Ruth Loosli «Narbengebiet»

Bildbetrachtung zu Hoppers „Four lane road“

Frau steht am Fenster
Frau ruft
Mann hört weg
        wirft Schatten an die Wand
        als hätte er nichts anderes zu tun
        als hätte er keine Spuren zu sichten
        kein Haus zu richten (keine Frau zu lieben)

Als müsste er niemals Sprit verkaufen als führen 
keine Autos vorbei. So sitzt er da. Konzentriert in sich
versunken mit dem linken Ohr ganz der Frauenstimme
zugewandt – doch dieses Hören trotzig verweigernd. 

Niemand kommt vorbei
Niemand wirft Schatten 
Niemand kommt und bewegt die Gesichtsmuskeln 

Diese Stunde steht ewig da und wirft Schatten an die Wand
Den Mann in den Stuhl
Die Frau ans Fenster
Die Strasse in ihre Linie
Den Himmel in seine Farbe
Den Wald an seinen Rand

Hält er in der linken Hand eine dicke Zigarillo?
Ja, er hält sie und sie brennt langsam nieder. 
Dass niemand merkt wie sich die Hitze in die Finger brennt!
In die Hand. 
Brennt der Mann?
Brennt die Frau?
Ja, sie brennen und ein jeder brennt für sich. 

 

Kap der guten Hoffnung

An steilen
Klippen 
Klappern 
Brillenpinguine.

Ein Naturreservat am
Kap der guten Hoffnung. 

Da leben Elanenantilopen
Bergzebras Paviane
Baboons Dessies 
Schildkröten
Echsen und Strausse. 

Südafrika. 
Das Kap der Guten Hoffnung
Treibt mich in mein eigenes 
Minenfeld absterbender Korallen
Riffe. Sorry Mann, Hoffnung ist 
zuweilen grosse Lüge,
stinkende Brühe. Was wir alles 
zu retten meinen mit der Hoffnung.

Bergzebra gegen Milchzahn.
Milchpulver gegen Muttermilch.

An steilen Klippen klappern 
Brillenpinguine. Lass sie laufen,
alte Kolonialistin.

 

Auf dem Spaziergang 

Es klappert im Wind das Signal.
Es wachsen durch Ritzen die Mauerblümchen
Es scheint
Dass die Sonne Batterien auflädt und den 
Brombeeren die Säure raubt.
Sieht so aus 
Als seien die Beine 
Der Katze rasiert 
Wie Seidenstrümpfe so elegant und glatt

Es schaut zurück:
Ein Hund mit ergrautem Schnauz.

 

Arpade mit Hof (fnung)

hof
hofieren
chauffieren
echauffieren
zitieren
vegetieren

auf dem Hof der Chancengleichheit
zieh ich Schweine auf

Vegetarier stehen 
Schlange

 

Frag nicht 

Die Schafgarbe, sie weiß es. 

Frag nicht den Kieselstein 

Frag vielleicht deine Schwester 
Sie klügelt aus
Oder den Spaziergänger 
Er bleibt stehen 
Das Gedicht 
Es motzt sich auf

Das Herz ist stark
doch kennt es nur das Alphabet
der verschlungenen Wege.

 

Brennende Geduld, sagt Jordi Vilardaga

Am Ufer des kleinen Baches wachsen Brennnesseln. Ich habe
den Impuls, meine Hände hineinzulegen, damit sich der
Schmerz in der Kehle im ganzen Körper verteilt. Das Wasser
fließt sachte dahin,
die Sonne verguckt sich ins Fließen und ich bleibe lange
stehen.
Danach setze ich mich in Bewegung, setze Fuß vor Fuß, bücke
mich nach einem Holzstück, nach einer Katze, setze Fuß vor
Fuß, höre Kinder schreien, sie schreien, ich mache einen
Umweg. Danach hören sie auf zu schreien, ich breche den
Umweg ab, setze Fuß vor Fuß und bin mir nicht sicher das
Nötige zu wissen. Ich denke eher, dass die Brennnesseln
fähiger sind, sich ihrer Entfaltung zu widmen.
Überall werden alte Häuser abgebrochen, und neue hingestellt.
Woher kommen die Steine? Woher kommt der Zement?
Woher kommen die Arbeitskräfte? Ich bin fast sicher, dass die
Antworten nahe liegen, aber ich erkenne sie nicht.
Dann beginnen die Kirchenglocken zu läuten, es ist
Samstagabend. 
Eine Ameise sucht irritiert einen neuen Weg, die Hecke wurde
entfernt, die Bäume gefällt. 

 

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag 2011 «Wila, Geschichten» und 2016 der Lyrikband «Berge falten«. 2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus. Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen«.

Beitragsbild © Vanessa Püntener

Peter Rottmeier „Die vergesslichen Könige“

Sie alle drei brachen auf, dem leuchtenden Stern zu folgen: der Linden-König, der Birnbaum-König und der Fichten-König. Und alle drei kamen mit ihren Dienern aus ganz verschiedenen Richtungen auf Kamelen und Pferden daher. Der Stern mit dem langen Schweif führte sie zusammen. Etwas Grosses musste sich ereignet haben, wenn die drei Weisen die Botschaft des Himmels richtig gedeutet und verstanden haben. Davon waren sie überzeugt und der Gwunder liess ihnen keine Ruh. Miteinander legten sie alle fortan den weiteren Weg zurück.»Wenn sich ein Komet mit hellem Schweif am Himmel zeigt, ist ein ganz besonderes Kind geboren worden. Ein Wunderkind, umgeben von lauter Strahlen», so berichten die alten Bücher.

Der Sternenschein führte sie durch die Wüste voller Sand, dann mit Steinen durchsetzt. Und schliesslich trafen sie auf Hirten, die ihre Schafe und Ziegen an den kargen Hängen am Wüstenrand weideten. Die Hirten wussten von der Niederkunft eines Kindes zu berichten. Arme Leute seien es, welche keinen Platz in einer Herberge fanden und sich mit einem einfachen Stall bei Ochs und Esel begnügen mussten. Miteinander zogen sie weiter, ein Hirte voraus und einige vorwitzige Schafe begleiteten die Wanderschar. Und siehe da! Einem Stern gleich zog von allen Seiten Gross und Klein zu einem Stall draussen auf dem Felde. Je näher sie zum Ort des Geschehens kamen, umso wärmer wurde ihnen ums Herz und immer heller erleuchteten die Laternen die Nacht. «Da musste es sein!» «In diesem lumpigen Stall? Tatsächlich!» Alle drei Weisen streckten ihre Nasen durch einen Spalt zwischen den Brettern und erblickten ein Kind, in Windeln gewickelt. Die Mutter trug es sorgfältig in den Händen und legte es zurück ins Stroh in der Krippe. Der Vater stand mit dem Hirtenstab in der Hand breitspurig daneben, sichtlich stolz über den neuen Erdenbürger. Die drei Weisen aus dem Morgenland sahen sich an und alle drei waren überzeugt: «Das muss es wahrlich sein, das Kind, das für die Menschen dieser Welt Grosses tun wird, ein König soll es sein.»

Ihre Blicke kreuzten sich abermals und es lief ihnen kalt den Rücken hinunter. «Aber wo haben wir die Geschenke für diesen König, der viel grösser sein wird als wir?» Angezogen vom leuchtenden Stern sind sie ihm Hals über Kopf gefolgt. Wer hat denn da schon an Geschenke gedacht? Vergessen, einfach vergessen! Trotzdem wagten sie, sich dem Kinde zu nähern. Ganz verlegen meinte der Lindenkönig: «Ich schenke dir im Sommer meine Blüten, damit du würzigen Tee trinken kannst gegen den Durst oder wenn du krank bist.» «Und ich schenke dir im Herbst die süssesten Birnen meines Baumes.» «Mit meinem Holz kannst du einen neuen Stall bauen, damit die ganze Familie anständig wohnen kann; und noch etwas: es riecht so wunderbar nach Harz.» Wohlklingende Worte waren das – und sie standen halt trotzdem da mit leeren Händen vor dem neuen kleinen König.

Da griff der Fichtenkönig mit seinen langen Armen zum Himmel und holte den wegweisenden, hellen Stern samt Schweif herab auf die Erde. Ein wenig verbrannte er sich dabei schon seine Finger. Der Birnbaumkönig hielt den Stern auf seinen Armen, der Fichtenkönig sorgte sich behutsam um den Schweif und der Lindenkönig schenkte dem Kind halt nur eine leere Schachtel. Etwas verlegen kniete der Birnbaumkönig nieder und streckte dem Kind den leuchten Stern entgegen und lüftete dabei das Geheimnis dieser eigenartigen und wundersamen Gabe: «Ich schenke dir den hellen Stern, der uns den Weg zu dir gezeigt hat. Dazu kommt vom Fichtenkönig der leuchtende Schweif und der Lindenkönig bringt eine Schachtel mit, damit du alles schön versorgen kannst. Und immer dann, wenn du rundum Freude bereiten willst, packst du den Stern und den Schweif aus und er beginnt immer wieder zu leuchten. Wenn du damit dein und andere Herzen öffnest, wird es rundum warm und hell. Und du wirst sehen, du brauchst die Schachtel gar nicht erst zu schliessen. Unsere Welt kann dein Licht im Dunkel immer und überall so gut gebrauchen.»

Und im Einklang wünschten sie dem kleinen, grossen König: «Ein heller Stern möge über dir leuchten und dich begleiten auf all deinen Wegen, wohin sie dich auch immer führen mögen.» Und das wünschten sie sich auch gegenseitig und zogen mit ihrem Gesinde und mit den Tieren zurück zu ihren Lieben – erfüllt von tiefem Glück, strahlend wie Sterne in dunkler Nacht, wie der kleine grosse König.

Peter Rottmeier, geb. 1942, lernte Schriftsetzer/Hausgrafiker, wurde Reallehrer und Schulleiter und wirkt seit Jahrzehnten als Holzschneider und grafischer Gestalter. Daneben betätigt sich Peter Rottmeier als Führer im thurgaueschen Kloster Fischingen.
 

Webseite von Peter Rottmeier (Autor und Künstler)

Max Annas «Local Train»

Neukölln
»Dahinten.« Kareem zeigte durch die Blätter vor ihren Augen. »Die S-Bahn …« Sein Körper spannte sich.
Vom Bahnhof Hermannstraße kommend, tauchten die Scheinwerfer auf, noch fern. Der surrende Ton, den die Bahn mit sich brachte, erreichte die Ohren etwas später.
»Hmhm …« Issam steckte die Hände in die Hosentaschen. Schwieg. Rührte sich nicht.
»Jetzt ist es sowieso zu spät.« Kareem entspannte sich wieder.
»Wir müssen darüber reden, wie wir das genau machen«, sagte Issam.
Die Scheinwerfer waren fast auf ihrer Höhe, zogen unter der Brücke vorbei. Kareem und Issam schauten dem Vorortzug hinterher. Durch das Blätterwerk vor ihren Augen und über das Grün auf der Böschung am Gleis flackerten die Lichter vorbei.
»Was gibt es da zu reden? Ist doch alles gesagt.«
»Na ja … Ob wir erst losgehen, wenn die Lichter zu sehen sind. Zum Beispiel.«
Jetzt sagte Kareem keinen Ton.
»Oder ob wir rennen. Ich meine … Wir wollen ja nicht, dass es so lange dauert, weil wir wollen ja auch nicht, dass uns jemand sieht und so. Oder ob wir …«
»Da …« Kareem zeigte in Richtung Tempelhof, wohin die erste S-Bahn verschwunden war. Scheinwerferflackern, das Surren. Auch von dort kam eine S-Bahn. »Aber wir wollten ja die von der anderen Seite nehmen.«
»Hmhm …« Issam drückte mit einer Hand ein paar Zweige neben seinem Kopf zur Seite. »… also ob wir am Geländer warten. Wie oft kommen die um diese Uhrzeit? Und wie lange noch?«
»Woher soll ich das wissen? Immer noch ganz schön oft. Und am Geländer zu warten ist zu gefährlich. Was, wenn die Bahn dann einfach nicht kommt? Wir können da ja nicht so rumstehen. Dahinten …« Kareem zeigte nach Norden. »Da sind Leute.«
»Kommen die hier vorbei? Aber irgendwann fahren die auch nicht mehr. Die Leute …«
»Sieht so aus. Ja … irgendwann ist Schluss mit den Bahnen.«
»Was machen wir?«
»Einfach leise sein. Aber es ist Freitag …« Kareem redete jetzt tonlos. »Da fahren die doch die Nacht durch.«
»Nnnnnnnnnn …« Hinter ihnen im Gebüsch war ein Rascheln zu hören. »Nnnnnnnnn …«, machte es wieder.
Kareem drehte sich um und trat dem Bündel fest in die Seite. »Ng …«, machte es und hörte auf, sich zu regen.
Kareem bückte sich und überprüfte den Knebel im Mund. Seine Fußballshorts saßen bombenfest zwischen den Zähnen. Er stand wieder auf und trat noch einmal zu.
»Die Schnürsenkel halten?«, fragte Issam leise.
»Bombenfest.« Kareem hob einen Daumen, checkte trotzdem noch einmal Hände und Füße.
Die Leute waren nähergekommen. Ihre Stimmen waren deutlich vernehmbar. Kareem erkannte drei Gestalten. Drei Männer. Leicht schwankend.
»Alles piccobello sonst …«, sagte einer.
»Die Strände?« Der zweite.
Der dritte lag einige Meter zurück und blickte sich um. Suchte einen Platz im Gebüsch. Kareem tippte Issam an. Legte den Finger auf die Lippen.
»Alles in Antalya. Leute nett und höflich. Strände sauber und nicht zu voll. Und kein Mensch redet über Politik.«
»Komm schon«, sagte der zweite und drehte sich dabei um. Der dritte beschleunigte seine Schritte.
Von Osten, von der Hermannstraße, kam die nächste S-Bahn gefahren. »Zu spät«, sagte Kareem. »Guck mal. Wenn die abfährt in der Hermannstraße, das kann man ja hören. Dann gehen wir los.«
»Hmhm …« Issam drehte sich um und blickte zu dem Bündel hinab.
»Wir können es nicht austesten. Gibt keinen Probedurchgang. Bahn fährt los. Wir starten und ziehen das durch.«
»Doch. Wir können das schon einmal durchgehen. Wenn wir hören, dass die Bahn abfährt, gehen wir zum Geländer. Dann sehen wir ja, ob das mit der Zeit hinhaut. Das sind … guck … 40 Meter?«
Kareem sagte nichts.
»Der hier kann ja nicht weg. Oder?«
»Du willst gar nicht mehr.«
»Doch … Aber … Ich meine … Washington kommt jetzt bald aus dem Krankenhaus.«
Kareem schüttelte den Kopf. »Er war eine ganze Woche im Koma.«
»Ja, aber jetzt ist er bald wieder bei uns.«
»Er wird die nächsten Monate mit Schienen an den Beinen rumlaufen. Nix Fußball und so.«
»Die Ärzte haben gesagt …«
»Mann, der Typ hat Washington fast umgebracht. Hast du das vergessen?« »Nein, natürlich nicht.«
»Wir haben nicht mal gewusst, ob er das überleben wird. Am Anfang haben sie gesagt, das wird nix mehr.«
»Ja …« Issam war ganz leise geworden.
»Gleich, da, die nächste Bahn. Komm …« Kareem bückte sich und fasste die Füße des Bündels.
Als sich Issam nicht rührte, erhob er sich wieder. Die Bahn näherte sich und fuhr vorüber.
»Guck mal«, sagte Issam.
»Was?«
»Da …«
»Der Hund? Der ist gleich wieder weg.« »Das ist kein Hund.«
Kareem sah genauer hin. Vier Beine, nicht so lang, dichtes Fell, braun oder rot, spitze kleine Ohren, der Schwanz buschig. Er hatte das Tier gar nicht kommen sehen. Es guckte die eine Straße entlang, dann über die Brücke.
»Ein Fuchs«, sagte Issam. »Hab ich auf YouTube gesehen.« »Was guckst du denn auf YouTube?«
»So was eben … Alles Mögliche.«
Ein Motor wurde in der Nähe gestartet. Viel zu viel Schwung beim ersten Kontakt mit dem Gaspedal.
»Wenn sie krank sind, greifen sie sogar Menschen an«, sagte Issam. »Haben sie da gesagt. Echt interessant.«
Der Fuchs drehte den Kopf ein paar Mal und verschwand dann Richtung Tempelhofer Feld. Ohne Eile.
Kareem beobachtete die Kreuzung aus dem Gebüsch heraus. Der Motor lief weiter, ohne dass der Wagen bewegt wurde. Noch keine Scheinwerfer zu sehen.
Das Tempelhofer Feld und Grün und Laubenwirtschaft im Rücken. Wohnhäuser auf der anderen Seite, zu viele Balkone für seinen Geschmack. Die kleine Brücke über die S-Bahn-Trasse ein Teil der T-Kreuzung. Bis zum Geländer auf der Brücke 50 Meter. Vielleicht sogar nur 40, da konnte Issam Recht haben. Jetzt wurden die Scheinwerfer angestellt. Das Geräusch des Motors wurde höher. Der Wagen kam um die Ecke gerollt. Die Scheinwerfer blendeten ihn für einen Moment. Er war froh, dass sie beide dunkle Klamotten trugen.
Als der Wagen gerade um die Ecke in der Emser Straße verschwunden war, tauchte genau dort eine Figur auf, die Kareem zu erkennen glaubte. Der Typ orientierte sich kurz, checkte den Grünstreifen, in dem sie sich verborgen hielten. Er sah dann auf sein Telefon und kam zielstrebig auf sie zu.
Nach dem Fußballspiel hatte sich Emeka geduscht und zurechtgemacht. Er war es tatsächlich. Als er vor dem Gebüsch stand, in dem sie sich verborgen hatten, guckte er noch einmal aufs Telefon. »Hey«, rief er.
Kareem packte ihn und zog ihn ins Versteck. »Was ist los?«, fragte er.
»GPS«, sagte Emeka. »Ganz einfach.« Er klopfte Issam auf die Schulter.
»Ja, ist ja gut …«, sagte Issam. »Ich hab ihm ein Foto geschickt.«
»Ein Foto?«
»Hier.« Emeka reichte Kareem das Telefon. Auf dem Foto war das Bündel zu sehen. Gefesselt und mit dem Knebel im Mund. Erstaunlich, wie gut diese Fotos heute waren, dachte Kareem. Die gelbe Borussia-Dortmund-Hose war selbst im Dunkeln gut zu sehen. Sie quoll aus dem Mund von dem Arschloch raus.
»Krass«, sagte Emeka und betrachtete das echte Bündel. Den geschorenen Schädel. Die isolierten Koteletten, gerade noch im Widerschein der Straßenlaternen zu sehen. »Wo habt ihr den her?«
»Auf dem Heimweg.« Kareem. »Wir wollten eigentlich Richtung Hermannstraße. Dann haben wir ihn gesehen.«
»Er hat uns gesehen und ist auf die andere Straßenseite.« Issam.
»Nein. Er hat uns nicht gesehen. Wir sind ihm einfach nach.«
»Und dann waren wir auf einmal hinter ihm.« »Genau hier.«
»Und dann hab ich ihn ins Gebüsch gezogen.« »Ich eher …«
»Also … wir haben das zusammen gemacht.«
»Aber wer ist das?« Emeka hatte den Blick bislang nicht von dem Bündel gelassen.
»Das ist der, der Washington fast umgelegt hat«, sagte Kareem.
»Scheiße.« Emeka sah jetzt hoch. »Der ist das?«
»Hmhm …« Issam. »So sieht’s aus.«
»Jou …« Emeka holte aus und trat dem Bündel in die Seite. Hinter der gelben Hose war ein Röcheln zu hören. Emeka trat noch einmal zu. Das Röcheln wurde schwächer.
»Und jetzt?«, fragte Emeka.
Eine S-Bahn fuhr vorbei. Kareem blickte sich um und sah den Lichtern hinterher.
Emeka sagte zuerst keinen Ton. Und blies dann langsam Luft durch die Lippen. »Okay«, meinte er.
»Und jetzt, wo wir zu dritt sind, geht das viel besser. Passt auf, da kommen schon wieder Leute.«
Eine Gruppe junger Frauen näherte sich. Die letzte von ihnen, die den anderen mit etwas Abstand folgte, blieb genau auf der Höhe ihres Verstecks stehen und nahm einen langen Schluck aus einer Sektpulle. Die drei anderen waren schon ein paar Meter weiter und blieben stehen. Eine von ihnen kam zurück und nahm die Flasche in die Hand. Sie sagte irgendetwas auf Spanisch, schnell und rau, bevor sie die Flasche an den Hals setzte. Dann noch etwas. Kareem verstand nicht ganz, worum es ging. Irgendwas mit einem Job. Dann trank sie noch einen Schluck, gab die Flasche zurück und ging wieder zu den anderen. Die Nachzüglerin folgte ihr langsam. Schweigend zogen die Frauen von dannen. Zwei S-Bahnen begegneten sich unter der Brücke, als die Frauen noch zu sehen waren. In Kareems Hose brummte das Telefon, dass er dem Bündel abgenommen hatte.
»Einer nimmt die Füße.« Kareem stellte sich so, dass er die aneinander gefesselten Hände des Bündels greifen konnte. »Ich glaube, ich höre die S-Bahn schon. Kommt!«
»Da ist einer.« Emeka stand halb auf dem Gehweg und lugte zur Seite. Auf der Brücke war ein Mann stehen geblieben. Er trug eine viel zu weite graue Jacke. Kareem zog Emeka ins Gebüsch zurück. Der Mann machte ein paar Schritte, blieb stehen, blickte hoch und zur Seite. Kam wieder näher.
»Was macht der da?«, fragte Issam.
»Pssst!« Kareem legte den Finger auf die Lippen. »Nnnnnnnnnnnn …«, kam es vom Boden.
Kareem trat dem Bündel in die Seite.
»Krrr …«, machte es von unten.
Der Mann hatte die Brücke mittlerweile überquert und schaute ins erste Auto, das gegenüber dem Grünstreifen geparkt war. Ein Kombi. Checkte den nächsten Wagen, einen Golf. Sah in den daneben. Bückte sich. Ging weiter. Neben einem kleinen Sportwagen ging er in die Hocke. Im Licht einer Straßenlaterne konnte Kareem sehen, dass seine Hose einen Riss im Schritt hatte. Die Schuhe fielen beinah auseinander. Der Mann stand auf und blickte sich wieder um. Dann holte er aus und hieb mit dem Ellbogen gegen das Fenster der Fahrertür.
Nichts passierte.
Er holte etwas weiter aus und versuchte es noch einmal. Jetzt zerbrach die Scheibe.
»Scheiße!«, sagte Emeka.
Kareem wartete auf den Alarm. Aber der kam nicht.
Der Mann griff ins Auto hinein. Steckte, was er rausholte, schnell in die Jacke und ging davon. Er sah sich nicht noch einmal um.
»Wow«, sagte Issam. »Das macht der aber nicht zum ersten Mal.«
»Kann man von so was leben?«, fragte Emeka.
Eine S-Bahn passierte die Brücke von Tempelhof kommend. Eine andere gleich darauf von der Hermannstraße aus.
»Was ist jetzt?«, fragte Kareem und bückte sich.
Issam und Emeka standen neben dem Bündel.
»Okay, na gut, ich nehme die Füße«, sagte Issam.
»Ich glaub’s nicht.« Kareem stand wieder auf.
»Was?« Issam stand sofort neben ihm. »Wer ist das denn?«, fragte er, als er den Blick justiert hatte. Eine Frau kam zielgenau auf das Gebüsch zu. Sie stützte sich auf einen Gehstock. Die Schritte waren unterschiedlich lang.
»Auntie Mo«, sagte Kareem. »Hast du ihr auch das Foto geschickt?«
»Ich kenne die gar nicht.« Issam.
»Ich hab’s ihr gezeigt.« Emeka.
»Scheiße. Die hat uns gerade noch gefehlt.« Kareem drehte sich ab und starrte auf das Bündel.
Der Stock klackerte deutlich, als sich Auntie Mo näherte. Sie stand schon vor dem Gebüsch. »Wo ist er?«, fragte sie, ohne sich Mühe zu geben, ihre Stimme zu senken.
»Schsch …« Kareem blickte auf das Haus gegenüber, als die Frau durch das Gesträuch brach.
»Ist er das?«, fragte sie in derselben Lautstärke. Dann spuckte sie auf ihn. Sie holte mit dem Stock aus, überlegte es sich aber anderes, bevor er auf dem Bündel niederging.
Kareem atmete aus. »Lass uns bitte leise sein, Auntie.« »Sie ist die Tante von Washington«, sagte Emeka zu Issam. »I am not«, sagte Auntie Mo, immer noch in voller Lautstärke. »I happen to know him from Lagos.«
»Okay.« Kareem legte Auntie Mo die freie Hand auf die Schulter. »Keine Tante. Aber wir müssen leise sein.«
Ein stotternder Motor kam langsam näher. Zu niedriger Gang, Aussetzer, wieder der Motor, erneut ein Aussetzer. In dem alten Toyota waren die Scheiben herabgelassen. Kareem machte ein leises »Sssss!« Sofort waren alle ganz ruhig.
Vier junge Männer saßen in dem Wagen. Glotzten in die Gegend. Einer war eine Glatze, die anderen sahen aus wie alle. Der Wagen war hellgrün, hatte aber rostbraune Türen. Das Dach war eingedellt. Ganz kurz stockte der Motor wieder, als der Wagen den Busch passierte. Der Fahrer blickte in den Fußraum unter sich und gab dem Gaspedal unter vollem Körpereinsatz ein paar Tritte. Der Motor hustete und fing sich dann wieder. Die vier fuhren schweigend um die Ecke.
Eine S-Bahn kam von der Hermannstraße angefahren. Dann eine aus der anderen Richtung. Kareem sah sich um. Die anderen machten keine Anstalten, ihm zu helfen. Issam schaute auf die Straße. Emeka war mit sich selbst beschäftigt. Auntie Mo blickte nach unten. Sie schüttelte den Kopf. Der Arm mit dem Stock zuckte.
»Wir können das jetzt ganz schnell machen«, sagte Kareem. »Zu viert geht das ganz einfach.«
Emeka bückte sich, Issam drehte sich zu dem Bündel. »Ich kann das nicht«, sagte Auntie Mo. »Mein Bein.«
Laufende Schritte, die näherkamen.
»Nnnnnnnnnnn …«, kam es vom Boden. Die vier Stehenden wandten sich der Straße zu.
»Nnnnnnnnnnn …«
Die Schritte waren jetzt deutlicher hören. Schnell und leicht. Keine Sneakers.
Eine S-Bahn übertönte die Laufgeräusche. Als die S-Bahn verklungen war, tauchte die Gestalt aus der Emser Straße kommend auf.
»Fuck me«, sagte Kareem. »Wo kommt die denn jetzt her?«
»Tanja.« Emeka schien weniger überrascht. »Das Foto?«, fragte Kareem.
»Ja … Sie auch.«
»Wo seid ihr?«, rief Tanja.
»Komm.« Emeka hielt eine Hand aus dem Gebüsch heraus. Tanja sprang durch die Lücke, die er mit dem Arm schuf.
»Die sind hinter mir her.« Tanja war außer Atem. »Wer?«
»So … Rechte … Nazis …« Tanja atmete aus. »Ein ganzer Wagen voll.«
»Mist«, sagte Issam.
»Haben angehalten. Und … Kacke geredet. Das war voll unangenehm.«
Kareem wollte wissen, was sie gesagt hatten, wollte aber nicht fragen.
»Das ist er?« Tanja hatte wieder Luft und zeigte nach unten.
»Hmhm«, sagte Kareem. »Die Narbe.«
Sie bückte sich und verteilte eine Reihe von Backpfeifen. »Hnnn …«, kam es vom Bündel.
Tanja schlug weiter, bis sie erneut außer Atem war. »Hnnn … hnnn … hnnn…«
»Komm«, sagte Emeka und nahm Tanja in den Arm.
»Reicht.«
»Und die Nazis?«
»Sind mir nicht hinterher.«
Der stotternde Motor war fern wieder zu hören. Kam näher. Jetzt war auch Rockmusik im Spiel. Sie wurde gleichzeitig mit den Motorgeräuschen lauter.
»Arschlöcher.« Kareem wartete darauf, dass der Wagen auftauchte. »Wir könnten einfach rausgehen und sie alle zusammenschlagen.«
»Bist du bescheuert?« Tanja war jetzt ganz laut. »Die sind bestimmt bewaffnet.«
Der Wagen tauchte wieder auf. Er kam aus der Emser Straße und blieb vor dem Gebüsch stehen, in dem sie verborgen waren. Der Fahrer stellte die Musik aus und öffnete die Tür. Er stieg aus und schaute die Straße erst in die eine, dann in die andere Richtungen hinunter. »Die muss doch irgendwo sein«, sagte er.
»Oder sie wohnt hier«, rief jemand aus dem Auto.
»Komm.« Noch eine andere Stimme. »Wir haben zu tun. Wir suchen doch den Björn.«
Der Fahrer setzte sich in den Wagen, stellte die Musik wieder an. Es war fürchterlicher Krach. Neben sich hörte Kareem jemanden kichern.
Hinter einem Balkon auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging das Licht an. Zweiter Stock. Ein großer Mann trat heraus und sah auf die Straße. Er stellte sich an die Brüstung und zündete sich eine Zigarette an. Die vier Män- ner fuhren davon. Der auf dem Balkon beugte sich so über die Brüstung, dass er dem Auto nachsehen konnte.
»Ganz leise jetzt«, sagte Issam.
»Hnnnnnnnn!«, machte das Bündel. Kareem trat nach hinten aus.
In der gleichen Etage ging ein weiteres Licht an. Ein anderer Mann kam heraus. Auch er zündete sich eine Zigarette an. Die beiden Männer blickten sich nicht an. Kein Wort fiel zwischen ihnen. Als der erste zu Ende geraucht hatte, schnippte er die Kippe nach unten und zog sich zurück. Der andere tat es ihm kurz darauf gleich und verschwand auch.
Emeka hielt Tanja immer noch im Arm, als sich Kareem umdrehte. Er sah, wie sie sich befreite und mit dem Absatz genau in die Mitte des Bündels trat.
»Iiiiiirrr …«, kam es hinter der Borussia-Hose hervor. »Iiiiiirrr …«
Er wusste, dass der Verschnürte ein Nazi war, aber Kareem tat es beim Zusahen weh. Instinktiv zog er die Hoden ein.
Tanja trat noch einmal zu und dann noch einmal. Das Bündel krümmte sich, so gut es ging. Kareem zog sie weg.
Sie blies vor Wut. »Am Anfang haben sie gesagt, dass Washington nie wieder einen hochkriegt. So sehr haben sie ihn getreten. Da lag er ja schon am Boden. Und …«
»Wie viele waren die denn?«, fragte Issam.
»Drei. Der eine hat mich festgehalten. Und die anderen haben Washington verprügelt. Und als er am Boden lag haben sie ihn zuerst gegen den Kopf getreten. Und dann … Es war so schrecklich. Der war das.«
»Und dann?«, fragte Issam.
»Der, der mich festgehalten hat, der hat mir eine geschallert. Ganz fest. Aber ich hab das gar nicht gemerkt. Ich hab nur Washington gesehen. Dann sind sie weg.«
Eine S-Bahn passierte die Brücke von Tempelhof kommend.
»Jetzt?«, fragte Kareem und ließ Tanja los.
Issam griff sich die Füße. Tanja griff unter die Knie. Kareem bückte sich und wartete auf Emeka. Auntie Mo stand dabei und sagte kein Wort. Das Bündel wand sich. Vor Schmerz oder um sich zu wehren.
»Bestimmt kommt bald eine«, sagte Tanja.
»Beeilung«, sagte Issam.
»Kommt«, sagte Emeka.
Als sie ihn sicher im Griff hatten, erlahmte der Widerstand des Bündels etwas. Kareem überprüfte, ob die Straße frei war. »Also«, sagte er.
Sie stürzten aus dem Gebüsch und gingen eilig zur Brücke. Der Typ war mager und leicht.
An der Hermannstraße wartete eine S-Bahn auf die Weiterfahrt. Sie konnten die Scheinwerfer sehen. Ganz leise war die Ansage zu hören. Das Bündel begann, sich zusammenzuziehen. Die Türen der Bahn würden sich jetzt schließen. Sie hatten ihn immer noch fest im Griff, als die S-Bahn losfuhr.
»Wir müssen ihn aufs Geländer legen«, sagte Emeka.
»Mit Schwung dann.« Kareem war der Zug schon viel zu nah. Jetzt mussten sie sich beeilen. »Auf drei«, sagte er. »Eins …«
»Zwei …«, sagte Issam.
»Halt«, rief Tanja. »Das ist er nicht.«
Alle ließen zur gleichen Zeit los. Das Bündel knallte gegen das Geländer und fiel dann vor ihnen auf den Fußweg. Die S-Bahn rauschte unter ihnen hindurch.
»Was heißt: Das ist er nicht?« Emeka stand direkt vor Tanja. Auntie Mo schüttelte den Kopf.
»Da«, sagte Kareem. Er zeigte auf das Gesicht. »Die Narbe.«
»Sie ist auf der falschen Seite.«
»Wie falsche Seite?«
»Die falsche Seite.«
Alle beugten sich über das Bündel.
»Da …«, sagte Tanja. Sie fuhr die Narbe unter dem rechten Auge nach. Kurz und dick gab sie dem Auge den Anschein, als würde es leicht schräg zu dem anderen liegen.
»Die muss da sein«, sagte Tanja. Sie zeigte auf die linke Wange. »Von hier …« Das war direkt neben dem Auge. »Bis da …« Das war fast am Mundwinkel. »Ganz anders.«
»You sure?«, fragte Auntie Mo.
»Ja. Absolut. Er hat mich immer wieder so angegrinst, als er Washington zwischen die Beine getreten hat. Das vergisst man ja nicht.«
Alle richteten sich wieder auf.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Issam.
Schweigen. Eine S-Bahn kam aus Tempelhof.
»Nazi ist er auf jeden Fall«, sagte Emeka. »Keine Frage.« »Hast du denn die beiden anderen gesehen«, fragte Kareem.
»Den einen gar nicht. Den, der mich festgehalten hat. Und den anderen nicht richtig.«
»And these guys in the car?«, fragte Auntie Mo.
»Keine Ahnung. Die konnte man ja nicht erkennen.« »Wisst ihr was?« Issam hielt den Zeigefinger hoch. »Wir lassen ihn hier liegen. Dann kommt die Polizei und findet ihn. Der hat bestimmt einen Haftbefehl offen …«
»Wenn die Polizei das überhaupt mal interessiert?«, sagte Kareem. »Aber okay …« Er dachte nach. »Schillerkiez? Ein letztes Bier?«
Alle setzten sich in Bewegung. An der Kreuzung, ganz in der Nähe vom Gebüsch, wo sie sich versteckt hatten, fiel Kareem noch etwas ein. Er ging zurück zu dem Bündel.
Als er sich über den Jungen beugte, weiteten sich dessen Augen. Er hatte immer noch Angst. Kareem zog ihm die Borussia-Dortmund-Hose aus dem Mund.
Die Augen des Jungen wurden schmaler. Kareem sah, wie er die Muskeln um seinen Mund herum anspannte. »Kanacke«, sagte der Junge heiser.
Kareem holte das Telefon des Nazis aus der Hosentasche. Er warf es auf die Gleise, als an der Hermannstraße eine S-Bahn startete. Dann drehte er sich um und ging den ande- ren hinterher. Er freute sich auf das Bier.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreisausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Rezension mit Interview von «Der Hochsitz» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Max Annas

Alexandra Lavizzari „Silke“, ein Romananfang

Seit Tagen herrschte mieses Wetter. Ich meine, wirklich mieses Wetter. Nicht grollender Donner und blendende Blitze, das wäre ja noch aufregend gewesen, auch stürzten keine golfballgrossen Hagelkörner runter, nein, es tröpfelte nur leise, dafür anhaltend. Das war eine Weile in Ordnung, tut ja den Blumen im Garten gut, aber als es dann am nächsten und übernächsten Tag immer noch leise und anhaltend tröpftelte, wurde es langweilig, zumal das Grau über den Dächern sich auch nie veränderte oder, wenn man genau hinschaute, höchstens mal von asch- zu mausgrau wechselte und umgekehrt.
Mies eben.
Als ich jung war, verliefen meine Launen und Gemütsschwankungen unabhängig vom Wetter. Ich konnte im tiefsten Winter die glücklichste Schneeprinzessin sein und im Hochsommer ein Häufchen Elend. Mit zunehmendem Alter begann ich jedoch, mein inneres Klima dem äusseren anzugleichen, ich weiß nicht, warum das so ist; vielleicht waren es die Hormone, es sind ja immer die Hormone, wenn man nicht weiß, warum einem so oder so zumute ist, jedenfalls funktionieren wir inzwischen fast schon in vollkommener Harmonie, das Wetter und ich, womit ich letztlich sagen will, dass es mir damals seit Tagen mies ging.
Wenn es mir mies geht, schlurfe ich entweder ziellos durchs Haus oder verkrieche mich mit einem Buch ins Bett, das ich nach drei Seiten weglege, um mich unter der Decke zu verstecken. Das Herumschlurfen tue ich im Bademantel, denn zur miesen Befindlichkeit gehört, dass ich den Sinn des Duschens, Haarekämmens und Ankleidens nicht einsehe und es mir auch egal ist, was Martin von mir denkt. Jene Tage aber waren anders. Ich fühlte mich mies, keine Frage, doch duschte ich morgens, kämmte mich und zog auch was einigermaßen Hübsches an. Ich konnte sogar mit Martin einen Spaziergang machen und die Kirschblüten bewundern – wir waren im Mai – , und wenn es sein musste, führte ich auch ein Gespräch mit ihm. Es waren keine tiefen Gespräche, nichts Philosophisches oder Politisches, aber besprechen, was wir einkaufen sollten und wer diese Woche den Rasen mäht, das ging. Alles andere war verlorene Mühe, ich war einfach nicht dabei. Wer redete, war weit weg von mir, und ebenso erging es mir, wenn ich Nachrichten oder einen Film schaute. Bilder und Wörter bedeuteten rein gar nichts, und da sass ich dann Abende lang neben Martin auf dem Sofa und hatte keine Ahnung, was ablief.
Immerhin wusste ich diesmal, warum ich in diesem Zustand war. Das Wetter spielte sicher eine Rolle. Jedesmal wenn ich aus dem Fenster blickte, schlugen mir das leise, anhaltende Tröpfeln und ewige Himmelgrau ein bisschen mehr aufs Gemüt, aber der eigentliche Grund lag anderswo, nämlich buchstäblich in der obersten Schublade des Flurmöbels zwischen Schlüsselbund und Sonnenbrillenetui. Dort hatte ich Silkes neue Ansichtskarte versorgt. Ad acta gelegt sozusagen.
Wobei ich mir keine Illusionen machte; nach unzähligen ähnlichen Karten wusste ich, dass ich sie nicht so ohne weiteres würde ad acta legen können. Die Karte blieb in meinem Kopf eingraviert, ob sie nun im Flurmöbel lag oder im Papierkorb landete. Einstweilen hatte das Flurmöbel den Vorteil, dass die Ansichtskarte unsichtbar und gleichzeitig in Reichweite blieb. Ich konnte daneben stehen und es beim Zuknöpfens der Jacke bei einem flüchtig unangenehmen Gefühl belassen, oder, auch möglich, vor dem Hinausgehen die Schublade ziehen und mich der Ungeheuerlichkeit stellen. Letzteres wagte ich selten und nur, wenn ich allein war. Das unangenehme Gefühl war schwer genug zu verkraften, es schwankte zwischen Wut und Hilflosigkeit und machte mich grantig, doch mit etwas Glück lenkte mich Martin ab, weil er gerade den Mantelärmel nicht erwischte oder den Schirm nicht fand, so dass ich beim Helfen auf andere Gedanken kam.
Besagte Ansichtskarte war nicht irgendeine Ansichtskarte, sondern Silkes Ansichtskarte. Der Name stand gut lesbar am unteren rechten Rand hinter den herzlichen Grüssen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt gewesen, dass sie mir welche schickt. Überhaupt gab sich diese Karte verglichen mit früheren ziemlich harmlos. Keine Ansicht von Weimar mit tiefgründigem Goethezitat, keine Reproduktion von Magrittes ‚Die durchbohrte Zeit‘, über deren Bedeutung ich mir den Kopf zerbrechen musste, nichts Verfängliches diesmal, sondern bloss ein Strand, weit und golden wie auf Werbeprospekten, dahinter ein Streifen Meer, in das eine Seebrücke hineinwächst, und das Wort ‚Ahlbeck‘ in Kursivschrift quer über den Himmel gezogen. Ich hatte noch nie was von Ahlbeck gehört, doch dank Google war ich bald im Bild: Ahlbeck liegt auf der Insel Usedom nahe der polnischen Grenze, zählt zusammen mit Heringsdorf und Bansin zu den drei sogenannten Kaiserbädern und besitzt eine der imposantesten Seebrücken der Ostsee. Ein eleganter Bade-, Ferien- und Kurort also: Das passte zu Silke. Wenn ich mich nicht täusche, kam sie sogar von dieser Ecke.
Martin habe ich nie von Silke erzählt. Selbst am Anfang nicht, als wir uns noch für unsere Vorgeschichten interessierten. Ich beichtete ihm damals ein paar Ladendiebstähle und Tändeleien mit Unikollegen, erwähnte vielleicht auch diese oder jene Schulfreundin, mit der ich nach der Matur eine Weile in Kontakt blieb, aber über das letzte Schuljahr, jenes, in dem Silke zu uns stieß, habe ich stets geschwiegen. Hätte die Karte im Flurmöbel doch mal Martins Neugier geweckt, was ich bezweifelte, hätte ich versucht, so gelassen wie möglich zu antworten: „Silke? Ach, das ist eine ehemalige Schulkameradin von mir. Keine Ahnung, warum sie mir immer wieder Karten schreibt. Ich schreibe jedenfalls nie zurück, wüsste nicht einmal, wohin.“ Es wäre nicht gelogen gewesen – aber die Wahrheit wiederum auch nicht. Wie auch immer, ich brauchte mir deswegen keine Gedanken zu machen, Martin fragte nicht. Er stellt mir kaum Fragen, über meine Vergangenheit schon gar nicht. Vielleicht fürchtet er, ich könnte mit etwas Unerhörtem aufwarten, das ihm sein Bild von mir zerstört; er schaut mich manchmal ganz unauffällig von der Seite an und beisst sich dabei auf die Unterlippe, das tut er immer, wenn ihn etwas beschäftigt, aber wenn ich ihn frage, was los ist, ob ich Zahnpasta im Mundwinkel habe oder meine Wimperntusche schmiert, sagt er immer „nichts, Schatz, alles ist in Ordnung“ und blickt auf den Boden. So einer ist Martin. Ein Verschlossener, nach innen Gewandter. Einer, den ich an guten Tagen ‚mein stilles Wasser‘ nenne und an schlechten ‚die Wand‘.
An dem Tag war er irgendwie beides. Wir schwiegen während der ganzen Dauer unseres Spaziergangs zum Fluss und anschliessenden Einkaufsbummels. Daran ist an sich nichts Aussergewöhnliches, wir schweigen fast immer, wenn wir nebeneinander gehen, aber der Einkauf nahm dieses Mal mehr Zeit in Anspruch, weil ich im Bioladen Sanddornsaft und in der Papeterie Pauspapier kaufen wollte, und dort kam Martins zwiespältiges Schweigen plötzlich zu voller Geltung. Im Bioladen war es noch das klassische Stilles-Wasser-Schweigen, an das ich mich über die Jahre gewöhnt habe, aber als ich mir in der Papeterie noch das neu eingetroffene handgeschöpfte japanische Papier zeigen liess, spürte ich, wie sich Martin hinter meinem Rücken versteifte. Beim vierten Papierbogen war die Verwandlung vollzogen und es herrschte Wandschweigen. Klar, einkaufen ist nicht Martins Ding, ich weiß das, er kommt nur mit, um die Taschen zu tragen und mir nicht das Gefühl zu geben, dass ich immer alles allein machen muss. Vielleicht war es sogar meine Schuld, das Wandschweigen. Weil ich seine Geduld strapazierte, weil ich mich zu sehr ablenken liess, weil ich zu neugierig auf neue Produkte war, will heissen ‚zu kapitalistisch veranlagt‘, meinetwegen. Ich habe das alles, und mehr, schon hundert Mal aus seinem Schweigen herausgehört. Da Martin seine Vorwürfe jedoch nur im Extremfall ausspricht, kann ich nicht sicher sein, was ihn genau stört, und an jenem Morgen, da ich nicht bei der Sache war, schon gar nicht.
Immerhin hatte ich mir mit einem japanischen Papierbogen eine kleine Freude gegönnt. Es brauchte wenig, um meine Laune um ein paar Grad und ein paar Stunden zu heben, ein mit Goldpailletten durchzogenes Stück Washi, keine zehn Gramm schwer, und schon verzog sich ein Wölkchen am dunklen Horizont. Die schwerste Wolke aber drückte weiter auf meinem Gemüt. Als ich den Papierbogen im Atelier auspackte und mir schon ausmalte, wie der nächste Holzdruck darauf wirken würde, überrollte mich die Ungeheuerlichkeit von Silkes Karte wie ein Tsunami. Ich spürte, wie das Blut mir in den Kopf raste, sah für den Bruchteil einer Sekunde schwarz, ja, ich schwamm plötzlich in einem Meer unendlicher, tiefster Schwärze, schwankte haltlos, bevor ich irgendwie die Stuhllehne erwischte, mich setzen konnte und langsam wieder klar sah. Silke! Sie war vor neununddreissig Jahren gestorben! Sie konnte mir gar keine Karten schreiben, weder aus Ahlbeck noch aus Weimar. Und aus dem Jenseits schon gar nicht. Diese Einsicht war natürlich nicht neu, ich wusste in jeder Minute meines Lebens, dass Silke tot ist. Aber es gibt wissen und wissen. Wie beim eigenen Tod. Man weiß, dass man irgendwann drankommt, doch dieses Wissen dringt gewöhnlich nicht durch, es bleibt beim vagen Irgendwann, das kann man aushalten, und dann gibt es wie aus heiterem Himmel Momente, in denen die Einsicht tiefer dringt und unseren ganzen Körper, unser Denken und Fühlen schlagartig mit Grausen erfüllt.

Alexandra Lavizzari, 1953 geboren in Basel, studierte sie Ethnologie und Islamwissenschaft. Nach langjährigen Aufenthalten in Nepal, Pakistan und Thailand lebt sie seit 1999 in Rom, in der Schweiz und in England. Sie schreibt für Schweizer Zeitungen und ist Autorin von zahlreichen belletristischen, kunstgeschichtlichen und literaturkritischen Werken. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bieler Literaturpreis (1987), dem 13. Würth Literaturpreis der Poetik-Dozentur der Universität Tübingen (2002) und dem Feldkircher Lyrikpreis (2007).

Peter Henisch «Über Rilke (eine Textstelle, die es nicht in den Jahrhundertroman schaffte)»

Angeblich schrieb er zuerst etwas ganz Anderes. Sollte irgendwelche Briefe beantworten, die ihm lästig waren, vielleicht Fanpost. Saß, so heißt es, im Zimmer, das war wahrscheinlich ein hoher Raum. Aber trotzdem, so empfand er es möglicherweise in diesem Moment, von einer beklemmender Enge.

Draußen blies die Bora, dieser berüchtigte, enervierende Wind. Da spürte er den Druck an den Schläfen, den wetterfühlige Leute schon bei Föhn spüren. Und gewiss war er wetterfühlig, das kann man sich vorstellen, wenn man ein Foto von ihm ansieht. Er hat so was im Gesicht, so eine Hypersensibilität, so eine mit der Zeit zum physiognomisch sichtbaren Ausdruck gewordene Überempfindlichkeit.

Und er steht auf vom Schreibtisch auf und tritt ans Fenster.

Und sieht, fast erschrocken über so viel plötzlich über ihn hereinbrechende Helligkeit das Meer glänzen.

Und obwohl das Licht draußen noch greller sein wird, und seine Augen erst recht überempfindlich sind, wird er hinaus ins Freie stürmen. Und wird aus dem Sturm eine Stimme hören – vielleicht das Echo seiner eigenen Stimme, obwohl er noch gar nicht gerufen hat.

Wer, wenn ich schriee –

hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen

Und das ist zweifellos eine recht hochgestochene, hochgeschraubte Formulierung, aber gewiss auch, ja doch, ein gewaltiger Satz.

Den habe Rilke, heißt es, sofort niedergeschrieben, Notizbuch und Bleistift hatte er anscheinend bei sich, der heftige Wind hat ihn dabei merkwürdigerweise nicht gestört.

Stimmt, Roch erinnert sich: Er war mit Ingrid dort gewesen. Auf dem Rilke-Pfad, zwischen Duino und Sistiana. Unten das Meer, glitzernd, oben ein Raubvogel mit von der Sonne durchleuchteten Flügeln. Schön, aber trotzdem enttäuschend – der Pfad war auf halbem Weg gesperrt.

Sie wollten über das Gitter klettern, sie fühlten sich damals noch jung. Aber da war ein Custode, der sie daran hinderte. E pericoloso! Der Weg sei durch Unwetter beschädigt. Der Rand drohe abzurutschen. Sie würden abstürzen.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Sie blätterten damals auch in einer Biographie, die, adrett arrangiert, unter einer Vase mit parfumierten Kunstblumen, auf dem Tisch ihres Zimmerchens lag. Rainer Maria Rilke, in vergoldeten Lettern. Dieser Mensch hatte (abgesehen von seiner literarischen Begabung) ein erstaunliches Talent, noble Bekanntschaften zu machen. Gast auf Schloss Duino, eingeladen von einer Fürstin, Marie von Thurn & Taxis Hohenlohe und weiß Gott was noch.

Anfangs leistete sie ihm noch Gesellschaft, lud ein paar andere Gäste ein, die den Dichter besichtigen durften, aber dann (ab Mitte Dezember 1911) überließ sie ihn sich selbst. Begab sich auf ein anderes ihrer Schlösser. Aber die Köchin und der Kammerdiener blieben natürlich zu Rilkes Verfügung. Offenbar dezente Personen, die er nur sehr nebenbei bemerken musste.

Nun bin ich wirklich, seit vorgestern, ganz allein in dem alten Gemäuer, schrieb der Dichter an eine andere edle Freundin, eine geborene Prinzessin von und zu – den Adelsnamen hatte Roch vergessen.

Nein, hatte Ingrid gesagt, ich halte diesen Typ nicht aus!

Aber er ist ein Jahrhundertdichter, hatte Roch eingewandt.

Schon möglich, so Ingrid, aber dann hat sich im Jahrhundert geirrt – in was für einer Welt hat denn der gelebt, ich bitt dich!?

Aber er habe doch auch Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge geschrieben und das sei doch ein durch und durch moderner Roman.

Ach was, sagte Ingrid, der Protagonist, dieser überempfindsame Däne in Paris, sei ja im Grunde auch von einem anderen Stern.

Ein Wort gab das andere. Am Ende waren sie fast aufeinander böse gewesen wegen Rilke. Und hatten sich erst im Bett versöhnt, in dem sie, zuerst voneinander abgewandt, bald aufeinander zu rollen mussten, weil die Matratze derart durchhing.

Und Roch blättert weiter. Er sucht ja nach wie vor Musil. Doch ein paar Seiten später: noch immer Rilke. Allerdings nicht mehr in Duino, in diesem Schloß mit der atemberaubenden Aussicht. Sondern in der Stiftskaserne, einem schmutzig- kaisergelben Gebäude im siebenten Wiener Bezirk.

Die Fenster sind offen, die Räume müssen täglich zwei Mal gelüftet werden. Das hat der Major, dem die dubiosen Schreiber in dieser Abteilung unterstellt sind, so angeordnet. Rilke hüstelt, er ist für Verkühlungen anfällig. Doch so viel ist wahr, gelüftet muss werden, jeweils mindestens zehn Minuten sollen die Fensterflügel sperrangelweit offen stehen, sonst hält man den Mief hier drinnen einfach nicht aus.

Da sitzt er nun, Rilke – hängende Schultern, runder Rücken, vor sich eine verblichen grüne Schreibunterlage aus Filz. Durch die halb vergitterten Fenster sieht man nichts als die Häuserfront vis à vis. Und dort auf dem Dachfirst ein paar steinerne Engel. Allerdings elend schlecht gelungene, zu Karikaturen misslungene Engel aus irgendeiner mediokren Manufaktur.

Rilke, der zu einer Zeit, die nun sehr fern scheint, fast unwirklich, weil es damals zwischen Deutschland und Frankreich noch keine von Tag zu Tag wachsende Barriere aus Leichen gab –

Rilke, der die Arbeit des großen Rodin in seinem Atelier zu Paris beobachtet und beschrieben hat –

der die Entstehung von Skulpturen bis in die Fingerspitzen, bis an die Schmerzgrenze nachfühlt –

Rilke kann diese Engel gar nicht länger ansehen.

Diese bedauernswerten Engel, die später dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fallen werden. (Von dem man damals, mitten im ersten, noch nichts ahnt.) Diese Engel haben Käppchen aus dreckigem Schnee auf den Köpfen. Unter ihren Füßen hängen Wächten,

von denen ab und zu ein Stück abstürzt, was jedes Mal ein dumpfes Geräusch auf dem Gehsteig verursacht.

Und da sitzt er nun also fröstelnd am Schreibtisch. Es ist Februar 1916, die Nachrichten von den Fronten sind schlecht. Eine trübe Verdrießlichkeit liegt in der Luft, ein bis in die Knochen spürbarer Pessimismus. Sogar die Stimmen der Fiakerkutscher, die unten vor dem Tor der Stiftskaserne auf Offiziere warten, klingen inzwischen kleinlaut.

Ein paar Wochen wird es dauern, hat es im August 1914 geheißen, vielleicht ein paar Monate. Und gewiß wird man Opfer bringen müssen, Soldaten werden fallen, doch dazu sind sie schließlich da. Aber das wird sich unten in Serbien abspielen oder oben in Galizien und der Bukowina. Na ja und wenn die deutschen Bundesgenossen durchaus wollen, dann sollen sie halt dort drüben in Frankreich einmarschieren.

Bloß: Dass man hier, in dieser Haupt- und Residenzstadt, in der zwar vielleicht manchmal streitlustige aber im Grund ihres Herzens doch friedliche Menschen (ungefähr zwei Millionen) wohnen, auf einmal von der Heimatfront reden wird, das hat man nicht erwartet. Und dass man nicht nur Fleisch und Gemüse kaum mehr bekommt, sondern nun auch schon Marken für Brot und Mehl braucht. Die Freude am Krieg, falls es die je gegeben hat, kommt da leicht abhanden. Dagegen muss was getan werden, diesen defätistischen Schlendrian, darf man nicht einfach einreißen lassen.

So der Major. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ein bisschen dichten, meine Herrn, ein bisschen über den Krieg dichten. Über die Tapferkeit und das Durchhaltevermögen unserer Feldgrauen, über den auch bei taktischen Rückzügen ungebrochenen Willen zum Vormarsch. Sie haben doch Fantasie, sie müssen nicht wirklich dabei sein, ich würde sagen, das ist ein entscheidender Vorteil.

Und Sie, Rilke, werden doch auch noch was zustande bringen. Sie können das nicht? Sie würden einfache Abschreibarbeiten vorziehen? Jetzt reden Sie keinen Blödsinn, dafür haben wir Sie nicht hierhergeholt! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kollegen Werfel und Kisch, die können das ja auch.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Rezension von «Der Jahrhunderroman» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild @ Eva Schobel

Annina Haab «Dass das Wiederkommen nicht geht»

Claudia war ein Anker für mich in der Welt. Sie hatte keine andere Wahl, denn ich wusste nichts, woran ich mich sonst hätte festhalten sollen. Sie lachte laut und viel und fiel manchmal vom Stuhl davon, rappelte sich aber wieder auf und ab und zu bestellte sie im selben Atemzug ein Bier, von dem sie dann behauptete, vom ersten bis zum letzten Schluck, es schmecke scheusslich.

Claudia war lang und schön und schielte meist in sich hinein, während sie sprach. Ich dachte oft, ich könnte mitschielen, aber ich konnte es nicht. Bestimmt hatte sie irgendwo Wurzeln geschlagen, tief unten im Meer, das grün in ihren Augen schwappte, als wäre sie gewohnt unter Wasser zu sehen. Sie war die meiner Schwerkraft entgegengesetzte Energie. Und ich fürchtete den Moment, in dem ich ihr zuviel werden würde, zu nah und zu schwer als dass ihr Auftrieb für uns beide reichte. Doch sie trug mich. Lachte mich so lange aus, bis die Schwerigkeit verschwunden war und ich selber lachen konnte.

Ich wollte immer bei ihr sein, oder genauer, wollte, dass sie immer bei mir war, denn ich konnte die Kälte schlecht aushalten und Claudi sass meistens irgendwo im Freien auf einer Bank oder einer Mauer und atmete, als wolle sie die ganze Welt einsaugen, was nicht geschah. Ich hoffte es aber, hoffte, sie würde mich eines Tages mit einatmen, damit ich in ihr fortdauern und durch ihre Meeraugen sehen könnte. Ich wollte von ihr gelacht und durch die Welt getragen werden. Aber Claudia atmete mich nicht ein, behauptete überdies, dass das gar nicht möglich sei.

Eine Liebeserklärung brauchte sie nicht, denn ich lag offen da, das war Erklärung genug. Für Claudi war ich überschaubar. Ich hielt mich an ihrer Hand und versuchte, dies möglichst unauffällig zu tun, um nicht zu klammern, wenn die Wellen hoch schlugen und auch sonst. Woher sie ihre Sicherheit nahm, wusste ich nie, es schien, sie stelle einfach ihre Füsse auf den Boden und trage den Kopf auf den Schultern. Sie liess sich dabei selten etwas anmerken. Claudia stellte fest. Ich sage, wie es ist, sagte sie.
Ich liebte sie mit unbestimmter Heftigkeit, denn sie war meine Freundin. Wir stahlen zwar keine Pferde aber Gemüse, Bücher, Schlafsäcke und einmal ein Boot, mit dem wir uns auf dem See davontreiben liessen bis zum Morgen.

Und dann war sie weg. Fast kommentarlos. Sie packte ein paar Kleider in einen alten Rucksack und verreiste und mich nahm sie nicht mit. In meinem Herzen schon, sagte sie. Aber das klang mir nach Spott. Es war klar ersichtlich, dass sie mich nicht mitnahm. Aus ihren Briefen rieselte Sand und sie beschrieb mit pedantischer Genauigkeit Dünen, Klippen, Wolken und das Meer, schrieb aber nie, wo sie sich aufhielt. Ich sagte, das kann mir egal sein. Ich sagte, es ist mir egal. Ich versuchte vergeblich, sie zu vergessen, sass zuhause am Fenster und hielt Ausschau, rieb mich an der Unantastbarkeit der Landschaft ohne sie.

Ich trieb in einer uferlosen Trübsal herum und fand keine seichte Stelle, an der ich ihr hätte entsteigen können. Ich wurde abwechselnd böse und reumütig, schrie, wartete, und kotzte, während ich sie herbeisehnte. Irgendwann wusste ich, dass sie nicht wiederkommen würde, weil zu viel Zeit vergangen war, zu viel Sand und Welt gibt es an den Rändern des Meeres, warum hätte sie genau zu mir zurückkehren sollen? Ich verurteilte Claudi in absentia, ihrer Treulosigkeit wegen, und kesselte sie in der Trockenheit meines Herzens ein, dort sollte sie bleiben, beschloss ich.

Als sie plötzlich vor meiner Tür stand, wünschte ich mir, sie nicht erkennen zu können, aber es half nichts. Ich trat zur Seite und bat Claudia herein, fragte, wie es ihr gehe; und sie sagte, dass sie nicht hätte gehen müssen. Sie wolle da nicht weiter drüber reden. Also hielt ich nur ihre Hand, während sie nach draussen starrte. Der Tee wurde in ihrer Tasse kalt, immer bevor sie ihn trinken konnte, sie blies hinein, ich wusste nicht wieso. Traute mich nicht, Claudi zu fragen. Sie schaute trüb aus, zauderte und war beständig müde. Sie hatte sich in Zweifel gezogen, aber nicht wieder heraus. Sogar ich begann sie zu bezweifeln. Sie war kein Anker mehr, sondern ein Boot, in dem wir nicht beide Platz fanden, sie schlingerte auf hoher See.

Ich verstand, dass es nun an mir lag, dass ich ihr Anlaufstelle zu sein vermögen sollte, aber sonst verstand ich nichts. Ich wollte, dass sie etwas benannte. Wollte, dass es da etwas gab, etwas möglichst Grosses, das man benennen und sich danach von ihm abwenden konnte. Einfach umdrehen und davonlaufen. Etwas worauf sich Staub sammelt und das man schliesslich ganz vergisst. Aber es gab nichts. Ich hielt ausufernde Reden, um sie aufzumuntern und selbst die Stille nicht ertragen zu müssen. Manchmal lachte sie leise, als schäme sie sich, dann wollte ich weinen, aber das kam mir fehl am Platz vor. Ich hätte gern, so als wäre nichts dabei, meine Füße auf den Boden gestellt und Claudi auf meinen Schultern getragen, aber ich war zu hager und sie zu groß dafür und ich wusste nicht, wie es geht. Also ließ ich alles sein, wie es war. Claudi blieb bei mir und ich hielt ihre kühle Hand, so gut es ging, wir schauten aus dem Fenster und waren ein wenig verloren.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Rezension von «Bei den großen Vögeln» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Johanna Berger «sagnichtnichts»

sagnichtnichts von und mit Johanna Berger ist ein Gedichtefilm über die Liebe, in dem sich Menschen begegnen, verlieben, lieben, irren, trennen, verpassen, verglühen und wiederfinden. Im Zuge des ALBERTINA-Formats «Allein im Museum» visualisierte sie ausgewählte Gedichte an unterschiedlichen Orten vor und in der ALBERTINA / ALBERTINA MODERN als sich diese noch im Lockdown befand. Das Museum als Ort ist nicht immer sofort zu identifizieren. Denn nicht nur die Ausstellungsräume sind während des Lockdowns verlassen, auch viele MitarbeiterInnen arbeiten im Homeoffice. Das Museum verändert sich und wird zur Kulisse für sagnichtnichts, eine Hommage an die Liebe und die damit verbundenen Verwirrungen.  

Johanna Berger ist freie Schauspielerin und assistiert Aleksandar Acev am Max-Reinhardt-Seminar im Fach Körperliche Gestaltung. In Kooperation mit ALBERTINA (Format «Allein im Museum») visualisierte sie ausgewählte sagnichtnichts-Gedichte, führte Regie und spielte an div. Orten der ALBERTINA unterschiedliche Charaktere. Diesmal vor der Kamera.

Webseite der Autorin

Valentin Moritz «Versatzstücke»

Erste Tage

Wohne auf drei Etagen. Ausblick: Weinhang, Altstadt, Burg. Und unten ein Garten – es Gärtli. Anfangs verregnet, aber die Gesichter offen, der Empfang sehr herzlich. Ich: leicht überfordert, dankbar.
Und dann?
Wie psychedelisch die Muster der Fensterläden!
Wie elegant durchdacht die Velowege!
Und wie gsund sie alle sind, die Lütt.
Der Rhy hat Zug, man fragt sich, wieso es das Wasser so eilig hat davonzukommen. Welle um Welle brandet gegen die Kaimauer unterm Kloster Sankt Georgen, dann schnell weiter, ab Richtung Meer. Alles also im Fluss. Die Grenzen: fließend (sprachlich, kulturell). Der Besucherstrom: nicht abreißen wollend. Und das Schreiben? Eh.
Hinterm Ponti sind die schönsten Badestellen.
Auf Tinder ein Match, juhu.
Und abends, bei der Arte-Doku über den chinesischen Kingpin Xi Jinping, wird es mir ganz anders. Das kann ja noch heiter werden!
Und dann wird es heiter.
Und dann fährt ein Herr mit graumeliertem Haar vorbei, im babyblauen Cabrio, und sorgenfaltenfrei die Stirn. Und Horden. Horden von E-Biker:innen! Generalmobilmachung der Generation Gold! Schwarz-Rot-Gold vor allem, aber auch aus aller andern Damen und Herren Länder. Tagsüber. Abends dann dominieren hiesige Männergruppen das Bild. Epiphanie: Tausche Schweizerdeutsch gegen Arabisch, den ungeschwefelten Wein gegen gezuckerten Tee, und bist wie zurückversetzt in deinen Neuköllner Kiez … Einer ruft mir hinterher: Du bisch ä Spezielle! Und ich fühl mich willkommen, irgendwie. Er mag mein Haar, so rot. Ich lasse es von meinem Turm herab. Aber niemand kommt, daran hinaufzuklettern.
Bist du nicht einsam, fragt meine Mutter am Telefon.
I wo! Vor mir haben schon ganz andere Leute – berühmte – hinter diesen Mauern gehaust! Waren die etwa einsam?
Und wenn schon. Muss!
Und überhaupt: Wer hat nicht alles allein einen Turm bewohnt! Rapunzel, C. G. Jung und Donald Trump. Der Hölderlin und Otto Waalkes, Quasimodo und Petrosilius Zwackelmann. Haben die es nicht alle halbwegs weit gebracht?
Ebend.
Erschießt mich, sollte ich mir je aus Einsamkeit einen Hund zulegen!
Lieber bestelle ich ein aufblasbares Kajak.


Wenn der Wels

Jüngste Erkenntnisse zeigen: Kajak ist ein Palindrom. Packsack ein Reim in sich. Und Doppelhubhandpumpe ein schönes Wort, das reizt.
Doppelhubhandpumpe!
Odr?
Und weiter:
Doppelhubhandpumpe.
Doppelhubhandpumpenproduktion.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitung.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildung.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildungsabbrecher.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildungsabbrecherin.
Odr!
Am Wasser dann bin ich kurz ganz klein: Der Rhein meiner Kindheit, der zog dich hinab in die Tiefe oder das Treibgut dir über den Schädel, der riss dich mit sich, strudelte dich kreisend und stromabwärts bis Rheinfelden, bis zum Wasserkraftwerk, bis zu dem großen Rechen dort – wo du dich dann verfingst mit den andern Toten, aufgedunsen und bleich vor Schreck … Habe jedenfalls einen Heidenrespekt vor diesem Fluss und seiner Wucht – und dem Wels, dem Riesenwels, der in ihm wohnt und Kinder frisst. Aber ich bin kein Kind mehr.
Odr.
Also Augen zu und durch.
Aber nur mal hypothetisch: Was, wenn der Wels mich doch erwischt (o.ä.), woran wird man sich erinnern?
Was bleibt?
Was blieb etwa von meinen Vorgänger:innen? Woran erinnern sich die Gemäuer des Chretzeturms ganz konkret (auch ohne Wels im Spiel)? Namentlich verewigt hat sich einzig Najem Wali: Dort steht er geschrieben, offenbar mit einem Geldstück eingeritzt ins Dachgebälk – so frech! Ansonsten nur anonyme Überreste: zwei fast leere Tabakpackungen (Marke «Pueblo» deutschen Ursprungs), das Spielzeugauto unterm Schrank (ein «Rough Terrain Truck» made in Britain) sowie eine weiß-blau-graue Socke (Gr. 41/42, mutmaßlich die einer Frau, letztlich aber ungewiss), das war‘s. Was bleibt, sind bloß Versatzstücke, aber immerhin, doch, doch! Den Rest erzählt das Internet.
Für alle, die es handfester mögen – für die Findigen unter meinen Nachfolger:innen hier –, entdecke ich einen Stein, ja, am Rhein, und verstecke ihn im Turm, ja, im Turm.

(Die beiden Texte sein während eines Stipenidat des «Chretzeturms» in Stein am Rhein als Blogbeiträge entstanden)

Valentin Moritz, geboren 1987 und aufgewachsen in Südbaden, studierte Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Er veröffentlichte Prosa in Zeitschriften, Anthologien und kleinen Einzelpublikationen, zuletzt «Bahía Salvador» (Sukultur, Berlin). Sein erstes Buch erschien im Mai 2020 unter dem Titel «Kein Held» (Badischer Landwirtschafts-Verlag, Freiburg).

Nur weg, egal wohin! Hauptsache raus aus dem Dorf. Wie so viele junge Leute zieht es Valentin Moritz aus der Enge seiner südbadischen Heimat in die Ferne. Nach Stationen rund um den Globus landet er in Berlin. Neukölln und Niederdossenbach – dazwischen liegen Welten. Der Kontakt zur Heimat – eher sporadisch.
Das ändert sich mit dem 90. Geburtstag von Valentins Großvater Josef Mutter schlagartig: Der Alte möchte die eigene Lebensgeschichte aufschreiben und bittet seinen Enkel um Unterstützung. Und so wird der gemeinsame Blick in die Vergangenheit des Landwirts, der bäuerlichen Großfamilie und des Dorfes auch für den Enkel zum Anlass, sich wieder seiner Herkunft zuzuwenden. Wie sein Großvater begibt sich auch Valentin Moritz auf Spurensuche und zeichnet in eindrücklichen Bildern und authentischer Sprache nach, was seine Kindheit und Jugend auf dem Land ausmachte.
«Kein Held» ist bewegendes Generationenbuch über das, was uns alle prägt – von Anfang an, ob wir wollen oder nicht. Darüber hinaus ist KEIN HELD ein engagiertes Zeitzeugnis gegen Krieg und Faschismus – und für das Erinnern.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sarah Wohler

Isabella Krainer «Edith»

Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, weil diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten. 

Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.

Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.

Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich. 

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, schreibt & macht was sie will. Ihre Arbeiten pendeln zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. Die Autorin lebt in Neumarkt in der Steiermark. Aktuell arbeitet sie an ihrem ersten Roman. „Heiliger Zorn“ wurde 2021 mit einem Arbeitsstipendium des Landes Kärnten bedacht. «Vom Kaputtgehen», ihr erster Lyrikband, erschien im März 2020 im Limbus-Verlag. 2019 erhielt sie für „Vom Kaputtgehen“ das Finalisierungsstipendium literarischer Projekte des Landes Kärnten. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet.

Rezension von «Vom Kaputtgehen» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Marius Schmidt «Der leichte Mensch»

Frage 1: 

Um ihren persönlichen Hintergrund besser berücksichtigen zu können, stellen wir ihnen zuerst einige Fragen zu ihrem Elternhaus. Uns liegt als erstes Dokument eine irritierende Photographie ihrer jungen Person zusammen mit ihrer Mutter vor. Sie ist jedoch nicht zu erkennen. Wie ist es hierzu gekommen?

Frage 2:

Berichten sie, unter welchen Bedingungen diese Aufnahme entstand. Wie beurteilen sie die Rolle ihrer Eltern in dieser Situation?

Eine solche Photographie entstand tatsächlich im Oktober des Jahres 1895. Ich war damals nicht ganz ein Jahr alt – was auch der Grund ist, weshalb mir die Details hierzu nicht aus erster Hand bekannt sind. Ich erinnere lediglich, auf dem Schoß meiner Mutter gesessen und in ein erschreckend schwarzes Loch geblickt zu haben. Die Entstehungsgeschichte dieser Aufnahme zählte jedoch zum steten Repertoire meiner Mutter, wenn es gefragt war, Anekdoten über meine früheste Kindheit zum Besten zu geben. Aus diesem Grund kann ich wohl einige Fakten beisteuern. Meines Wissens hängt das nämliche Foto noch heute im Treppenhaus meiner Eltern in ihrer Villa in Ehrenfeld. 

Der Photograph trug den Namen Jakob Fürchtegott Lempke und er war, soweit mir berichtet wurde, aufgrund seiner tadellosen Arbeit recht angesehen in Köln. Deshalb wurde ihm auch die Ehre zuteil, mich als jüngstes Mitglied der Familie Orlovski porträtieren zu dürfen. 

Gemäß den Berichten meiner Mutter hatte Lempke am Tag der Aufnahme einen Assistenten namens Wilhelm bei sich. Seine Aufgabe bestand darin, die schweren Einzelteile der Kameraausrüstung aus der Kutsche hinauf in unseren Salon zu schaffen. Eine äußerst unangenehme Pflicht, wenn man Größe und Gewicht der damals gebräuchlichen Kameras bedenkt. Als er mehrere Einzelteile zugleich die Treppe zu unserem Haus hinauf und durchs Eingangsportal schleppte, entglitt ihm ein großes, eisenbeschlagenes Dreibein aus Walnussholz und hinterließ beim Aufprall auf den Dielenboden eine recht tiefe Macke, an die ich mich auch aus meiner noch folgenden Kindheit sehr gut erinnere, da meine Mutter darin wiederholt mit ihrem Absatz hängen blieb und sich beinahe den Knöchel brach. Einmal musste sie sogar einen Verband tragen, das erinnere ich. 

Im Versuch, den Sturz des Dreibeins aufzuhalten, ließ Wilhelm eine Kiste mit Porträtobjektiven fallen, die er auf der rechten Schulter balanciert hatte. Zahlreiche Linsen sprangen in Folge des Aufpralls aus ihren Fassungen und rollten über den Boden davon. Die Hälfte seiner Ausrüstung solcherart ramponiert vor sich, war Lempke gezwungen umzudenken. Er verwarf kurzerhand die geplanten klassischen Porträtaufnahmen des Kleinkindes, das ich war. Stattdessen schlug er ein breites Panorama vor, welches meine Mutter als blütenweiße, stille Felsenwand, vor der sich wiederholenden Landschaft unserer, aus Paris importierten Mustertapete zeigen sollte. In der Mitte ich, gelöst wie ein Bergsteiger im Moment einer kurzen Rast, den Ausblick betrachtend. 

Die Decke, in die meine Mutter eingeschlagen wurde, hatte uns der damalige deutsche Kaiser Wilhelm II. anlässlich des vergangenen Weihnachtsfestes überbringen lassen. Als bedeutende Ausstatter des Deutschen Heeres waren meine Eltern schon damals Persönlichkeiten der Gesellschaft. Die Kaisertreue meiner Eltern war mir wohl vererbt worden, denn ich schlief umgehend ein im, mit royalen Falten überzogenen, Schoß meiner Mutter. Sie wissen wahrscheinlich, wie man meinen Vater nannte? – Den Schraubenfürst von Köln. 

Frage 3: 

Ihre Eltern spielen in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle. Gibt es andere Menschen, die in jungen Jahren eine Bezugsperson darstellten?

Ich hatte damals einen Onkel, er hieß Albert. Wir waren oft bei ihm zu Gast – besonders im Sommer. Denn er hatte einen sehr schönen Garten, nicht ganz eine Stunde von unserem Haus entfernt, am Rhein. Dort habe ich sehr glückliche Stunden mit seinem Hund Zeus verbringen dürfen, einem ausgesprochen treuen und genügsamen Golden Retriever. Ich würde noch heute behaupten, dass er mein liebster Freund zu dieser Zeit war und bis heute geblieben ist. 

Die größte Freude kam auf, wenn uns erlaubt wurde zu zweit und fernab der Erwachsenen am Flussufer zu spielen. Dann postierten wir meine große Sammlung französischer Zinnsoldaten entlang des kurzen Strandes und schmuggelten anschließend in der Rolle preußischer Kuriere kleine Leckereien wie Himbeeren oder Kekse an den feindlichen Linien vorbei an Land. 

Solcherart erfolgreich im Transportieren von Kleingut sah ich uns beide einen eigenen Kurierdienst eröffnen. Ich habe meinen Eltern einige Male den Wunsch unterbreitet, nach der Schulzeit Lieferjunge werden zu dürfen. Jedes Mal verpasste mir mein Vater daraufhin eine schallende Ohrfeige. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich irgendwann von meinen beruflichen Zielen absah. Darüber hinaus muss ich gestehen, recht unkonkrete – um nicht sagen zu müssen: gar keine Vorstellungen meiner Zukunft gehabt zu haben. Lediglich ein ganz natürlich wirkendes Gefühl, dass mein eigenes Leben rein gar nichts mit den Erfahrungen, Errungenschaften und Erwartungen meiner Eltern zu tun haben sollte. Das hatte ich wohl schon sehr früh. 

Frage 4: 

In unseren Unterlagen können wir keinen Onkel Albert finden. Wie verhält es sich mit dieser Personalie?

In der Tat war Albert Jankowski kein Onkel im familiären Sinne. Er war ein enger und langjähriger Freund meines Vaters Oskar aus jener Zeit, als er noch nicht als Schraubenfürst gefürchtet war, sondern eben gerade einen kleinen, hochverschuldeten Eisenwarenladen in der Kölner Innenstadt geerbt hatte. 

Mein Großvater hatte dieses Geschäft um das Jahr 1863 gegründet und man konnte dort alles Erdenkliche kaufen, was aus Metall gefertigt wurde. Großvater Orlovski verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in diesem Geschäft. Wenn meine Eltern sich seiner in meiner Gegenwart erinnerten, dann erzählten sie stehts wie er in der Mitte seines Ladens stand – eine schwere, dunkelblaue Lederschürze übergeworfen – und grollte, dass ihm die Deutschen doch endlich bessere Kunden werden sollten. Seine Anklage verhallte jedoch zwischen all den Nägeln, Suppenkellen, Axtköpfen und Rohren. Der Familienbetrieb war in schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis, als mein Vater schließlich seine Nachfolge antrat. Die innerstädtische Konkurrenz im Kölner Eisenwareneinzelhandel war zu jener Zeit ausgesprochen stark. Es war ihm zwar möglich uns von den dürftigen Einnahmen zu ernähren, immer öfter jedoch konnte er die Ladenmiete nicht aufbringen. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss. Später erfuhr ich, dass aus dieser Zeit jener Revolver stammte, den er in seiner Schublade aufbewahrte, in ein violettes Tuch eingeschlagen und mit fünf Messingpatronen bestückt. Einige Male holte ich ihn später heraus, um ihn anderen Knaben zu zeigen, die uns besuchten. 

Der Zufall wollte es, dass eben jenes Haus, in dem sich der Betrieb unserer Familie seit Jahrzehnten befand, in den Besitz von Albert Jankowski überging. Ihm war dieses Wohnhaus von seinem Schwiegervater im Zuge seiner Eheschließung mit Johanna- Luise Buttermann – einer Kölner Bankierstochter – anvertraut worden. Als Sicherheit für das junge Paar. Albert sah sich damals in einer verzwickten Situation, die so gar nicht zu seinen politischen Überzeugungen passen wollte. Er selbst war seit einiger Zeit beseelt von der Vorstellung internationaler Solidarität und bemerkte zunehmend einen Widerspruch zwischen seiner eigenen Tätigkeit als Angestellter des Bankhauses Buttermann und jenen frischen Ideen, die seinerzeit Kapital und Gesellschaft miteinander zu versöhnen suchten. 

Er trug stets einschlägig bekannte und berüchtigte Schriften in seiner Aktentasche mit sich herum und verbarg sie zwischen Butterbrotdose und zahlreichen Papieren vor den Ordnungshütern und seinem Schwiegervater, dem er in dieser Sache nicht allzu viel Vertrauen schenkte. 

So akkumulierte Albert im Stillen Vorwürfe und moralische Fragen, für die er zunehmend verzweifelt ein Ventil suchte. Als er von Oskar Orlovskis misslicher Lage erfuhr, fiel all die Grübelei auf einen Schlag von ihm ab und freudig begann er ein Exempel zu statuieren: Kurzerhand erließ er Oskar – zum großen Ärger der Buttermanns – die ausstehenden Mieten und befreite ihn zusätzlich von jeglichen zukünftigen Zahlungsverpflichtungen solange, bis der Betrieb ein ordentliches Auskommen versprechen ließe. 

Um mich kurz zu fassen: Die neuen Umstände und die sich ihm bietende Gelegenheit messerscharf erfassend, stürzte sich mein Vater in einen ruinösen Preiskampf mit der Kölner Eisenwarenbranche. Im Zuge dieses, später als „Kölner Schraubenschwemme“ bezeichneten, Feldzugs, war es meinem Vater am Ende des Jahres 1898 gelungen, einen Großteil seiner Konkurrenten im Innenstadtbereich in den Bankrott zu drängen und den örtlichen Handel mit Eisenkleinwaren unter seine ausschließliche und alleinige Kontrolle zu bringen. 

Diese Geschichte vom Aufstieg der Familie Orlovski erzählt man sich noch heute, freilich in verschiedenen Variationen – je nachdem, welche der damals beteiligten Parteien man fragt. Wie Sie sich denken können, habe ich aufgrund dieser Vorgänge so manches Mal Prügel bezogen oder Schlimmeres angedroht bekommen, wenn ich als Knabe durch die Stadt marschierte um Besorgungen für meine Eltern zu erledigen oder Freunde zu besuchen. 

Ich kann nicht sagen, ob mir am Ende ein erfüllteres oder leichteres Leben vergönnt gewesen wäre, wenn mein Vater nicht zum größten Lieferanten für Bolzen und Nieten Preußens aufgestiegen wäre. Diese Fragen betrachte ich als müßig. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Erfahrungen tiefster Feindschaft bereits in meiner frühesten Kindheit Prägungen in meinem Wesen hinterlassen haben. Auch in späteren Jahren, als ich jeden Grund gehabt hätte einen Stolz auf meine Arbeit zu entwickeln, spürte ich diese Eindrücke als schwersten Ballast, so dass es mir vorkam, als würde mir, immerzu wenn ich mich voller Stolz aufblähen wollte, ein eiserner Ring um die Brust gelegt, der mir nicht nur die Luft nahm, sondern auch meine Schultern, mein Haupt und mein ganzes Sein tiefer und tiefer zog. 

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Das Buch «Der leichte Mensch «erzählt die Erlebnisse des jungen deutschen Chemikers Otto vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Er erlebt den Krieg nicht als Soldat an der Front, sondern als Teil einer sich stark verändernden und technisierenden Rüstungsindustrie. An diesen historischen Hintergrund knüpft die Geschichte eine phantastische Idee: Im Zuge seiner Forschungen für die deutsche Luftwaffe entdeckt der junge Mann die Chemikalie „Helitamin“, mit der Menschen fliegen können. Diese Entdeckung scheint Chancen und Möglichkeiten für ihn selbst, aber auch für das kollabierende Kaiserreich bereitzuhalten. Doch der passive und kontaktscheue Chemiker steht seiner Entdeckung eher ratlos gegenüber – im Gegensatz zu seinem agitatorischen, völkisch-nationalen Vorgesetzten Dr. Strohbrück.

All dies erfährt der Leser im Frage-Antwort Rhythmus eines schriftlichen Dialogs. Otto reflektiert sein Verhalten anhand einer Reihe, von einer höheren Instanz gestellter Fragen, die ihn immer wieder zum Rückblick und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit anhalten.
Das Buch ist über die Webseite des Autors zu beziehen.

Marius Schmidt lebt in Berlin, wo er Bildende Kunst studiert hat. Seither schreibt und produziert Marius Schmidt Geschichten, die Bilder und Texte miteinander zu neuen Erzählformaten kombinieren.

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