Du hast unseren Frieden in den Vorhof gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern, aus denen unbekannte Namen flimmern.
Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.
An den Rändern schwarzer Löcher verglühen unsere Herzen. Nur Plasma. Energie für unsere Kinder, die nie mehr kommen. Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen Grad. Gemessen in der Zeit, die wir als Menschen verbrachten.
AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME
Im Sonnenbrand der Winteräpfel warfen die Meere Blasen, verbrühten die Gletscher und verdampften an der Himmelskruste.
Wir sassen in unseren Autos und bestaunten die Feuer.
»Was für ein Postkartenmotiv!«
Auf halbem Weg ging die Sendung verloren. Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.
Tollpatschig fielen die Felswände um. Berge besuchten uns öfter im Tal. Die Gäste fuhren schon früher mit E-Bikes dem Sturz entgegen.
Im Winter legte sich Frost über das Magma. Ein roter Spiegel voller Risse, die blicken liessen auf die eingeschmolzenen Feldspaten abgewanderter Bauern.
WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE
Seen schwitzten das Klima aus. Wälder nur qualmende Stummel.
»Wer verträgt schon diese Gluten?«
Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden. Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«
Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten. Schwer scharrten sie alte Apparate aus. iPhones auf Stand-by. Ein Beistand für grausame Bilder.
Wir zählten die Baumringe unter den Augen, als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.
Die Luft trug einen reizenden Feststoff aus und wir schlüpften in dünnere Häute.
MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB
In unseren Stuben lagen die Leitungen blank.
Aus Dielen rieselten Schritte. Wege, die sich wie Frassgänge in unser Holz gekerbt hatten.
Erinnerung legte sich nur noch den Tieren in die Instinkte.
Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte, um am versiegten Stromfluss zu lecken.
Vom Berghang rollten verlorene Echos, krochen durch Röhren unserer Fernseher, die niemand mehr reparierte.
Abgehängt hinterliessen auch wir nur die hellen Flecken auf der Tapete.
WIR WURDEN ZU STAUB, AUS DEM WIR UNS MACHTEN
Im Herbst kam den Feldern das Suppenkraut hoch.
Mit schiefem Kreuz humpelten Alte zur Kirche.
Der Mief holte sich noch einmal Luft von entlaufenen Kindern.
Wir aber waren schon abgefahren mit unseren Zweitaktern und holten die Auferstandenen unmöglich ein.
(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)
Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe meine drei lyrischen ichs.
Trafen sich ein Mann. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren. Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihmdoch. Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den Augen, wirkten, aber waren braun und Zerstritten. Als hätte Ihm In einer verschärften Situation Die Brille zu lange auf – Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee Durch den stahlblonden Heimat ist eine Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer Angenehmenen Stadt, von der links und Rechts Flammen ab – Gehen. Pass doch auf, wo du hin Trittst, Kleiner, das Schöne Feuer. Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater, Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater, Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in Einem Land zu machen sein, auch wenn es Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier, Dürre, flache würden sich schon auf – Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig Schaum, ein wenig Flaschen – Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt. Trafen sich ein Mann. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren. Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch – Geschorener Musik.
II
Ihrisches Crescendo
Trafen sich eine Frau. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas. Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz – Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so Gewollt. Schaum, Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach Innen, Lehn – Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager Hinauf, frisch Gerissene Ängste ändern die Sätze Auf, was ist Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu Beginnen, Belwas. Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel – Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn – Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen – Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns, Belwas, wenn du das durch – Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie Konnte nicht schwimmen, und das machte sich Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte Der Schaum auf dem Nabel. Trafen sich eine Frau. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas. Trafen sich in dieser hoch – Begabten Steppe aus kurz – Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag Ihr doch.
III
Verwaschene Grafschaft
Traf sich eine Mann und ein Frau. Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr Belwas. Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch – Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich – Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht – Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen Ihms Kinn.
IV
Tage ja Monatelahm
trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz. Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu – Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen, Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich – Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu – Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch – Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren Erzeugte und beim Berühren das Wasser Verähnelte in eine starre, elektrische Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich – Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu – Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss. (Dürwas)
(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))
Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp, 254 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1
Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis.
Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.
Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.
Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.
Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.
Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.
Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.
In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.
Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.
Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.
Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.
Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.
Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.
Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.
Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?
Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)
F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.
Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?
Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.
Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.
Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.
Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.
Rezension
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln – über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.
Da stehe ich. Ich stehe da und wache. Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt. Es ist meine Welt, die bebt. Erschüttert vom Gedankenhauch an meine Erinnerungen. Vom blossen Hauch nur. Allein in der Fremde, stehe ich da. Ich wache am Tag und … nein … des Nachts wache ich nicht. Des Nachts gebiert mich die Erde zum Tanz und es tanzt mich zum Rhythmus meines Herzschlags in meine Erinnerungen hinein. Meine Bilder trinken mich gierig. Ich lasse mich verschlucken, nicht wissend, wo ich landen werde. Bis jetzt ging es immer gut – ich kam nach jedem Tauchgang wieder zurück. Ich tauche tief. Kalt ist es, dann plötzlich warm. Ströme, die sich abwechseln, während ich immer tiefer tauche und mich frage, ob ich nicht Luft holen müsste. Ich tauche in die Bilder meiner Ängste: Damals In Transylvanien. Als Zeit noch keine Rolle spielte in meiner Welt. Begegnete ich Graf Dracul. Am helllichten Tag. Auf einer steinig-staubigen Strasse kam er mir entgegen. Nichts als eine Trauerweide in der Landschaft. Der Wind spielte mit ihren Ästen. Graf Dracul streifte mir mit seinem Blick die Kleider vom Leib. Mir war, als ob ich durch seinen Blick hindurch mich selbst sah: Nackt und bewegungslos stehe ich da. Aus meinem Auge fliesst eine Träne Richtung Mund. Ich schlucke sie und schmecke Blut. Mein Blut. Sein Blut. Eine ungeheuerliche Kraft durchfährt meinen Leib. Die Trauerweide erzittert. Ich hätte sie ausreissen können. Stattdessen breite ich meine Flügel aus und Flügelschlag um Flügelschlag steige ich höher, immer höher. Eines Raben gleich erhebe ich mich und ziehe meine Kreise, während ich Schatten auf mich selbst werfe. Ich geniesse den Flug.
Und dann plötzlich lande ich sanft. Die Trauerweide nimmt mich schützend unter ihre Äste und spricht: «Bald wirst du aufgestanden und losgegangen sein. Deinen Leib gesäubert, deine Wunden geleckt, einen Fuss vor den anderen gesetzt und deine Spuren hinterlassen haben.» Ich nehme Abschied von der Trauerweide und stehe auf. Der steinig-staubige Weg unter meinen nackten Füssen. Der Blutstropfen Graf Draculs in meinem Herzen. Da stehe ich. Ich stehe da und wache. Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt. Und ich frage mich, warum ich nackt bin und warum ich tief tauche und ob ich nicht Luft holen müsste. Dann diese Stimme, die sagt: «Lass dich verschlucken!» Ein Rabe, der mit seinen Flügeln den Staub aufwirbelt. Ich möchte fliegen. Ich spüre eine Kraft, alsob ich Bäume ausreissen könnte, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann weder fliegen noch tauchen. Ich komme keinen Schritt vorwärts und ich höre mich schreien. Doch dann plötzlich lande ich sanft. Wiegend die Strahlen Wärmend die Wellen Berührungen, die Zärtlich erhellen Meine Sinne. Ich weiss wo ich bin Ich kenn diesen Ort Hier ist der Anfang Das Leben, das Wort Getragen, gewärmt und genährt Mein Kind sich noch heute verzehrt Nach mehr Nach viel Doch für den Moment Liegt sie still die Welt.
Boglárka Horváth stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihrer Familie nach Österreich. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung in Wien und Budapest. Sie studiert Dramatherapie und schreibt Texte für Theaterprojekte. Sie ist Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in St. Gallen.
Nachts bei den glühenden scheiten am bach Höre ich dem zwiegespräch der frösche zu Verschlungene lautpfade durch die stille Wovon reden sie im wechselgesang, Verstehen sie den dialekt des feuers, Wie es im innern des holzes rhythmisch atmet, Antworten sie ihm, an dem ich mich wärme, Ein lebendiges wesen, pulsierend im takt Der elemente, kleine sonnenkraftwerke Die durch die graue sommernacht glimmen, Geheimnis des lebens, keim der zerstörung
Wolken
Aus dem atem der erde Wachsen wolken Wächter getürmt Im lichtgrauen halbrund Über dem kornfeld Taumeln die ersten kohlweisslinge Abgesandte der wolken Geboren aus dem Schaum des himmels.
Am Fluss
Wind spielt mit meinen haaren, Die von den jahren gebleicht sind Wie das vorjährige schilf Während ich mich betrachte Im spiegel des flusses, der mein bild Davonträgt auf den eiligen wellen, Rauschen am ufer die weiden Und im gesang der nereiden Der göttlichen schwestern Verrinnen ungezählt die stunden Im antlitz der zeit.
Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreiserhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.
Der Brief am letzten Tag im Jahr. Ausgerechnet! Er kam von ihm. Ich nehme ihn als Zeichen. Er könnte auch vom Vater geschrieben worden sein. So antworte ich nun dir, nicht dem, der ihn auch geschrieben haben könnte. Er ist nicht Vater, meines Wissens hat er keine Tochter. Er hat auch keine Ahnung, wie das so ist, wenn man wieder Tochter eines bekannten Mannes wird, der einem fremd wird in dem Augenblick, wo es um das Gleiche geht, denn beim Lesen dieses Briefes wurde ich wieder die Tochter, deine, und was den Brief betrifft, auch seine. Es ist ausserordentlich, was einem Brief gelingt: alle neuen Vorsätze, die auch, nebst andern, sich um dieses Loslassen drehten, gleich Eintagsfliegen über den Haufen zu werfen. Für ein paar Stunden leben, um dann zu sterben. Ich war an diesem Tag leicht und beschwingt und voller guter Vorsätze für den nächsten Tag, der ja der erste im neuen Jahr war, bis der Brief kam und das Ausgewogene in ein Gewicht hinein pendelte, das ich – ohne Brief – nicht auf die Waage brachte. Dein Verdienst, Vater, ist es, dass es mich gibt, obwohl ich immer das Gefühl hatte, genau das nicht verdient zu haben. Das Verdienst des Schreibers ist: auch er hat es dir zu verdanken. Ohne es zu wissen, müsste er dir dankbar sein, in deiner Tochter die richtige Adressatin gefunden zu haben. Eine Vatergekränkte. Eine, die Vergleiche herstellt, eine, die im neuen Geräusch das alte zu hören vermeint, und, als ob du gerade erwacht wärst aus dem Totenreich, war deine Stimme zu hören in diesem Brief! Dem Schreiber ist das nicht bewusst. Dir Vater war es auch nicht bewusst, was du in mich eingeschrieben hast. Und Briefe hast du mir nie geschrieben. Erst nach Mutters Tod Glückwünsche zum Geburtstag, Weihnachtskarten. Mehr als die nötige Fortsetzung von Mutters Gewohnheit war das nicht. Obwohl du eine schöne Schrift hattest, schrieb immer sie! Aber Briefe waren das nicht wirklich. Einmal, bei mir am Tisch, hast du zum ersten und letzten Mal die von mir gekochte Polenta als die beste gerühmt, die du je gegessen hättest. Ich stand vom Tisch auf, ging in die Küche, schaute dort aus dem Fenster, wusch das schon gebrauchte Besteck oder vielleicht wusch ich auch ungebrauchtes sauberes Besteck, kämpfte mit der Rührung, kämpfte mit den Tränen, kämpfte mit dir, von dem ich nie etwas in diese Richtung Gehendes erwartet hatte: ein Kompliment! Wieder am Tisch, hast du dir von mir eine weitere Portion Polenta schöpfen lassen! Ich stand neben dir und fuhr dir ganz kurz mit der Hand über deine Glatze, von der seitlich noch einige wilde, graue Haare abstanden. Du übertreibst! Das würdest du auch jetzt sagen, wenn du den Brief des Schreibers lesen könntest. Selbstverständlich hätte ich ihn dir nie zu lesen gegeben. Du hättest dich darin erkannt und sofort gesagt: jetzt übertreibst du wieder einmal tüchtig. Meine Tüchtigkeit war aber nicht die Übertreibung! Vielmehr war es immer die Suche nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen dir und mir. Zuletzt die Erkenntnis, dass es vergeblich war. Du wolltest der immergleiche Vater bleiben, ich die Tochter, die mehr als nur diesen einen Vater wollte, der jede nur denkbare Zumutung an sie mit dem Satz: DU ÜBERTREIBST, abschmetterte. Unzählige Situationen, an die zu erinnern ich mich nicht weigern noch wehren kann, weil sie mir fortlaufend begegnen. Aha, denke ich dann, manchmal sage ich laut: schon wieder und hie und da wird es gröber: leckts mich doch alles am Arsch. Auch dieses Gröbere schliesst die Nuancen mit eigentlich feinen Rissen nicht aus. Damit sie nicht schmerzen, denke ich ganz einfach grob wie beim gerade gelesenen Brief: Verdammtes Arschloch! Zuerst rieb ich mir die Augen, als ob ich gerade erwachte, dann war ich wieder wach, hellwach! Lässt es sich noch mehr steigern das Wort? Am Hellwachsten! Tatsächlich stieg mir das Blut und eine Röte stieg mir in die Sprache: Zornig und keifend, wie ein Weib mit einem abschmetternden Brief ihres Liebhabers in der Hand, war ich eine in Rage geratene Tochter, die mit zwei gleichen und doch verschiedenen Vätern am Tisch sitzt, in exaktester Wiederholung zwei gleiche Erzieher in väterlicher Pose sieht, in gleicher, erzieherischer Anwandlung. Unbegreiflich, das erwachsene Kind sehen sie nicht in mir, sie sehen mich in einem erwachsenen Körper als Kind! Nicht einen einzigen Riss bekam der Brief ab, denn ich wollte und musste ihn immer wieder lesen können, so wie man ein Gedicht immer wieder lesen will, das einem aus irgendeinem Grund erregt. Ich bin wieder bei dir im Krankenzimmer. Es waren die letzten Stunden, die du bei Bewusstsein warst. Der letzte Gang mit dir auf die grüngekachelte Spitaltoilette. Ich hielt dich am Arm, setzte dich auf die Klobrille. Mit beiden Händen hast du meine beiden Hände gehalten, mir deine müden Augen zugewandt und gesagt: JETZT STERBEN WIR. ich dachte: DU ÜBERTREIBST. Ich putzte deinen Hintern, widersprach deinem WIR nicht. Ich fragte mich bloss, da in diesem intimen Geschehen, warum es das WIR so selten in weniger traurigen Momenten gegeben hatte. Ich war versucht, während ich dir die Scheisse wegputzte, zu sagen, ich liebe dich. Stattdessen strich ich dir das Papier, so sanft wie nur möglich und wie einen Liebesbeweis, über deinen After, zog dich hoch und legte dich zurück ins Bett, deckte dich zu wie ein Kind, das unruhig noch eine Weile in einem angestrengten Wachen bleiben will, um dann in einen Schlaf zu versinken, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Der Briefschreiber lebt ganz arglos, denke ich, lebt er mit diesem an mich versandten Brief. Ich brauch aber keinen neuen Vater, der mir erklärt, dass mein Sein seinem sich vorgestellten nicht entspricht. Er war ganz nett zu mir, solange ich keine Fragen stellte. Noch immer weiss ich es nicht, dass ich keine Fragen stellen darf.Fragen stellen, das verwandelt mich augenblicklich in ein unbeliebtes Kind! Ich habe dem Vaterschreiber nicht zurückgeschrieben. Ich blieb bei mir und Vater, lese den Brief, wieder und wieder passiert sie mir, diese väterliche Schrift. Nachts im Traum erschütterte mich ein Weinen. Als hätte ich dem Schlaf den Auftrag erteilt, es nur in seiner Tiefe zuzulassen. Mit trockenen Augen erwachte ich am Morgen und wie die Zuschauerin eines seltsamen Geschehens triftete ich in den Tag ab. In den ersten Tag im Jahr. Der Brief liegt auf dem Tisch und Vater liegt im Grab. Plötzlich ist der Brief ein Grab, aus dem Vater spricht. Zunehmend verschwindet der eigentliche Schreiber. JETZT STERBERN WIR Ich fühlte deine Hände in meiner Hand. Die Handlung an deinem Rücken. Und dass du dann nicht mehr erwachtest, nachdem ich dich zudeckte, forderte andere Formen von Liebe. Mit eingenässten, kühlen Lappen fuhr ich dir über deine heissgewordene Stirn, von einer Seite zu andern während auf den beiden Seiten deines Gesichts Schweisstropfen ins Kissen fielen, deine Atemzüge immer länger und länger und dann ruhiger wurden. Ich lebe, entgegen deinem vorgebrachten WIR. Ich nahm es nicht persönlich, so wie ich den Brief des Vaterschreibers jetzt auch nicht mehr persönlich nehme. Es ist ein Fragment, oder die Kopie einer ungeheuren Kraft, die Möglichkeit, dich langsam zu begraben. Das Jahr hat erst angefangen. Draussen liegt Schnee. Die Bäume schütteln ihre Schultern. Staub fällt.
(Unveröffentlichte Erzählung)
die dunkelheit
erhellt alle gedanken in ihnen geistern geschichten das leben ich liege schlaflos da die erste Liebe zieht an mir vorbei wie ein schwan den ich zum ersten mal richtig sehe was ich klar erkenne ich war nicht dabei immer schon beim nächsten vergänglichen spiel der film schmerzt ich schliesse die augen der schlaf steht wach am see leise gleitet das leben übers wasser verschwindet in die tiefen die jede regung kennt wenn die fische schlafen gestaltet sich das angeln leicht
Im Flug der Raben wellt sich die Luft, sie gräbt Gedanken in seinen Körper. Er spreizt seinen Mund und schreit und hört den anderen, dessen Voraussage er verkündet. Er wirft toll um sich und schmeißt sich gegen eine Wand, aus Grau und Stein, sein Fleisch fängt zu bluten an und zu sprechen, aber sein Körper geht weiter, fliegt und fällt. Er wirft sich gegen den Himmel, fängt sein Blau auf und wälzt sich darin, er speit Feuer und ist voller bunter Geschichten vom Vater, der Mutter, den Geschwistern und erzählt teuerste Geschichten, die nirgendwo zu haben sind. Dann leckt er seine Wunden, seine Auszehrungen und schaut einmal in die Welt, dort hört man sein lautes Lachen und schreit um Hilfe.
Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.
An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.
Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.
Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.
Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?
An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.
Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.
Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.
Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.
Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.
Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.
Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.
Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.
Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.
Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.
Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.
Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.
Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.
Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.
Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.
Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.
(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.
Ich ziehe mich jeden Tag an, weil jeden Tag eine zwar kleine, aber durchaus realistische Möglichkeit eines Besuches besteht. Der Briefträger kommt oft, und ich nehme die Pakete durchs Fenster entgegen, das Fenster kann ich sofort aufmachen, während die Tür ganz woanders ist, und er läutet nicht zweimal, er geht einfach wieder, während ich zur Tür gehe, und dann muss ich mit dem Zug das Paket von der Post abholen, so mache ich das Fenster, das gleich bei der Glocke ist, auf, aber für ihn ziehe ich mich nur oberhalb der Hüfte schön an, das Fenster fängt bei der Hüfte an, mich zu umrahmen. In dem gebrachten Paket ist meistens eine Bluse für das nächste Mal. Ich bekomme Blusen per Post, weil ich sonst lange mit dem Zug fahren müsste. Ich kaufe Blusen aus einer Gewohnheit, die ich mir angeeignet habe, weil ich einmal Blusen gebraucht habe, um das Gefühl zu haben, dass ich eine Andere, eine Neue bin. Ich bestelle meine Blusen aber keineswegs wegen des Briefträgers selbst, damit er käme, meine ich, obwohl er einer meiner wenigen Besucher ist. Ich zwinge mich jedes Mal, ihm in die Augen zu schauen. Es gab einmal eine Zeit, da sah ich so viele Augen, dass ich sie einfach ausgeblendet habe, wie Stadttauben, jetzt sind es seltene Vögel geworden, die Augen meines Briefträgers sind taubengrau.
Für den Gärtner ziehe ich mich ganz an. Auch der Gärtner gibt mir keine fixen Besuchszeiten. Er kommt, wenn sich eine Lücke auftut, wenn er zufällig vorbeifährt, oder wenn jemand absagt, so haben wir das vereinbart, weil er „voll“ ist und der Einzige, und weil jeder einen Garten hat.
Ich werde wohl nichts Größeres machen wollen, nimmt er an, weil ich „nur ein Mieter“ und „nur vorübergehend“ da bin, sagt er, nachdem er das Unkraut ausgerissen hat – er hat einiges über die vergangenen Wochen in seinen Lücken ausgerissen.
Doch, ich will, dass es wuchert! Wild, gelb und violett, oder auch rot, was meint er? Was hält er von rot? Ich vertraue ihm …
Will ich das wirklich?, fragt er. Dann macht er hier alles schön, ich bezahle es, ich zahle viel, und dann ziehe ich weg. Und dann hat der, der nach mir kommt, hier alles schön. Will ich das?
Ich bin bereit, das in Kauf zu nehmen.
Er wird vorbeikommen.
Ich rufe eine Freundin an und frage wieder, wann sie mich besuchen kommt. Mein Haus ist groß und schön und die Natur auch, nur ist ungeteilte Freude keine Freude. Sie hat so wenig Zeit, und wo ich bin, ist es, leider, sagt sie, so entlegen. Ich habe einen Pool, sage ich. Schön, sagt sie. Der Pool ist nicht schön, der Pool ist voll mit Regenwasser, das Kröten und Gelsen anlockt. Ich muss auf eine Lücke des Poolmanns warten, weil jeder einen Pool hat, und ich früher hätte anrufen sollen. Auch die Freundin hat im Moment keine Zeit. Ich dachte, wir kriegen beide vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber in vierundzwanzig Stunden muss sie, sagt sie, und fängt an Dinge, die wichtiger sind als ich, nach Wichtigkeit aufzuzählen. „Ich habe es verstanden“, unterbreche ich sie und füge noch „kein Problem“ hinzu, eine Unart, die ich eigentlich abzuschütteln versuche. Ich habe kein Gehör für fremde Probleme, sagt sie. Sie tut ihr Bestes, sagt sie auch. Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich ist, merke ich, sie betonen schamlos ständig, wie das, was sie tun, ihr Bestes ist.
Manchmal denke ich mir am Abend, wenn ich in den Spiegel schaue: Heute war ich umsonst. Ich schaue mich oft im Spiegel an, damit mein Gesicht nicht gänzlich ungesehen bleibt und sich selbst überlassen zu etwas wird, das sich dann nicht mehr geradebiegen lässt.
In der nächsten Lücke des Gärtners wird endlich eingepflanzt.
Er kommt mit ein paar hilflosen Sommerhüten, einem kleinen Sommerflieder, grauem Lavendel und noch sechs anderen Pflanzen, die ich in ihrer Armut oder in meinem Unwissen nicht erkenne. Sie dürsten nach einer anderen Erde als der unseren, die trocken ist und schon aufmacht, um Regen bittend. Kakteen wären besser, sage ich, aber ich vergesse ja, dass der Sommer nur vorübergehend ist.
Es sind nicht genug. Ich wollte, dass es wuchert!, sage ich. Nächstes Jahr werden es doppelt so viele sein, sagt er.
Er rechnet doch mit der Zeit, widersprüchlich ist er. Es macht mich oft wütend, dass man nichts dagegen tun kann, dass Leute sich selbst widersprechen. Das macht mein Widersprechen vollkommen sinnlos, und das ist das, was mich wütend macht – die Sinnlosigkeit.
Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich. Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt. Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er.
Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die Vögel sind mäusegrau und unzählig. Sie scheißen schwarz-weiß. Wir sind hier fertig, alles passt schon so, ich gehe wieder hinein.
Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse.
Der Baum wird geliefert, denke ich mir, in all seiner Länge, indezent und deplatziert. Er wird über die Mauern des Gartens ragen, und die Einheimischen mit ihren großen, über die Mauern ragenden Bäumen werden mir mein Überspringen der Wartezeit nicht gönnen, das tut man nicht, einen alten Baum verpflanzt man nicht, der verwurzelt sich nicht, wird gesagt, und ich werde fiebern und zuschauen, wie der Baum allmählich austrocknet und abstirbt, einen verfrühten Tod wird er sterben, und wie wird dann die Leiche beseitigt? Wie ich mich kenne, wird der ausgetrocknete Baum ein- fach in der fremden Erde stecken bleiben, ein Zeichen meiner Ungeduld, meines Übermuts. Es ist mir egal, was die Nachbarn über mich reden, aber ich gönne ihnen keine Schadenfreude; ich werde keinen Baum bestellen.
Ich kann Gott sei Dank gut meine Vorstellung so lenken, dass ich nichts Gröberes tun muss. Alles passt, wir lassen das Ganze dem Himmel ausgesetzt, und ich bestelle einen Sonnenschirm.
Ich gehe eh nicht viel raus, ich habe wenige Gründe rauszugehen, und viele, nicht rauszugehen. Wenn ich rausgehe, setzen sich zehn, zwölf, zwanzig Gelsen auf mich und saugen mein Blut, auch bei strahlender Sonne. Bei Dämmerung ist von Gelsen alles grau. Es gab noch nie so viele Gelsen und Fliegen, hat der Gärtner gesagt, das erfreut die Vögel. Ich verstehe, dass ich für ihr Singen mit Gelsen bezahlen muss.
Ich lüfte selten – ich will die Fenster nicht aufmachen. Ich lüfte nur ab und zu zu Mittag, wenn es am Heißesten ist, damit so wenig Gelsen wie möglich hereinkommen. Es kommen aber Fliegen her- ein und reiben sich ihre Hände. Wenn das Fenster offen ist, zwitschert es, wenn es zu ist, summt es.
Ich ziehe die Bluse, die mir der Briefträger gebracht hat, an und fahre mit dem Zug Gelsennetze be- sorgen. Ich will mich beraten lassen, damit ich das Gefühl loswerde, dass das Internet meine einzige Verbindung zur Außenwelt ist.
Der Winter war lang. Unter der FFP2-Maske ist mein Gesicht faul geworden, ich fühle es. Maskenhaft. Als der Sommer kam (ich nehme an, man lebt jetzt nur sommers ganz), lebte ich aber schon entlegen. Es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte. In der Gruppe hatte ich ein Gruppengesicht. Jetzt hatte ich schon lange kein frisches Gesicht mehr, ich trage nur zwei, drei, wenn ich das Briefträgergesicht, das ich nur für einen Bruchteil des Tages aufsetze, mitzählen kann; alle meine unbenutzten Gesichter faulen ins Unbenutzbare.
Auch meine Zunge ist aus der Übung. Ich sollte mehr mit mir selbst reden. Als ich dem Verkäufer meine Lage schildere, kommen mir meine Sätze wie ein Stück vor, das ich lange nicht gespielt habe – ich irre mich viel, aber ich weiß, nur ich, dass ich es gleich wieder können könnte.
Weiße Gelsennetze sind aus. So schaut geteiltes Leid aus. Ich nehme die schwarzen und hänge die Trauerspitze überall auf.
Wegen der Trauerspitze kann ich jetzt kein Paket mehr entgegennehmen. Beim letzten Mal hat der Briefträger bei der Übergabe kurz meine Hand berührt, seine Augen verschwiegen aber die Absicht, ließen an ihr zweifeln, meine ich. Ich erzähle ihm von der Gelsenplage und frage, ob er warten würde, wenn die Übergabe künftig durch die Türe erfolgt. Er sagt kein Problem, er kann läuten und das Paket bei der Tür abstellen. So. Ich bilde mir ein, er hätte auf mich gewartet, wenn die Spitze weiß wäre. Es wird für mich zunehmend schwer, Dinge zu finden, auf die ich die Schuld für Ereignisse schieben könnte.
Ich gehe in den nächsten Tagen nur im Garten spazieren, dem ummauerten, dem uneinsehbaren, in dem ich einen breitkrempigen Hut tragen kann und die Trauerspitze drüber, bis zum Boden. Ich zeige mich nicht, ich weiß, was normal ist und ich bin anpassungsfähig, ich kann mich sowohl den Gelsen als auch den Nachbarn anpassen, ja, es dauert ein bisschen, der Prozess ist wie bei einer Geburt schmerzhaft und schmutzig, jedoch verhältnismäßig kurz, und bald ist alles vergessen, als ob nichts wäre, und alles selbstverständlich, auch wenn der Unterschied zwischen der Welt der Ungeborenen und der Welt der Geborenen nicht größer sein könnte. Bald also werde ich so wie alle an- deren Frauen meines Alters, die alle jünger sind, die entlegen wohnen, alles mit 40 bunt waschen. Keine Seide wird mehr sorgfältig von mir gebügelt. Was werde ich mit den ganzen Zeitersparnissen anstellen? Nichts, ich werde sie nicht merken, ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.
Wie würde ich leben, würde ich leben?
Es ist heiß, und ich spiele mit dem Gedanken, mich in den Pool zu werfen, in das Regenwasser, oh Gott, nicht um mich abzukühlen, sondern um Ekel zu empfinden und mich dann wieder sauber machen zu können, damit das, wie ich bin, anders ist als das, was ich kurz davor war. Nachdem das zu umständlich ist und es sich Gott sei Dank, wie so vieles Andere, schon in meiner Vorstellung erschöpft hat, möchte ich, vernünftiger, mit dem Regenwasser die Neueingepflanzten gießen, die Armen, als ich merke, dass die Kröte im Wasser von außergewöhnlicher Schönheit ist. Das Internet sagt, es ist eine Wechselkröte. Leicht mit einer Kreuzkröte zu verwechseln, aber selten und teuer und gefährdet und schutzbedürftig. Ich empfinde eine Anwallung von Selbstliebe, weil ich die außergewöhnliche Schönheit gleich bemerkt habe, obwohl sie mit Gewöhnlichem leicht zu verwechseln ist.
Ich rufe bei der Landesregierung an. Die Fragilität der Ökosysteme, die mich davon abhält, das Tier gedankenlos zu übersiedeln, wird von dem Mann, zu dem ich verbunden worden bin, bestätigt. Ich fühle mich gestreichelt. Wir reden über die Kröte. Sind die Marmorflecken an ihrem Rücken deutlich voneinander abgegrenzt? Ich bestätige. Das Wort Marmor klingt für mich beruhigend, merke ich. Bufo variabilis, sagt er. Velut Fortuna, denke ich. Wir beide haben uns gegenseitig unser Wis- sen wachgeküsst, auch manche seiner Tage in RU5 müssen bestimmt vergehen, ohne dass er mit wem spricht, bestimmt muss auch er in den Spiegel schauen, um sich zu fangen. Ich richte in einem Eimer alles so ein, dass sich der Bufo wohlfühlt, ich folge den Anweisungen mit einer eifrigen Dankbarkeit. Ja, ich vermisse die Tage der Kindheit, in denen man noch so lieb war, mir Anweisungen zu geben. Ich werde berichten, wie der Transport gelaufen ist, sage ich beim Abschied. Der Krötenmann sagt: „Das ist aber wirklich nicht nötig.“ Das war unnötig.
Trotzdem ziehe ich ein kleines, dünnes Müllsackerl über die Hand und fische die Kröte heraus. Sie ist so weich, dass sie Zärtlichkeit in mir hervorruft. Ich kann sie nicht anders als sanft halten, auch wenn es mich interessieren würde, wie stark man noch drücken kann, bevor es unwiderruflich zu viel wäre. Wie mich das Unwiderrufliche immer lockt und so tut, als ob es nicht unmöglich wäre!
Es sind zwei Stationen zur Donauau. Im Wald bin ich allein, ich kann wieder das Netz tragen. Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein. Das ist schön, bisher hat meine Barmherzigkeit immer eher im Umgekehrten geendet. Vielleicht sollte ich mich von den Menschen gänzlich abwenden und den Kröten ganz zu. Sie bewegt sich langsam weg von mir, ich bleibe auch dann noch sitzen, als ich sie nicht mehr sehen kann, etwas in mir wehrt sich dagegen, die ganze Fahrt in die entgegengesetzte Richtung mit einem leeren Eimer zu wiederholen. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bevor es für mich möglich ist auf- zustehen. Man hat oft eine ganz falsche Auffassung von dem, was für mich möglich ist. Oft glaubt man, es sei alles eine Sache der Entscheidung, des Willens, aber nein. Nein. Nicht einmal ich selbst kann jedoch sagen, kann berichten, worin die Unmöglichkeit liegt. Irgendwo zwischen dem Gedanken und der ersten Handlung, natürlich, aber dieser Raum ist dunkel und unendlich.
Abends kann ich nicht schlafen, weil unter dem Schlafzimmerfenster ein Kanaldeckel liegt. Und Autos fahren immer drüber. Und Autos fahren immer. Zu jeder Unzeit, was gibt es da so viel zu fahren, auch das würde ich gerne wissen. Ich finde es unfair, dass ich gleichzeitig an einer befahrenen Straße und entlegen lebe, unfair finde ich es, als ob ich ein Kind wäre.
Die Verhütungspille liegt mir schwer im Magen. 14 Tage sinnloser Schutz vor dem Entstehen von Leben, kein Entstehen des Lebens droht. Ich könnte mich ohne Pille und ohne Rock in den Vorgarten legen, der Briefträger würde über mich steigen, anläuten und das Paket ablegen.
Drei Wochen später sagt mein Frauenarzt: „Sie sind schwanger“, sagt er. Das ist unmöglich, sage ich. Ich sage, ich nehme die Pille. Er fragt, ob ich immer alle genommen habe. Ich sage summa summarum. Er fragt, was summa summarum heißen soll. Er sagt, das ist echt ein Wunder. Dann schimpft er mich. Das Wort „verrückt“ fällt. Ich glaube, ich gehe nicht mehr zu ihm, ich werde nächstes Mal zu einem anderen gehen und ihm mein Wunder zeigen; frisch anfangen.
Ich sitze still eine Stunde lang im Schlafzimmer und überlege, wen ich anrufe. Die Freundin würde sich freuen, sie würde meinen, dass ich jetzt auch sehen werde, wie man keine Zeit mehr haben kann, und dass wir uns jetzt öfters treffen können, der Unterschied im Alter unserer Kinder wird ja nicht allzu groß. Ich rufe meine Schwester an. Ich sage: Eine Eisenkugel an einer Kette um meinen Fuß. Sie sagt: Ein Eisennagel, mit dem du dich wieder der Welt anheften kannst.
Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen. Die kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellung.
Ich stelle mir vor, es hat keine Kiemen mehr, es ist weder Fisch noch Fleisch, aber der Arzt meint trotzdem, es sei zu spät, ich hätte zu lange gewartet.
Ich stelle mir vor, alle berühren mein Bauch, absichtlich; alle fragen, was es wird, und meinen dabei das Geschlecht. Alle fragen, ob wir schon einen Namen haben. Nein, nein, sie meinen einen Namen für das Kind!
Ich stelle mir vor, es kommt und ich vergesse mich.
Das Vergessen wird immer wieder kurz unterbrochen, wenn alle, denen ich begegne, ein Urteil fällen, ob es ganz die Mama ist oder ganz jemand anderer.
Manchmal möchte ich vielleicht weinen, aber ich komme nicht dazu. Oder bilde ich mir meinen Wunsch nur ein und ich kann gar nicht mehr weinen? Ist es geboren, ausgesondert, veräußerlicht (wie ein Gedicht?) mein Weinen, mein Kind?
Vielleicht hoffe ich manchmal, dass mir die Last abgenommen wird. Aber ich ahne in dieser Hoffnung eine dunkle Freiheit, die ich nicht überleben würde. Meine Freiheit muss ich von jetzt an innerhalb meiner Zelle denken.
Ich stelle mir vor, es ist eins. Der Mann kommt aus der Arbeit und streichelt das Kind. Sanft und liebevoll, hingebungsvoll. Er ist voller Liebe, das sehe ich. Kein Hass ist ihr beigemischt, das Kind liegt nur da, tut nichts, was man ihm verübeln könnte, es tut nichts. Es ist willenlos. Machtlos auch. Die Liebe des Mannes aber strömt ihm entgegen, sie hat meinen Mann in Besitz genommen, die Liebe, sie benutzt seine Hände und seine Augen nach ihrem Belieben. Es lacht, wenn man es am Bauch kitzelt. Es ist ihm egal, dass der Mann einen Tag später aus der Arbeit gekommen ist. Auch ich versuche, im Moment zu leben. Im Moment sehe ich vor mir einen verspäteten Mann, der seine ganze Liebe dem Wesen schenkt, dem er egal ist. Ich überlege nicht, mich auf den Boden zu legen, das Hemd zu heben und vom Bauch zu erwarten, dass er zum kitzeln einlädt, nein.
Ich stelle mir vor, mein Gesicht ist ein Muttergesicht, eine nicht abnehmbare Maske.
Ich stelle mir vor, seine Augen sind blau. Reines Blau, das mich stört. Wie ein heiterer Himmel, der in mir schon immer Unbehagen auslöste, wie alles Regungslose. Ich halte meinen Kopf von Natur aus gesenkt, ich mag alle Farben der Erde. Im Blau seiner Augen finde ich nichts Heimisches.
Ich stelle mir vor, es ist vier. Es bricht alle Mauern um mich. „Ja, bist du nicht süß … Wie alt bist du denn?“, wird es von den Nachbarn angesprochen. Und es ist schüchtern, es nimmt meinen Rock wie einen Vorhang und taucht sein Gesicht hinein. Es fühlt sich sicher, schon hier, denn sonst ginge es noch tiefer hinein, unter den Rock, das macht es manchmal, mein Rock sein Bunker. Ich bemit- leide es, weil es sich bei mir am Sichersten fühlt. Es ist komisch, Mitleid zu sagen, denn ich glaube nicht, dass es leidet, wenn es vier ist. Es weiß noch nicht genug, um richtig zu leiden.
Dann ist es fünf. Es redet schon, viel, zu viel. Ich stelle mir vor, ich bringe ihm eine ausgedachte Sprache bei, die uns verbindet und alle anderen ausschließt. Es ist ja so ein Vorteil für Kinder, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Angeblich lernen sie dann auch andere Fächer leichter. Meine Sprache wird über all die fehlenden Wörter verfügen, zum Beispiel ein Wort für das Gefühl der falschen Liebe wird es geben und auch ein Wort für die Mischung aus Dankbarkeit und Verachtung, die man fühlt, nachdem einem jemand, den man als schwächer betrachtet hat, Hilfe geleistet und sich dabei großzügig gefühlt hat, und so weiter, die Grenzen unserer Sprache werden ausgedehnt, seine Welt wird groß.
Leute könnten meinen, es sei komisch, dass ich mein Kind „das Kind“ nenne und nicht beim Namen. Da ich ja so gerne Dinge beim Namen nenne, ist das der Grund, dass es ihnen komisch vor- kommt? Auch sonst werden sie vieles „nicht richtig“ finden.
Es ist acht. Es ist nicht aus meiner Erde. Nichts Heimisches in seiner Stimme. Es redet wie die Nachbarn.
Ich stelle mir vor, ich weiß zu einem Zeitpunkt dann aus Erfahrung, dass ich mich immer dann stark fühle, wenn sich meine Last kurz hebt. Dass die Last ihr eigenes Leben hat und auch Flügel. Dass nichts mein Verdienst ist bzw. wenig.
Ich bin für es da. Ich bin für es gemacht worden. Ohne es wäre ich nicht. Das glaubt es. Unsere Wahrheiten sind gegensätzlich. Aber es fühlt seine, während ich meine nur weiß, und ich fühle seine, während es meine nicht weiß. Es gewinnt. Es gewinnt immer. Es obsiegt.
Ich stelle mir vor, dass das Vorübergehende zur Gewohnheit wird. Dass ich mir denke: Wenn ich einen kleinen Baum beim Einzug eingepflanzt hätte, wäre er jetzt schon groß, mein Kind könnte in seinem Schatten spielen, schade, dass ich das nicht gemacht habe.
Ich stelle mir vor: Wenn es so viel Platz einnimmt, wie ich in seinem Alter einnehmen wollte, als mein Wollen stärker als mein Können war, kann ich mich gleich aus dem Fenster werfen. Ich bin nicht so stark wie meine Mutter, ich werde nicht standhalten und bald wird dort, wo ich war, es werden.
Es ist zehn. Es erzählt mir, dass die Katze, wenn es sie auf den Schoß nimmt und streichelt, vor Genuss ihre Krallen in seine Oberschenkel bohrt, und dann muss es die Augen zusammenkneifen, um den Schmerz zu ertragen, und ich denke mir danach: Mein Kind ist besser als ich, es nimmt den Schmerz bei seiner Zuneigung in Kauf.
Ich stelle mir vor, es hat mich lieb, und einmal sagt es mir: „Niemand hört so gut zu wie du.“ Und dass ich, indem es mich lobt, erst das Ausmaß meiner Selbstverleugnung merke.
Es ist dreizehn. Ich stelle mir vor, ich nehme es ihm übel, dass sein mittelmäßiges Musizieren für alle mehr wert zu sein scheint als mein eigenes, das von Professor Pokorny einmal „genial“ genannt wurde.
Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe.
Ich stelle mir vor, es ist sechzehn und es sieht nur sich und die Welt und seine Zukunft in der Welt, die Welt und sich dicht verflochten, ein starkes Bündnis, das ihm all der verfehlten Erziehung zum Trotz, der schwierigen Mutter zum Trotz, gelungen ist, das Ganze hat es nur stark gemacht, und das Traumatische wird sogar zum Schöpferischen, auch so ausgesprochen, dem Klischee zum Trotz, es ist noch so jung, dass für es noch nichts von dem Lebensbetreffenden ein Klischee ist.
Es ist vierundzwanzig und es zieht aus, und ich schreie und es atmet auf, wie bei der Geburt.
Ich stelle mir vor, es ist vierzig und besucht mich aus Pflichtgefühl, es ist schließlich gut erzogen, es tut so, als ob es mir zuhört, es nickt und Mhm Mhm meint, und ja, ja, es geht ihm auch gut, nein, nix Neues, nix Erzählenswertes, nein, seine Freundin ist noch nicht schwanger, sie konzentriert sich eher auf …
Es ist sechzig und redet mit mir wie mit einem Kind, gedanklich ist es anderswo, es möchte anderswo sein, aber ich lasse es noch nicht gehen, eine meiner Bruthennenkrallen bleibt in seiner Strickjacke hängen, mein Wunsch, dass es bleibt, ist stärker als sein Wunsch, wegzugehen, alle seine Wünsche sind momentan eher farblos und schwach und ich denke mir: Dafür habe ich dich bekommen? Von diesem Besuch im Altersheim haben alle geredet, als ich dich nicht wollte?
*
Es tut sich eine Lücke auf bei dem Poolmann. Einen Tag, bevor der Mann wieder zurück ist, wird der Pool endlich schön. Ich schätze, wir haben gute drei Wochen, in denen wir nackt baden können, dann muss er für die Überwinterung vorbereitet werden. Als ich auf den Poolmann beim Pool warte, sehe ich im Wasser einen Laich. Ich rufe nochmals bei der Landesregierung an. Ich werde mit einem anderen Mann verbunden und muss deshalb die ganze Geschichte von vorne erzählen, was mich ermüdet und verstimmt. Der Poolmann unterbricht mich mit seiner Ankunft. Ich bitte ihn zu warten. Es ist heiß, die Sonne strahlt Hitze und Schwindel aus. Der Mann von der Landesregierung kennt sich nicht so gut aus wie der Mann von Letztens, das Gespräch mit ihm ist zermürbend. Ich höre etwas Zaghaftes in seiner Stimme, als er sagt, der Laich muss nicht geschützt werden. Trotzdem und ohne mich zu bedanken lege ich gleich auf und sage dem Poolmann, es kann alles abgesaugt werden.
«Wechselkröte» ist der Siegertext des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbes 2022. literaturblatt.ch dankt Verlag und Autorin für die Erlaubnis, den Text wiedergeben zu dürfen!
Ana Marwan «Wechselkröte», zweisprachig D/SLO, ins Slowenische übersetzt von Amalija Maček, Otto Müller Verlag, 2022, 60 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7013-1307-5
Anna Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin auf dem Land zwischen Wien und Bratislava und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exil-literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem „Kritiško sito“ für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2022 und dem Ingborg Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Am 23. Februar 2023 erscheint der neue Roman „Verpuppt“ (aus dem Slow. von Klaus Detlef Olof) im Otto Müller Verlag.
Ana Marwan ist am 23. März Gast im Literaturhaus Thurgau!
„Tut mir leid“, sagt meine Großmutter, „Sie haben sich verwählt.“ „Wen wollen Sie denn sprechen?“, fragt sie beim nächsten Mal. Ich höre sie atmen, dann klickt es in der Leitung. „Frank?“, fragt sie, bevor ich etwas sagen kann. Sie fragt: „Du hast noch das Auto?“
Wir vereinbaren den Tag, die Uhrzeit, mehr besprechen wir nicht, so ist es immer, sie ist wie sie ist. Sie steht unten auf dem Parkplatz vor ihrem Wohnblock, sie steht da in ihrem blauen Mantel, mit ihrem Gehstock, auf den sie sich mit beiden Händen stützt. Ich halte an, ich steige aus, ich helfe ihr beim Einsteigen und Anschnallen, ich rieche ihr Parfüm, leicht seifig riecht es, wir lächeln uns an, ich steige wieder ein, starte den Wagen, einen roten VW-Käfer, den ich bald verschrotten lassen muss, wir fahren los. Es geht in den Sonnenland, am Einkaufszentrum vorbei, ich biege rechts in die Kapellenstraße ein, ich folge der Straße zum Friedhof vorbei, auf dem meine jüngere Schwester beerdigt liegt. „Petra“ steht auf ihrem Grabstein, es fehlt ihr Nachname, es fehlt der Tag, an dem sie geboren wurde, es fehlt der Tag, an dem sie starb, ein erster September, der nachmittags noch herbstmild wurde, nachdem es am Vormittag geregnet hatte, so wie um uns doch noch ein wenig zu trösten, nachdem der Bestatter seinen in Kunstleder eingeschlagenen Katalog mit den verschiedenen Sargmodellen, Blumenbestecken und Totenhemden zugeklappt hatte und gegangen war. Meine Großmutter hält ihre Handtasche auf dem Schoß, und sie hält sie fest, sie schaut geradeaus.
„Fahr‘ erst mal“, sagt meine Großmutter, sie blickt durch die Windschutzscheibe, als sei alles neu für sie, was sie um sich herum sieht, die Bäume am Straßenrand, die Steinbeker Kirche, die hinter den Häusern hervorlugt und die auf einem Geesthang erbaut wurde, wie ich mal im Gemeindebrief gelesen habe, während ich die Gänge schalte und ich mich langsam entspanne. Vielleicht schaffe ich es nachher noch ins Büro. Mal geht es in die Vier- und Marschlande, wo sie Balkonpflanzen kaufen will, falls wir an einer Gärtnerei vorbeikommen. Mal führt es ins Lauenburgische, wo es bald waldig wird und es nach nassen Nüssen und Moos riecht. Diesmal aber geht es zur Tatenberger Schleuse. Wir schauen auf die Bauernhäuser mit den Gewächshäusern, wir schauen auf das Schleusenbecken, wo gerade Wasser eingelassen wird, dass strudelnd vorwärts drängt. Ein Segelboot mit eingeklapptem Mast wartet auf die Weiterfahrt. Ein Mann steht auf dem Vorderdeck und hält die Leine konstant stramm, mit der das Boot an einem eisernen Ring festgebunden ist. Wir kehren um, wir halten an den Gasthof, an dem wir zuvor vorbeigefahren sind, beide werden wir Gulasch bestellen, dass auf der Schiefertafel vor dem Eingang angezeigt ist, dazu Kartoffelsuppe als Tagessuppe vorweg. „Viel los ist ja hier nicht“, flüstert meine Großmutter und nickt in den leeren Gastraum, in dem bestimmt 50 Personen Platz finden könnten, am Wochenende, wenn die Motorradfahrer einfallen. Aus der Küche kommt leise Musik, manchmal hören wir Stimmen. Der Wirt scheint ein Lied zu summen, doch als er schwungvoll den Gastraum betritt, verstummt er und stellt uns wortlos die Teller hin, erst meiner Großmutter, dann mir, wie es sich gehört. „Lass es dir schmecken“, sagt meine Großmutter, die ihren Hut nicht abgesetzt hat. Sie sieht mich aufmunternd aus ihren mittlerweile wassertrüben Augen an. Sie legt sich die Serviette in den Schoß, faltet sie nicht auseinander.
Sollen wir noch ein paar Schritte gehen? Wir gehen noch ein paar Schritte. Gehen kurz über den Gaststättenparkplatz bis zur Hauptstraße, langsam gehen wir, Schritt für Schritt, meine Großmutter ist jetzt 81 Jahre alt, 1910 geboren, sie erwähnt es manchmal. Sie hakt sich bei mir unter. „Das war ein schöner Ausflug“, sagt sie und ich weiß, dass wir nun umkehren werden. Und wir steigen wieder ein, und ich fahre auf die Stadt zu, die sich langsam vor uns aufbaut, in weiter Ferne die Hauptkirchen, der Fernsehturm, dann die Lagerhallen im Billwerder Industriegebiet, die näherkommen, als wir ostwärts abbiegen, als wir den Unteren Landweg entlang fahren, verschiedene Kanäle überqueren, die Grüne Brücke nehmen, Richtung Billstedt fahren wir, es ist dichter Verkehr, der Nachmittag bricht an, nicht jede Ampel ist nach einem Stopp zu nehmen. „Viel Verkehr“, sagt meine Großmutter zu dem vielen Verkehr und ich versuche mich zu erinnern, ob ich eigentlich gerne bei ihr war, an manchen Wochenende, wenn in der Tischlerei am Deich, in dessen Werkswohnung sie mit ihrem Mann wohnte, niemand arbeitete und auch sonst.
Frank Keil-Behrens, 1958 in Hamburg geboren und aufgewachsen, hat an der dortigen Universität studiert, hat die Stadt nie wirklich verlassen. Er arbeitet als freier Kulturjournalist für verschiedene Print-Medien und Magazine. Er ist Mitbetreiber der Plattform maennerwege.de und stellt dort regelmäßig das „Männerbuch der Woche“ vor; außerdem ist er Deutschland-Redaktor für das Magazin ERNST. Für sein Roman-Projekt „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ bekam er einen der Hamburger Literaturpreise 2022.
Laudatio Hamburger Literaturpreis: «Ein Mann betrachtet seine Leute, seine Familie. Vater, Großmütter, Großväter, Onkel, Mutter, ihr Herkommen, was sie werden wollten, was sie geworden sind. Ihr Leben im Osten, ihr Leben im Westen oder das im Dazwischen. Der Auftrag der Großmutter: Einmal musst du unsere Familiengeschichte aufschreiben, damit sie nicht verloren geht. Und das tut der Ich-Erzähler, der Frank heißt wie sein Schöpfer und in der Erzählgegenwart 1991 berichtet, das Epochenereignis »Mauerfall « drängt sich dem Leser, der Leserin auf. Aber es ist in diesem Familienporträt lediglich ein ferner Wink der Geschichte. Frank Keil-Behrens, den wir besonders in Hamburg seit vielen Jahren als Betrachter des kulturellen, des literarischen Lebens kennen, durchschreitet in seinem Roman- projekt, das wir gerne unter dem literarischen Trend des autofiktionalen Erzählens subsumieren, ein Erinnerungsdickicht, in dem die Generationen auf deutsch-deutsche Weise miteinander verbunden sind und die Erfahrungen ineinanderragen. Eine sensible Suchbewegung hin zur eigenen Herkunft, in einer kraftvollen und doch leisen, melancholisch grundierten Prosa. Sie schaut auf die Verluste, die ein Menschenleben anhäuft; jeder Mensch steht vor dem anderen und verbirgt sich diesem doch,so gut er kann. Hier ist einer, der damit aufhören will, nichts über seine Familie zu wissen, und dieser Prozess von Nachforschung und Einfühlung entwickelt die berühmte literarische Sogkraft, der man sich nicht entziehen kann.» Thomas Andre