteten ihre Motoren. Verdammt noch mal, was brauchte die so lange im Bad! Alle warteten auf das Fräulein.
Hat sich für diesen Tag partout runterhungern müssen auf Größe 34, so ein Irrsinn. Hat ihr für Amerika angespartes Geld in das Brautkleid gesteckt. Einmal Prinzessin sein im Leben, mit allem drum und dran.

Sie sah auf die Uhr, jetzt reichte es aber. Sie riss die Tür auf. Die Friseurin packte eben ihre Sachen zusammen, nickte dem Mädchen lächelnd zu und verließ den Raum.
Die Kolonne wartete draußen, hin zum Jawort. Da platzte der Brautmutter der Kragen. Die holte aus, und knallte ihrer Tochter eine links und eine rechts, dass es nur so klatschte. Ein Schrei, die Wangen rot, der Schleier schief, der Haarknoten aufgelöst. Tränen verschmierten das Mascara der Braut.

Claudia Schreiber, 1958 geboren, war Redakteurin, Reporterin und Moderatorin für den SWF und das ZDF, bevor sie Romane, Sach- und Kinderbücher schrieb. Ihre Texte wurden fürs Theater, TV und Kino adaptiert. 2004 erschien ihr Kinderbuchdebüt „Sultan und Kotzbrocken“ bei Hanser. 2014 folgte mit „Sultan und Kotzbrocken in einer Welt ohne Kissen“ die Fortsetzung der Geschichte. Ihr Bestseller-Roman „Emmas Glück“ wurde 2005 u. a. mit Jürgen Vogel und Jördis Triebel verfilmt. Gemeinsam mit Yayo Kawamura realisierte sie das Bilderbuchprojekt „Ich, Luisa, Königin der ganzen Welt“ (2015). 2016 folgte ihr Jugendbuch „Solo für Clara“. Claudia Schreiber wurde u. a. mit dem »Journalistenpreis Entwicklungspolitik« des Bundespräsidenten ausgezeichnet. 2018 erschien bei kein & aber «Goldregenrausch». Sie lebt in Köln.

Rezension von «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

Foto: Tim Löbbert

Rolf Hermann „Üff nach Gondo“

Vam Donald Trump inschpiriärt, hätt där Büüunnärnämär und Präsidänt va där Helvetischu Vollpfoschtu Partii, där Franz Fondü usum Wallis, ä 10 Meetär hochi Müüru rund um d Schwiiz wällu büübu. Är hät 40 Tonnä Ziägilschteina und 20 Tonnä Beto uf schiinu Gamio gladu und hätt schi üffgmacht, Richtig Gondo. Will är abär ds Navigationsgrät uff dum Bürotisch värgässu hätt, hätt är wädär där Simplopass no Gondo, wädär Domodossola no Mailand gfunnu.

Är isch eifach immär wiitär gfaaru, bis nu schliässli ds Genua ä seer frindlichä, schwaarzä Haafuarbeitär aghaaltu hätt. Beidi hent änandär teif in d Oigä glüegt und hent värlägu glächlu. Dä sindsch gaa z Mittag ässu und hent bischlossu, fär immär zämu z bliibu. Und wasch am friäjiu Naamittag, Arm in Arm, wiidär Richtig Haafu schpaziärt sind, hätt där Franz Fondü gseit: Dass Gondo gaad äso grooss isch, hätti scho nit gideicht. Und där Makélélé Ruppu hätt lachändu gantwoortu: Oi miär isch Natärsch schoo immär ä biz z chlei gsi.

Auf nach Gondo

Von Donald Trump inspiriert, wollte der Bauunternehmer und Präsident der Helvetischen Vollpfosten Partei, der Walliser Franz Fondü, eine 10 Meter hohe Mauer rund um die Schweiz bauen. Er lud 40 Tonnen Ziegelsteine und 20 Tonnen Beton auf seinen Lastwagen und machte sich auf, Richtung Gondo. Weil er aber sein Navigationsgerät zuhause auf dem Bürotisch vergessen hatte, konnte er weder den Simplonpass noch Gondo, weder Domodossola noch Mailand finden.

Er fuhr einfach immer weiter, bis ihm schliesslich in Genua ein freundlicher, schwarzer Hafenarbeiter per Handzeichen bedeutete anzuhalten. Sie schauten einander tief in die Augen und lächelten verlegen. Dann gingen sie gemeinsam Mittagessen und beschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Als sie am frühen Nachmittag, Arm in Arm, wieder zurück zum Hafen spazierten, sagte Franz Fondü: Dass Gondo so gross ist, hätte ich nicht gedacht. Und Makélélé Ruppen fügte lachend hinzu: Auch mir war Naters schon immer etwas zu eng.

Vers Gondo

Inspiré par Donald Trump, l’entrepreneur de construction et président de l’Union Démagogique du Centre, le Valaisan François Fondue, voulait construire un mur de 10 mètres de hauteur autour de la Suisse. Il a mis 40 tonnes de briques et 20 tonnes de béton sur son camion pour partir vers Gondo. Parce qu’il avait oublié son GPS à la maison sur la table du bureau, il n’a pu trouver ni le col du Simplon, ni Gondo, ni Domodossola, ni Milan.

Il a simplement continué à rouler jusqu’à Gênes, où un Noir amical, en débardeur, lui a demandé, par signes, avec ses mains, de s’arrêter. Ils se sont regardés droit dans les yeux et se sont souris d’un air penaud. Ensuite, ils sont allés déjeuner et ont décidé de rester ensemble pour toujours. Quand, en début d’après-midi, ils sont retournés au port, bras dessus bras dessous, François Fondue a dit: Je ne pensais pas que Gondo était si grand. Et Makélélé Ruppen d’ajouter, en riant: Oui, pour moi aussi, Naters a toujours été un peu coincé.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo „Die Gebirgspoeten“. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015). Im Verlag „Der gesunde Menschenversand“ erschien 2017 „Das Leben ist ein Steilhang“, ein sprachlicher Hochgenuss voller Witz und Doppelbödigkeiten!

Margrit Schriber «Die Verrücktheiten in meinem Leben»

Die verrückteste Tat meines Lebens war der Kauf einer Autowaschanlage. Wozu braucht eine Schriftstellerin eine solche, da sie durch ihre Phantasie flaniert? Die Antwort ist einfach. Man muss essen, man hat eine Aufgabe, in meinem Fall eine Reihe von Aufgaben. Ich muss aus dem Reich der Phantasie zurückkehren und von einem zum andern Moment mit beiden Füssen auf dem Boden stehen, denn ich betreue ein Areal. Darauf gab es in den 80er Jahren eine kleine Autowerkstatt mit handbetriebenen Benzinsäulen. Da rundum Grosstankstellen aus dem Boden schossen, kämpfte der Betrieb ums Überleben. Seine Waschstrasse war veraltet. Und es existierte ein bindender Vertrag mit einem weltweiten Benzinkonzern, der diesem eine funktionierende Waschanlage garantierte.
Die Situation war verzwickt!
Es musste eine Autowaschanlage gekauft werden, die mehr Autos in kürzerer Zeit sauberer wäscht. Die Finanzierung von mehr als einer Viertelmillion Franken machte mir Bauchweh. Schreiben ist vergleichsweise erholsam, Geld spielt da nie eine Rolle. Doch jetzt, im Leben?
Ich beschloss das Risiko einzugehen. Der Benzinkonzern schickte mir einen Mann aus der Direktion. Er verhandelte ungern mit einer Frau, die nichts vom Business verstand. Autowaschanlagen waren seine Domäne. Er holte für die Kleingarage eine Offerte ein. Die schickte er mir. Und übersah, dass er auch die Offerte einpackte, die das Fabrikationswerk an ihn gerichtet hatte. Sie belief sich auf den halben Preis. Dies alarmierte mich. Ich suchte nach einem Anbieter ohne Verknüpfung mit dem Benzinkonzern. In Mailand wurde ich fündig. Der Mann aus der Direktion zweifelte, dass Italiener eine solche Anlage bauen können, wollte mich aber zum Werk begleiten. Doch ich wartete vergeblich am Bahnhof und fuhr schliesslich allein dem Gotthard zu.
Der Ingenieur führte mir seine zischende, spritzende Anlage vor. Ich erinnere mich, dass er sich vorbeugte, um im Lärm meine Meinung zu hören und ich nur sein triefendes pechschwarzes Haar anstarrte. Ich hatte keine Meinung. Danach legte er farbige Bürstenfäden vor mich hin. Man könne Duft beifügen, sagte er eifrig. Minze, Jasmin, Vanille, was immer ich möge. Dies liess mich lächeln. Da hielt er mir den Federhalter hin. Und ich unterschrieb.

Die Monteure beeindruckten mit ihren immer sauberen Überkleidern und ihren Arien, die aus dem Tunnel klangen. Der Autowaschtunnel nahm den Betrieb auf. Bald alarmierte eine Störung. Die Mailänder reisten an, behoben sie, wuschen die Hände und reisten in blitzsauberen Überkleidern wieder ab. Eine Freundin erzählte, sie habe beim Autowaschen ein Knacken gehört. Da sei sie aus dem Tunnel gerannt. „Ich wollte nicht im Auto zerdrückt werden.“ Sie übertrieb masslos. Das Gerücht verbreitete sich, diese Autowaschanlage sei lebensgefährlich. Das war fatal geschäftsschädigend. Vor Schreck vermochte ich mich nicht einmal ans Schreiben zu klammern, obwohl mir das in schlimmen Situationen ein Trost ist, da ich mir mit Wörtern erbitterte Feindinnen vom Hals schaffen kann. Das Verschrotten der Autowaschanlage war dann meine zweitverrückteste Tat.
Manchmal weht die Erinnerung mich an. In meinem Roman „Glänzende Aussichten“ habe ich aus dieser Erinnerung eine neue und ganz eigene Welt geschaffen.

27.10.2017

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Ihr letzter Roman „Schwestern wie Tag und Nacht“ ist bei ProLobro erschienen, eine raffinierte Beziehungsgeschichte in Krimiform. Ende Januar erscheint bei Nagel & Kimche ihr neuer Roman. Erste Informationen finden sich auf der Webseite der Autorin:

Zu ihrem neuen Roman, der Enda Januar bei Nagel & Kimche erscheinen wird: Seit dem Tod ihres Vaters Anfang der 80er Jahre betreibt Pia die außerhalb gelegene Tankstelle allein: Benzin, Super, leichte Reparaturen, Kiosk mit Imbiss. Aber mittlerweile haben sich die Kunden an das zeitsparende Tanken woanders gewöhnt und kommen nicht mehr extra zu ihr. Pias beste Kundin ist auch ihre beste Freundin, Luisa, Versicherungsangestellte und Geliebte des örtlichen Baulöwen Holzer. Auch Pias Exfreund Luc taucht immer wieder auf — weil er zur Stelle sein möchte, wenn Pia das Geschäft verkaufen muss: Er glaubt, ihm stehe ein Anteil zu. Pia plant die Flucht nach vorn: den weitherum größten Autowaschsalon, ein Pflegeereignis der besonderen Art, das vollautomatische Schneiden-Waschen-Fönen des geliebten täglichen Gefährten. Dazu braucht sie Holzer als Investor; um seine Zusage kümmert sich Luisa. In Mailand wird die modernste Waschstraße bestellt. Die Einweihung wird eine furiose, erotische Feier, die das Dorf in Aufruhr versetzt.

„Ich glaube ans Leben als ein Geschenk. Aber ich glaube auch an die Phantasie als ein hohes Gut. Und ans Buch. Bücher besitzen die magische Kraft, im Kopf eines jeden Lesers eine ganz eigene Welt erstehen zu lassen. Darin liegt ihre einzigartige Sensation.“

Rezension von «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Yvonne Böhler

Tim Krohn «Bäcker am Ofenpass»

Der Ofenpass ist beliebt bei Jungs mit schweren Maschinen. Na ja, nicht nur der Ofenpass, der ist nur einer von vierzig Passstrassen im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, und sommers jagen die Jungs (Was heisst Jungs, das Durchschnittsalter liegt bei 70.) dort gern Rekorde. Deshalb wollte Hein, als er vor einigen Jahren auf der Höhe des Ofenpasses kurz austreten musste, dafür auch nicht extra ins Restaurant, sondern querte, nachdem er die Maschine geparkt hatte, nur eben die Strasse, um sich ins Gebüsch zu schlagen. Dort treffen allerdings gleich so einige Wanderwege zusammen, entsprechend gross war das Geläuf. Während Heins Not immer grösser wurde, folgte er dem dünnsten Weglein und hoffte, recht bald zu einem ungestörten Plätzchen zu kommen. Sein Problem war, dass inzwischen ein grosses Geschäft rief, das hiess den Overall ausziehen, und sowas macht man doch lieber im Privaten.
Nachdem er eine ganze Weile dem Schafsberg entlang gegangen war, entdeckte er in der Bergflanke eine Höhle, die er auch gleich eroberte. Mit herrlichem Blick über die Bündner Alpen gab er seinem Drang nach. Doch schlagartig wurde er dabei todmüde, schlief ein und wachte erst in tiefer Nacht wieder auf.
Es war kalt – er kauerte noch immer mit barem Hinterteil an einen Felsvorsprung gelehnt –, und aus dem Berg vernahm er ein Rumoren. Während er sich noch bemühte, die steifen Glieder zu strecken, sah er sich plötzlich von weissen, matt aus sich heraus leuchtenden Gestalten umringt, Bäckergesellen offenbar. Da blieb er doch lieber hocken und hoffte, dass sie ihn übersahen.
Das schienen sie auch zu tun.
„Was backen wir heute?“, fragte der eine die anderen.
„Schaiblettas“, schlug der zweite vor.
„Wer heizt den Ofen ein?“, fragte wieder der erste.
«Der ist schon heiss“, stellte der dritte fest, „ich muss ihn nur noch öffnen.“ Und während er das sagte, schlug er dem Hein mit einer Brotschaufel ganz unspektakulär die Schädeldecke ab. Jetzt konnte Hein sich überhaupt nicht mehr regen, selbst wenn er gewollt hätte. Und offenbar glomm in seinem Schädel wirklich eine Glut, denn seit jenem Schlag war die Höhle in mattes, rotes Licht getaucht. Er musste mit ansehen, wie die Gesellen in einer Vertiefung im Fels, einer Art Wanne, Mehl, Zucker, Eier und Nüsse mischten, dass es nur so stob, dann formten sie daraus Plätzchen und backten sie dort, wo Heins Hirn sitzen musste.
Das ging hurtig, und der Anblick hatte auch einen gewissen Zauber. Kurz vergass Hein tatsächlich, wie es um ihn stand, stellte wiederum der erste der Gesellen fest: „Genug gebacken für heute. Wer schliesst den Ofen?“
„Ich“, sagte der dritte, schlug Hein – klack! – die Schädeldecke zu, und im selben Augenblick waren sie verschwunden.
Hein wartete noch eine Weile, dann regte er sich behutsam, tastete den Schädel ab, der zu seiner grossen Erleichterung doch heil schien und sah sich um, im Licht des Feuerzeugs. Die Kekse schienen die Gesellen mitgenommen zu haben, das bedauerte er etwas. Doch dann entdeckte er, dass von seinem Geschäft ein warmer Schimmer ausging: ganz offensichtlich war es vergoldet!
Da nun sein Schädel doch tüchtig brummte, kroch Hein kurz aus der Höhle, um sich tüchtig strecken zu können. Dabei sah er, dass die Gegend dicht verscheit war, und noch immer fielen Flöcklein, fein wie Mehlstaub.
Er robbte zurück, schob sein vergoldetes Geschäft in die Tasche und suchte den Rückweg. Der Schnee leuchtete so hell in der Nacht, dass er den Weg gut fand.
Und weil ihm nicht danach war, mit seiner Suzuki 600 auf einer verschneiten Strasse zu fahren, klopfte er den Wirt der Herberge aus dem Schlaf, der schob ihn unkompliziert ins Massenlager ab. Hein war noch ganz aus dem Häuschen, und als er einen entdeckte, der offensichtlich schlaflos lag, ging er zu ihm und erzählte die aufregende Geschichte. Natürlich zeigte er auch sein vergoldetes Geschäft.
„Wenn das massiv ist, bist du ein gemachter Mann“, sagte der andere, nachdem er das Geschäft in der Hand gewogen hatte.
Daran hatte Hein noch gar nicht gedacht. Er schlug den goldenen Klumpen übers Knie, um zu sehen, was geschah. Es zerbrach, und dabei zeigte sich leider, dass es doch nur vergoldet war. Die Stücke rollten unter die Pritschen, es stank gehörig, der andere schimpfte ihn einen Idioten und schlug auf ihn ein, und darüber wieder erwachten die anderen. Zuletzt prügelten sie ihn gemeinsam aus dem Schlafsaal.
Das Ende vom Lied war, dass Hein von da an keine Pässe mehr fahren konnte, sein Hirn blieb überaus empfindlich – sei’s von den Schlägen oder den Ereignissen in der Höhle –, der kleinste Höhenunterschied war schmerzhaft. Liftfahren ging gerade noch.
„Und was lernst du daraus?“, fragte seine Freundin, als er heimkam?
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte er zurück. „Von nun an gehe ich eben aufs Klo.“ Aber vor allem ärgerte er sich, dass er sein Geschäft nicht einem Museum übergeben hatte, denn in den kommenden Jahren las er immer wieder von Künstlern, die mit Kacke berühmt geworden waren.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Nachts in Vals». Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts «Herr Brechbühl sucht eine Katze» war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschienen der zweite Band «Erich Wyss übt den freien Fall» und der dritte «Julia Sommer sät aus».

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