Michael Hugentobler «Der alte Mann im Nebel»

Ein niederer Beamter der argentinischen Grenzbehörde absolvierte im Dezember 1945 seinen ersten Arbeitstag in Ushuaia, als die SS Lugano anlegte, ein Passagierschiff aus Genua. So wird es erzählt. Der Grenzbeamte sah einen kahlen alten Mann, der das Schiff als erster verliess, wie er die Zugangsbrücke herunter kam, mit der Körperhaltung eines Greises und dem Schritttempo eines Läufers.
Während des Krieges hatte der Beamte am Hafen von Buenos Aires die Flut von Migranten bewältigt, die vor dem flammenden Europa geflüchtet waren. Er war es sich gewöhnt, in wirre Augen zu schauen und seltsame Antworten zu bekommen, und so dachte er sich nun wenig dabei, als er auf die Frage, was der alte Mann hier am Ende der Welt zu finden hoffe, zu hören bekam: „Das Paradies!“
Ein jüngerer Grenzbeamter mit weniger Erfahrung hätte vielleicht seinen Vorgesetzten gerufen und die Vermutung geäussert, bei diesem Herrn könnte es sich um einen Fall für zusätzliche Abklärungen handeln – allein die Tatsache, dass der Alte ausser einer zerschrundenen Ledertasche kein Gepäck hatte, dass er in unglaublicher Eile zu sein schien, und dass seine rechte Hand eine einzige Eiterbeule war, eine grotesk deformierte Keule so dick wie ein Oberschenkel, umwickelt mit einer fleckigen Mullbinde, aus der eine gallertartige Masse tropfte, gelb wie Quittengelee – aber auch dann wäre der Herr wohl früher oder später durchgewinkt worden, da es von dieser Sorte nun mal ziemlich viele gab. Zudem erschien dem Grenzbeamten die Aussage, hier liege das Paradies, keineswegs verfehlt, hatte er doch die vergangenen zwei Wochen vor seinem Arbeitsantritt auf langen Wanderungen die Kiefernwälder bewundert, die von türkisfarbenen Bächen durchschnitten wurden und sich ab der stoische Ruhe der Bewohner erfreut, die nur sprachen, wenn es wirklich etwas zu sagen gab.
Dennoch, aus reiner Neugierde, entschied sich der Grenzbeamte dazu, den Alten etwas näher auszufragen: Was es denn mit dem vermeintlichen Paradies auf sich habe?
Er kenne, sagte der Mann, diesen Flecken Erde wie seine eigene Hosentasche, das Wiegen der Scheinkiefern im Wind, den Ruf des Guanakos in der Nacht, den Geruch der Mähnenrobbe und des Seebären und des Otters, das Geräusch des Stachelbeerbusches in der klirrenden Kälte, er sei hier sozusagen zum Mann herangewachsen. Und dann tippte er mit dem ausgestreckten Zeigefinger Bergspitzen ab und sprach Namen aus, allerdings in einer Sprache, die der Grenzbeamte nicht verstand.
So kam es, dass das Visum dieses alten Deutschen im Bruchteil einer Sekunde abgestempelt wurde. Anschliessend zog der Grenzbeamte den Reissverschluss der abgewetzten Rindsledertasche zurück und fand dort einen lila Stofffetzen, von dem er im ersten Moment dachte, es sei ein alter Putzlappen. Dann aber fielen ihm die verblassten Drucke der rosaroten Chrysanthemen auf, und die ausgefransten türkisfarbenen Kontrastpaspeln am Revers, und er fragte den Deutschen, was das denn sei, und der Mann murmelte etwas von einem Pyjama und etwas von einer verstorbenen Ehefrau.
Peinlich berührt winkte der Grenzbeamte den Deutschen durch, anschliessend prüfte er die Papiere eines einarmigen Schafhirten, eines blinden Schuhmachers, und schliesslich einer Familie aus Hamburg, die ihm etwas suspekt vorkam, zumal diese Leute normalerweise per Flugzeug ins Land kamen. Zwei Mädchen mit blonden Zöpfen lächelten. Der Mann sagte, er sei Steuerverwalter, was der argentinische Beamte sofort glaubte, die Frau sagte, sie sei Hausfrau, was der Beamte ebenfalls glaubte, und dann blätterte er durch die ganzen Empfehlungsschreiben aus der Schweiz, fragte sich kurz, wozu ein deutscher Steuerverwalter solche Dokumente brauche, prüfte dann eingehend die Stempel und die Siegel und musste schliesslich einsehen, dass sich sämtliche Fragen erübrigten.
Nach der biederen Familie aber kam ihm plötzlich nochmals der alte Deutsche mit der triefenden Hand in den Sinn, er schüttelte den Kopf, zog den Rollo vor seinem Schalter, bückte sich und entnahm der Tasche zwischen seinen Füssen ein Wachspapier und eine Thermoskanne. Er wickelte eine Empanada aus dem Papier, goss sich eine Tasse Kaffee ein und verliess das Gebäude durch den Hinterausgang.
Es war ein ausgesprochen nasser und kalter Dezember, und obschon dies der südamerikanische Sommer war, war das Thermometer tagsüber nie auf über sechs bis sieben Grad geklettert, und in zwei Nächten hatte es geschneit. Der Beamte schlüpfte in seine Drillichjacke, ging um das Gebäude herum, setzte sich an der Vorderseite auf eine Bank, nippte an der dampfenden Tasse, zerbiss die knusprig gebackene Kruste der Empanada und schmeckte auf der Zunge salziges Fleisch und Kreuzkümmel. Vorne auf der Strasse sah er den alten Deutschen, in seinem zerschlissenen Gelehrtenjackett, seinen ausgefransten Bundfaltenhosen, seinen flappenden Schuhen, wie er im Laufschritt an den Barackenhäusern mit ihren Wellblechdächern vorbeiging, weiter den Hügel hoch, am Gefängnis vorbei, das wie eine Spinne mit ausgestreckten Beinen dalag.
Der Deutsche hatte den Rand der Siedlung hinter sich gelassen, als sich die Wolken am Himmel zu Türmen ballten, bald würde er die Wälder erreichen, die sich bis zum Fuss der Berge hinziehen, und die nun mit Schnee bedeckt waren, und dahinter würde sehr lange nichts mehr kommen, keine Siedlung, keine Farm, rein gar nichts ausser Wildnis, und vermutlich würde der Deutsche bald einen Wintermantel brauchen, respektive eine ganze Ausrüstung zum Überleben in der unberechenbaren Natur, Handschuhe, Stiefel, wollene Unterwäsche, Fellmütze, viele Dinge, von denen er kein einziges besass.
Der Grenzbeamte nahm das Fernglas hervor, das er am Gurt trug, und nun sah er den Mann, als stünde er nur wenige Meter hinter ihm. Er sah den kahlen Kopf und den faltigen Nacken, er sah die losen Nähte des Jacketts und den von Schweiss verfärbten Hemdkragen. Und er sah eine Wand aus Nebel und Schnee, die herannahte.
In diesem Moment drehte sich der alte Deutsche ganz langsam um. Eine Atemwolke drang aus seinem Mund und verflüchtigte sich sofort in der eisigen Luft. Er schien nicht zu bemerken, dass er beobachtet wurde, oder vielleicht kümmerte es ihn auch nicht, er richtete einen tränenden Blick auf einen unsichtbaren Punkt, auf diese oder jene Bergspitze, oder vielleicht auch auf eine Wolke. Dann schloss er die Augen, die Züge vollkommen entspannt, wie ein Mönch, versunken in einen Zustand der Ruhe und des Friedens.
Der Beamte würde an diesem Abend in seinen Tagesrapport schreiben, es sei ihm unerklärlich, wie eine derart verwahrloste Erscheinung ein solch unbeschreibliches Glück ausstrahlen könne, der Krieg möge dazu beigetragen haben, oder vielleicht sei der Mann auch schlicht und einfach verrückt gewesen.
Im nächsten Moment wurde der alte Deutsche von einem weissen Schleier geschluckt.
So wird es erzählt, in der patagonischen Nacht, wenn der Wind aus unerklärlichen Gründen zu pfeifen beginnt, und dieser Wind etwas sagen will, vielleicht sagt er sogar etwas, aber man versteht es nicht, oder will es nicht verstehen. Der argentinische Grenzbeamte legte sein Fernglas nieder, griff zu seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Ein Schauder durchzuckte ihn, vielleicht war der Kaffee kalt geworden. Er ging zurück ins Haus, setzte sich auf seinen Hocker und liess den Rollo hochschnellen.
Er hatte einen Menschen sterben gesehen. Aber das wusste er nicht. Nein, er wusste es nicht.

Michael Hugentoblers neuer Roman «Feuerland» erscheint bei dtv Ende März 2021: Thomas Bridges wächst als Ziehsohn eines britischen Missionars am südlichen Ende Südamerikas auf, unter den Kindern der Yamana. Fasziniert von der reichen Welt und Sprache dieses Volkes, beginnt er, obsessiv ihre Wörter aufzuschreiben. Diese wertvolle Sammlung, sein Buch, wird ihm Jahrzehnte später gestohlen und fällt dem deutschen Völkerkundler Ferdinand Hestermann in die Hände. Hestermann spürt, dass er es mit einem einmaligen Schatz zu tun hat. Er verschreibt ihm sein Leben. Als in den 1930er Jahren die Nationalsozialisten beginnen, Bibliotheken zu plündern, begibt er sich auf eine gefährliche Reise, um das Buch in Sicherheit zu bringen.

Im September 2021 ist der Autor Gast im Literaturhaus Thurgau.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» (2018) ist sein erster Roman.

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Beitragsbild © Dominic Nahr

Michael Stavarič «Gretchen»

Gleichwohl mich mit dem Fräulein Gretchen neuerdings wieder gelegentliche und im sommerlichen, ja sommerlichst sich gebärdenden Gastgarten vor sich hinplätschernde Gesprächsfetzlein verbanden, konnte dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich keinerlei wie auch immer beschaffenen Boden gegenüber anderen herausgeputzten, geschniegelten und -striegelten Stammgästen gewann, im folgenschwereren, ja substanzielleren Sinne schien ich keinesfalls dazu erkoren, mich in Fräulein Gretchens Gunst über ein Mindestmaß an kalkulierten, einstudierten Höflichkeiten und sachtem, wenn nicht gar sachtestem Schultergeklopfe hinauszubewegen, wie wohl ich eine jede sich bietende Gelegenheit, freilich ohne den damit verbundenen Aufdringlichkeiten und Schlüpfrigkeiten, denen man als Mann in solcherart Situation leicht anheim zu fallen drohen könnte, zu ergreifen wusste, welche mein ungezügeltes Bestreben, dem Fräulein Gretchen in empfindsamer und gewiss doch amikalerer Weise näher zu sein, zu befördern vermocht hätte, und welches zu befördern ich mich insgesamt äußerst entschlossen zeigte, etwa im wiederholten Erwerb gelegentlicher Lottoscheine, Rubbellose und ähnlichen Strohhalmen, gar der ordinären Teilnahme an allerlei zum gewichtigen Teil mehr denn peinlichen Preisausschreiben, welche mich in die Position versetzen sollten, meine angespannte, pekunäre Lage zu stabilisieren, um dem Fräulein Gretchen ein obligatorisches Mindestmaß an Prunk und Komfort bei etwaigen mir vorschwebenden Unternehmungen anzudienen,

sie etwa zu einem mehrgängingen und -stündigen Essen in ein deliziöses Haubenlokal auszuführen, sie zu einer Landpartie oder entsprechend gelagerten Aktivitäten einzuladen, insbesondere nach ihrer unglücklich, gewiss unglücklichst verlaufenen Bindung und Scheidung vom vermeintlichen Traummanne, ein Umstand, der meine demütigen und zarten Avancen ohnedies für geraume Weile im Keim erstickte, freilich meine ich damit nicht etwa die überstürzte Trennung der einstigen Turteltäubchen, die mich aus einer ohnedies von Hinder- und unliebsamen bis unliebsamsten Vorkommnissen gepflasterten Bahn warf, selbstredend beziehe ich mich auf das vorschnelle, Hals über Kopf um- und mir in der Gaststätte vorgesetzte Heiratsgeplänkel, welches seinerzeit meinen fragilen Geist, diesen in pechschwarze und pechschwärzteste Löcher einer plötzlich über mir einstürzenden Gegenwart versenkend und ihn in Höllenglut ertränkend und schwenkend, regelrecht überrollte,

und doch ging es selbst nach einem solchen Lebensab-, ja eigentlich denkbar unerquicklichsten –einschnitt weiter, das Fräulein Gretchen tauchte, nachdem sie gut zwei Jahre von der Bildfläche verschwunden blieb, eines heiteren Tages erneut in meinem mir durch die überhastete Vermählung fortan durchwegs vergrämten, ja geradezu vergällten Stammlokal auf, nunmehr vom ehelichen Hafen und den damit verbundenen Pflichterfüllungslosungen losgeeist, allmählich und sukzessive  gesündere, ihr zuträglichere Gesichtsfarbe gewinnend oder sich zulegend, und unsere gelegentlichen Unterredungen nahmen nochmalig Fahrt auf, das Bier mundete mir tatsächlich auch wieder besser, wie wohl ich nicht hätte behaupten können, in jener schmählichen Unzeit, in der sich das Fräulein Gretchen verschwunden zeigte, weniger Alkohol konsumiert zu haben, doch trat ich meinen ungebrochen geregelten Gang in die Gastwirtschaft nunmehr abermals zügiger und leichteren Schrittes an, eines im Wesentlichen nicht unverdienten Tages sogar mit einem gewonnenen Preisausschreiben in der Hand wedelnd, einen luxuriöseren, dreitägigen Aufenthalt in einer Suite für zwei Personen in Hallstatt am gleichnamigen See im Hotel Grüner Baum hätte ich eingeheimst, es stand dort schwarz auf weiss protokolliert,

woraufhin ich das Fräulein Gretchen bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit hierzu invitierte, freilich unentwegt beteuernd, ja nahezu beeidigend, dass sie im Falle einer Zusage als Reisebegleitung selbstredend ein ganzes Gemach für sich allein zur Verfügung gestellt bekäme, ich selbst würde in besagter Suite schon noch ein Sofa oder anschmiegsames Kanapee auffinden, im geräumigen Vor- oder, wie bei begüterten, ja betuchtesten Gästen in solchen Etablissements üblich, Empfangsraum zweifelsohne, zur Not gäbe es gewiss auch zwei, drei schaumstoffgepolsterte und wohlparfümierte Liegen am Balkon, ich schliefe überaus gerne an der frischen Luft und wüsste auch sonst niemanden, den ich zu einer solchen Ausflugsfahrt und Sommerfrische hätte mitnehmen können, ich versicherte dies glaubhaft und in aller Ausführlichkeit, und bevor ich zu weiteren, noch umfangreicheren Schilderungen, An- und Lobpreisungen der Vorzüge jener noblen, grünbäumlichen Residenz und des unleugbar weltmännischen Aufenthaltes in Hallstat ansetzte, erwiderte sie freudig schnurrend, dass sie schon immer einmal die dortige, historisch unersetzliche Altstadt samt Beinhaus hatte auf- und besuchen wollen, und sie sich recht problemlos ein paar Tage in der Gastwirtschaft freinehmen könne, sofern ich dies nicht überall herumposaune, darüberhinaus sei sie sich gewiss, dass ich durchaus ein zwar legerer, allerdings restlos Gentleman sei, meine hervorquellende Belesenheit und grundsätzliche Pfiffigkeit käme ja nicht von ungefähr … was ich alles nicht mehr so im Detail wahrnahm, wo ich doch bereits in einer sich selten genug einstellenden Glückseligkeit schwelgte, meinen oft genug von widrigen und widrigsten Lebensumständen gepeinigten Geist darin tauchte, ich und das Fräulein Gretchen als künftige Reisegesellschaft, es war nicht auszudenken und demnach den vermaledeiten Preisausschreibungsfirlefanz und Lottoschwachsinn wert gewesen,

gleichwohl ich dieses spielsüchtige Verhalten bereits wochenlang stark in Zweifel gezogen und auf den auschweifenderen Alkoholkonsum zurückgeführt hatte, ich meine, als ob ich je vom Glück verfolgt oder sonstwie bevorzugt gewesen wäre, nichts und niemand hatte mir zeitlebens je etwas geschenkt, noch hatte ich jemals etwas Nennenswerteres gewonnen (einmal einen Kanarienvogel bei einer drittklassigen Tombola), vielmehr war ich misstrauisch beäugt und aufs Widerlichstwidrigste angemotzt worden, beinahe schien es mir wie von Sara Baume in ihrem Büchlein Die kleinsten, stillsten Dinge beschrieben, denn wo immer ich auch ging und stand, dort war es für gewöhnlich so, als würde ich gar nicht recht existieren, als befände ich mich auf der Oberfläche eines nur von Staub- und Giftmikroben bevölkerten Trabanten irgendeines vollkommen in Vergessenheit geratenen Planeten, 

nicht einmal einen Raum-, vielmehr einen sterilen, antiseptischen Asbestanzug trug ich vorneweg, der mich in hinterhältiger und hinterhältigster Art und Weise vom übrigen Kosmos absendierte, der perfide, ja perfidest verbarg und ausdrücklichst negierte, was für eine liebenswerte Existenz ich an der Seite der richtigen Frau, ja in irgendeiner mir gewogener Umgebung, hätte sein können, anstatt mein unnützes, desperates Dasein in einem hermetischen Asbestanzug fristen zu müssen, welchen ich, wenn ich stampfend, schwankend und mit den Armen rudernd meinen Weg voranging, selbst nicht mehr gewahrte und mich wunderte, dass selbst gestandene Männer mit dichten Bärten und noch dickeren Bäuchen lieber in den Rinnstein auswichen, ihr Schuhwerk freiwillig in das dort nach Regengüssen lang sich sammelnde und noch länger stehende Schmutzwasser tunkten, ich meine, alles war den Menschen augenscheinlich lieber, als von mir und meinem Asbestanzug gestreift zu werden, und wer wollte und sollte es ihnen jemals verdenken, ein Phantom blieb ich durch und durch,

selbst wenn ich mich im diskontesten aller Supermärkte in eine Kassenschlange reihte, drückte die Kassiererin, wie auf direktem Befehl aus einer mir nicht einsehbaren Schalt- und Waltzentrale, auf die neben sich plötzlich übellaunig aufblinkende Klingel und verschwand zur Toilette, und selbst wenn ich mich an einem mickrigen, ja mickrigsten Spielplatz vorbeischleppte, gab es fast immer eine entrüstet ihre porzellanigen Nasenlöcher aufblähende Mutter oder irgendein pickelgesichtiges, zeterndes Au-Pair-Mädchen, das sich meine Visage einzuprägen versuchte, und säße ich erst im Automobil, sie würde sich das Kennzeichen aufnotieren, um mich bei der nächstbesten Gelegenheit einer zuständigen Behörde zu melden, und selbst wenn ich irgendwo über das Wasser schreiten oder ein noch größeres, wahrlich verfickteres Wunder vollbrächte, etwas mit Blitzen und Graupel zum Beispiel, würde man sich nicht die Zeit nehmen, mich auch nur zum belanglosesten Bewerbungsgespräch, etwa bei den innerstädtischen Wasser- und Elektrizitätswerken, einzuladen, selbst wenn ich, mit solchen und ähnlichen Gaben gesegnet, wahre Wunder an der Menschheit hätte vollbringen können,

und nun also die herandräuende Sommerfrische, ein kleines, feines, keinesfalls unverdientes Glück allemal, jedenfalls, die vor uns liegende Reise nach Hallstatt dürfte durchaus eine Kehrtwende in meinem Leben darstellen, gewiss eine spektakuläre, wenn nicht gar spektakulärste Abwechslung seit langem, ein mir mithin fremd gewordenes, beschwingtes Amüsement, freilich in allem gebotenen und vorab ausführlich definierten Rahmen, als wäre der unabkömmlich scheinende Asbestanzug schlagartig von mir abgefallen, als lägen die Fechtmasken, die sei je her mein Gesicht verdeckten, nunmehr am Boden, als zeigten sich die Fliegengitter vor meinen Facettenaugen von einem lichten Hoffnungsschimmer aufgeschlitzt und alle Fliegen, welche dahinter ihr Dasein hatten fristen müssen, schwärmten aus, dahin, in die luftigen, sorglosen Weiten meiner sich entfaltenden Wahrnehmung,

gleichwohl wir zunächst in einem restlos überfüllten Großraumwagen der österreichischen Bundesbahnen vergeblich nach einer Sitznische Ausschau hielten, welche sich unserer verschwitzter Häupter hätte annehmen können, und selbiges procedere nach der Ankunft am unscheinbaren, ja unscheinbarsten Bahnhof Hallstatt, der freilich selbst in Anbetracht des unfassbaren Gedränges ausreichend Lücken zwischen den ausströmenden Menschenmassen zuließ, vornehmlich eine Klientel  asiatischer Herkunft wohlgemerkt, die sich beflissentlich einen recht schmalen Pflasterpfad abwärts zum Seeufer wälzte, zu einer dort von Mückenschwärmen eingekesselten und geduldig vor Anker liegenden Fähranbindung, sodass uns in jenem Moment kaum anderes verblieb, als mit diesem Strome mitzuschwimmen, um sogleich in einer gut hundert Meter langen Warteschlange anzustehen, deren oberstes Ziel es zu sein schien, denkbarst schnell auf das Deck des tatsächlich viel zu klein wirkenden Fährgefährts zu gelangen, dessen hehre Aufgabe es sein würde, uns Passagiere, mittlerweile von starker Sonneneinstrahlung in Mitleidenschaft gezogen, überzusetzen, also ins selige, ja seligst wirkende Hallstatt zu transportieren, wohlgemerkt nach einer kurzweiligen Seequerung, die sich bald im wahrsten Sinne des Wortes als schändliche, ja schändlichste Sardinenfahrt entpuppte, 

es ergo auch niemanden sonderlich zu verwundern brauchte, dass zwei der gefühlt achthunderneununddreissig asiatischen Mitmenschen an Bord (jener auf Hallstatt getauften Nusschale), welche ich in keinster Weise einer bestimmten Nationalität hätte zuordnen können, in all dem frenetischen Geschiebe und fanatischen Pre-View-Hallstatt-Gewimmele plötzlich ins blaugrüne Wasser abplumpsten, markerschütternd und entrüstet kreischend, radebrechend sich erzürnend, und wohl auch in mir unbekannten Landessprachen fluchend, ich meine, ausdrücklichst fluchend, wie man uns später seitens des kundigen Bordpersonals zuraunte, uns, mir und dem Fräulein Gretchen, den einzigen augenscheinlich weißhäutigen Daseinsformen am Schiffe, denen das Wort aufpudeln ein Begriff sein könnte, welches nämlich zuvor noch der Hallstätter Kapitän (samt beider Leichtmatrosen) in den Mund genommen hatte, di solln si net so aufpudeln, is jo nix gscheng, 

was im Übrigen als Zwischenfall tatsächlich kaum einen der anderen Reisegäste davon abhielt, diverse technische Gerätschaften zu zücken und diese auf die Silhouette von Hallstatt auszurichten, klickende Fotoapparate und surrende Filmwürfel vornehmlich, doch selbst Drohnenexemplare wurden aus diversen Markentäschchen und –köfferchen unverzagt von der Leine gelassen, welche fortan wie hummelbäuchige Flugknäuel vom Schiff aus auf Hallstatt zupreschten, um ihren jeweiligen Eigentümern die exklusivsten Luftbilder und Luftblickwinkel auf das altehrwürdige Stadtgemäuer zu gewähren, wohingegen die angenervte Mannschaft, die beiden Unglücksraben inzwischen aus den Fluten bergend, ihre Berufswahl spontan in Frage stellte, nichts desto trotz einen Mann mittleren Alters und eine jüngere Frau erretend, welche die überhandgenommene und munter drauf los grassierende Teilnahmslosigkeit der anderen Mitreisenden nicht fassen und darob nur die Köpfe schütteln konnten, man verfrachtete sie auch lieber unverzüglich unter Deck, flösste ihnen aus einer ausgebeulten, wenn nicht gar der ausgebeultesten Thermoskanne, die ich je gesehen hatte, etwas Flüssigkeit ein, und setzte die Fahrt alsdann fort, nicht ohne via blechernst knisternder Bordlautsprecher endlich darauf zu bestehen, dass das Aussetzen und die Inbetriebnahme von Drohnenluftvehikeln vor, in und über Hallstatt unter Strafe und behördlich verboten sei, 

was freilich niemanden weiter zu bekümmern schien, mag auch sein, der im breiteren, salzkammergutschen Dialekt vorgetragene und in ein holpriges, ja holprigstes Englisch übertragene Appell blieb zum Leidwesen der sich echauffierenden, nautischen Verantwortlichen unverständlich, womit die gut fünfzehn gestarteten Quadrocopter erst nach dem Anlegemanöver und beim allmählichen Verlassen des Schiffes wieder zur Landung genötigt werden konnten, all dies freilich bereits unmittelbar vor der Hallstätter Promenade mit ihren altehrwürdigen Kirchtürmen, was das Fräulein Gretchen kurzum darüber mutmaßen ließ, ob wir nicht bei unserem Aufenthalt ein vermehrtes Augenmerk auf diverse Flugroboter richten sollten, nicht, dass uns eines dieser Ungetüme noch auf die Köpfe stürze, nicht, dass dieses auch den hübschen Postkartenhimmel mit sich reisse, fügte ich augenzwinkernd hinzu, allemal schien jedoch vieles darauf hinzudeuten, die Augen offen zu halten,

was wir auch nach dem Bezug unserer Zimmersuite im lieblichen, ja durchaus lieblichsten Hotel Grüner Baum beherzigen sollten, wohlgemerkt nach einer äußerst harmonisch verlaufenen Zimmeraufteilung vor Ort, das Fräulein Gretchen logierte im lichtdurchfluteten Balkongemach in einem großflächigen Doppelbett, ich wiederum bettete mein Haupt gut situiert auf ein äußerst formidables und sich tatsächlich gut in die weiteren Räumlichkeiten einfügendes Kannapee im Foyer, einem entspannten Miteinander stand sogesehen nichts im Wege, und wir zogen unmittelbarst wieder los, um uns die holprigen Gassen und Gässchen des pittoresken, wenn nicht gar pittoreskesten Städchens des Salzkammergutes zu erschließen, das Fräulein Gretchen erstrahlte merklich über das ganze Gesicht und verfiel allmählich in eine mir bis dato bei ihr unbekannte, wildfremdeste Urlaubsstimmung, derer ich im üblichen Biotop des Gaststättengastgartens freilich nie gewahr geworden war, und dies auch schwerlich jemals werden würde,

frei nach den Schriften Michael Ondaatjes in seinem mir nur ansatzweise geläufigen Werk Kriegslicht, wonach ein Fisch, der sich im Schatten tarne, nicht mehr ein Fisch, vielmehr bloß ein Teil einer Landschaft sei, was allerdings auch linkisch-triste Gedankengänge in meinen Ganglien auf den Plan rief, welchen zufolge das Fräulein Gretchen in der mir wohlvertrauten Gaststätte gleichermaßen kein eigentliches Individuum darstelle (und auch nie dargestellt hatte), vielmehr handele es sich dort bei ihr um eine Art gegenständliches Interieur einer interaktiven Bewirtungsmaschinerie, deren Tarnung als Servierkraft eine zutiefst verfluchte Existenz kaschiere, welche ich bislang so nicht zu be- und greifen gewusst hatte, wo ich mich doch, wie die anderen in ihrer Wahrnehmung eingeschränkten und limitierten Schnapsbrüder, vornehmlich mit mir und meinen Eigenheiten auseinandersetzte, in vom unmäßigen Alkoholkonsum eingetrübten Landschaften wandelte und solche in einen unübersichtlich werdenden Makrokosmos zu verwandeln wusste, von Fischen und allem rührig Kreatürlichen längst keine Spur mehr darin, 

vielleicht mit der Ausnahme von in mich regelmäßig nahezu willkürlich hineinlaufenden und sich zwischen und unter den Hosenbeinen verwickelnden Hunden, deren Zick-Zack-Laufwege ich niemals doch, selbst im enthaltsamsten Zustande, abzuschätzen wusste, und die sich einen diebischen Spaß daraus zu machen schienen, mich in gefährliche Schieflagen zu manövrieren, womit ich ein jedes Mal, die Umstände anprangernd und über diese ausgiebigst lästernd, an Wölfe in fernen Wäldern denke musste, die sich seit je her in geraden, ja geradesten Linien aufmachten, sie spurten und waren in ihren Fährten eben dadurch von einem jeden Hund unterscheidbar, der in seinem unsteten Stöckchenholdasein seine Degeneriertheit hinlänglich durch die Art der Fortbewegung dokumentierte,

doch blieb keine Zeit mehr, um mich weiter mit dieser fast schon philosophischen Misere auseinanderzusetzen, weil mich das Fräulein Gretchen kurzum wie eine nicht allzuschwere und bereits etwas vergilbte Einkaufstasche um ihren vom Serviergehoppse gestählten Unterarm ge- und eingehängt hatte, sie zog mich unversehens wie ein zielstrebiger Raubfisch vulgo Wolf auf direktestem Wege zur katholischen Pfarrkirche Maria am Berge und seinem hinlänglich bekannten Beinhaus, welches zu meinem Erstaunen, von keinerlei Menschenmassen bestürmt, förmlich auf uns zu warten schien, in trauter Zweisamkeit traten wir nach der Entrichtung eines unwesentlichen Obolus in das der sommerlichen Hitze trotzende Gemäuer, zwei durchwegs beherzt Lebende, fortan ein Weilchen vor den blanken Augenhöhlen der ruhenden Toten schaulaufend, auf und ab die bunt bemalten Schädelreihen musternd, dort das Eichenlaub als Zeichen des Ruhmes, hier der Lorbeer als Zeugnis des Sieges, ein wenig Efeu noch als Symbol des Lebens und natürlich die obligaten Rosenblüten, oppulent aufgemalte Pflanzengärten zur Veranschaulichung einer ewig währenden und über den Tod sich erhebenden und bestehenden Liebe, womit die auf leisen Pfoten sich anschleichende Vorstellung, den eigenen Kopf auf die eingelagerten, säuberlich in einer Formation dämmernden Schädel abzulegen, nahezu ein Gebot der Stunde darzustellen schien.

(Textstudie zu einem neuen Romanprojekt, das aus nur einem Satz bestehen soll)

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Rezension zu «Fremdes Licht» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Yves Noir

Katharina J. Ferner «Dorfsommer»

Die Kinder im Dorf hatten alle braune und grüne Augen, ich war die Einzige mit klarem Blau im Blick. Das hatte ich von meinem Vater geerbt. Die Augen und den englischen Nachnamen. Darüber verlor ich aber kein Wort. Es hätte nur weiteren Anlass zu Spott gegeben. Es hieß, dass nur die Stadtkinder blaue Augen hätten, das käme vom vielen Waschen. Man schrieb den Städtern einen regelrechten Reinlichkeitsfimmel zu. Gut, was meine Mutter betraf, stimmte das vielleicht. Ich war davon aber sicherlich nicht betroffen. Dass die Kinder selbst jeden Morgen das Gesicht in kaltes Brunnenwasser tauchten, kam ihnen dabei wohl nicht in den Sinn. „Blaue Augen, blaues Blut“, lästerten sie, wenn sie mich wieder einmal des Stalles verwiesen, weil eine Kuh kalbte oder ein neuer Stier dabei war, sich einzuleben. Das Umfeld wäre zu gefährlich für mich. Sie hatten nicht ganz Unrecht damit. Es war nicht nur einmal passiert, dass ein Tier ausgebüchst war, durch die Bretterwand gekracht, schon in den ersten Tagen. Die Restaurationsarbeiten waren schnell geschehen. Die neue Wand hielt aber nicht mehr aus, als die zuvor zerstörte. Es gab nur eine Box mit Stangen aus Metall, speziell für Neuankünfte, was normalerweise ausreichend war. Es kamen nicht oft neue Tiere ins Dorf. Die Gutshöfe mussten Geld zusammenlegen, um sich qualitatives Neuvieh leisten zu können. Man teilte sich die Stallarbeit und das Futter. Meine Tante Mila erzählte, sie wäre einmal fast niedergetrampelt worden, hatte sich gerade noch ins Haus retten können, bevor ein junger Stier durch den Garten gerast war. Die Beete waren im Eimer und das übermütige Tier kaum einzufangen. Sogar die Kühe rannten vor ihm davon, er war ihnen wohl nicht ganz geheuer. „Ziemlich umtriebig, der gute Bursche“, bestätigte auch mein Onkel. Einige Kühe wurden trächtig. Sie waren wohl doch dem Charme des Stieres erlegen, befand ich. Mila schüttelte zweifelnd den Kopf, schwieg aber. 

«Homage» von Katharina J. Ferner
Katharina J. Ferner «Der Anbeginn», Limbus, 2020, 190 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-9903918-4-6

Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019) und der Roman «Der Anbeginn».

&Radischen

Rezension von «Der Anbeginn» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Mark Daniel Prohaska

Joachim B. Schmidt «Einsame Weihnachten in Island»

Siebzehn Jahre ist es jetzt her. Ich verbrachte meine ersten Island-Weihnachten im tiefen Fjord Hvalfjörður, eine knappe Autostunde von Reykjavik entfernt. Der Winter war bisher kalt und windig gewesen, bissig, aber verglichen mit Graubünden schneearm. Der Bauernhof lag seit Wochen im Schatten des Bergmassivs Esja. Manchmal tunkten die tiefen Wolken den ganzen Fjord in ein aprikosengoldenes Licht. An der Küste gefror selbst das salzige Meerwasser, doch die seltsam poröse Eisschicht zerbrach durch das Spiel der Gezeiten in tellergrosse Schollen, der Fjord gefror nie ganz zu. Gab es Schnee, verwehte ihn der Wind und häufte ihn hinterm Stall zu einem enormen Haufen an. Einmal öffnete ich die hintere Stalltür von innen – und stand jäh vor einer Wand aus Schnee. Das war nicht so schlimm: Die Kühe wollten sowieso nicht raus. Sie wiederkäuten gelassen ob den pfeifenden Winterstürmen. Der Bauer erzählte mir, dass sich Kühe in Island am 13. Weihnachtstag miteinander in Menschensprache unterhielten, aber sofort verstummten, sobald sie einen bemerkten. Wie gerne hätte ich mich mit ihnen unterhalten!

Die Weihnachten fern der Heimat zu verbringen, war ein seltsamer Gefühlskoktail aus Melancholie und Entspanntheit, Neugier und Heimweh. Zwar genoss ich die Ruhe, ich las Bücher, schaute Filme, hörte Musik, schrieb Briefe, aber ich schleppte ein schweres Herz mit mir rum. Ich wartete sehnsüchtig auf Briefpost oder Telefonanrufe aus der Heimat, und war zugleich fasziniert über die Isländer und ihre Bräuche. Einsamkeit macht zudem kreativ. Ich spürte den Drang zu schreiben, zu musizieren, zu singen. In der kleinen Holzkirche der Gemeinde, weiter hinten im Tal hatte ich eine Orgel entdeckt. Oft sass ich mutterseelenallein in dieser Kirche und machte Lärm, griff völlig enthemmt in die Tasten, keine Menschenseele weit und breit. Herrlich. Hätte jemand die Kirchtür aufgestossen, wäre ich so plötzlich verstummt, wie die Kühe am 13. Weihnachtstag.
Der Priester lud mich einmal in seine Stube ein, tischte Tee auf und verwickelte mich in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er konnte gut Deutsch, war an mir interessiert. Dieser Besuch war wie Balsam auf meine vereinsamte Seele.
An Weihnachten lud mich der Bauer ein, ihn in die Messe zu begleiten, doch ich zog es vor, meine freien Stunden in der vereisten Winterlandschaft zu verbringen, hinauszuwandern, vorbei an erstarrten Wasserfällen und baumlose Berghängen. Ich erklomm einen alten Vulkankegel, der während der letzten Eiszeit entstanden war. Die Lava hatte sich einen Weg nach oben durch den Eiszeitgletscher gefressen und dabei Unmassen an Gletschereis weggeschmolzen, möglicherweise eine Gletscherflut ausgelöst. In den Flanken waren bizarre Steinformationen zu finden, schockerstarrte Lava, fremde Welt. Der Wind auf dem Vulkan war so schneidend, dass es mir den Atem verschlug. Meine klammen Finger schmerzten.
Beim Abstieg trat ich unüberlegt auf eine Schneefläche, worunter sich blankes Eis verbarg. Meine Füsse schnellten in die Höhe, ich klatschte hart auf die Eisfläche und rutschte sofort die Vulkanflanke hinunter, gewann augenblicklich an Tempo. Mit Händen und Füssen versuchte ich, die Talfahrt zu verlangsamen. Vergebens. Erst der schneefreie, nackte Erdboden weiter unten stoppte mich. Ich schlitterte übers Geröll, die Steine prügelten mich, aber schliesslich kam ich zum Stillstand. Ich blieb dann eine Weile sitzen. Nichts gebrochen.

Meine ersten Weihnachten in Island lehrten mich, dass ein einziger, fataler Fehltritt genügt, um den Kurs des Lebens zu ändern.
Als ich zurück auf dem Bauernhof war, erzählte mir der Bauer, dass der Priester nach mir gefragt habe, verwundert darüber, mich nicht an der Weihnachtsandacht gesehen zu haben. Er habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass Joachim seinen Gott draussen in der Natur suchen gegangen sei, und darüber war ich ihm dankbar.
Am Abend machte ich die Stallarbeit, fütterte und molk die Kühe. Seltsam. An jenem Abend fühlte ich mich, als wäre ich in Island angekommen, mit Leib und Seele, zufrieden, lebendig, aber müde. Ich freute mich auf meine Bücher, mein Bett und meine weiteren Jahre in Island.
«Nur mal ganz sachte, Junge. Rupf nicht so!», sagte eine tiefe Stimme.
Ich schaute mich um. Der Bauer war in der Milchkammer.
«Wer ist da?», rief ich.
Keine Antwort. Niemand war da. Nur die Kuh, der ich soeben das Melkzeug etwas unsanft abgenommen hatte, ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, drehte ihren Kopf zu mir, schaute mich an, wiederkäute, steckte sich die Zunge nacheinander in beide Nasenlöcher, schnaubte – und schaute wieder nach vorn.

«Gleðileg jól og farsælt komandi ár!»

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist und Schriftsteller. Seine ersten drei Romane erschienen in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental (Landverlag). 2020 war «Kalmann» aus dem Hause Diogenes dann der lang ersehnte Durchbruch zu einem grösseren Publikum. Seit 2007 lebt Joachim B. Schmidt in Island, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.

Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Joachim B. Schmidt

Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch

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Elise Schmit «Die armen Seelen im Kontor»

Regina begann immer mit „Angie“. Der Flügel war ein wenig verstimmt und Regina mochte die Stones nicht; Mick Jagger war ihr von Anfang an unheimlich gewesen mit seinem kastenartigen Mund, den wilden Furchen um die Lippen und dem Schlenkern seiner Gliedmaßen im Scheinwerferlicht. Mit Grauen hatte sie einen Dokumentarfilm gesehen, in dem sich mehr als vierzig Jahre später die gleichen naiven Mädchen vor der Bühne die Haare rauften vor Sehnsucht nach diesem schlecht frisierten Mann. „Angie“ war eine von Reginas besten Transkriptionen. Ihre rechte Hand wurde auf den Tasten zu Micks Stimme, ein Tremolo für den langgezogenen Anlaut, das war der Trick beim Transkribieren, immer ein wenig mehr von einer Hand zu fordern als von einer Stimme. Ein paar Leute drehten sich um, lächelten in ihre Richtung oder beschwerten sich jedenfalls nicht. Der Flügel stand abseits der Restauranttische im Atrium neben einer breiten Steintreppe, die zum Haupteingang des Alten Kontors führte und über ein paar zusätzliche Stufen zu den beiden umlaufenden Galerien mit nach oben hin teurer und seltsamer werdenden Geschäften. Regina hatte dort oben einmal ein Leinenkleid für den Garten kaufen wollen, es hatte ihr gut gefallen, schlicht und blau und annähernd konturlos, mit aufgenähten Taschen für eine Bastrolle oder die Rosenschere, hatte sie gedacht, wie praktisch. Das praktische blaue Gartenkleid hatte dann ungefähr so viel gekostet wie die monatlichen Nebenkosten plus Telefonrechnung und Zeitungsabo, mal zwei. In dem Moment, als Regina das Preisschild umgedreht hatte, war ihr klargeworden, warum ihr keine der sehr jungen Verkäuferinnen angeboten hatte, ihr bei der Suche nach ihrer Größe behilflich zu sein. Sie war an dem Tag leider die letzte gewesen, die verstanden hatte, dass sie hier nicht hingehörte.

Alle Tische waren besetzt, an den Seiten bildeten sich Warteschlangen. Um diese Zeit war es laut im Alten Kontor, der Widerhall von den hohen Mauern vervielfachte Gespräche, Schritte, Tellerklirren. Es roch nach Essen. „Shopping mit Stil“, stand auf einem Banner, das von der Glasdecke ins Atrium herabhing. Regina kam aber gar nicht ins Alte Kontor, um einzukaufen. Regina kam nur, um etwa vierzig Minuten lang auf dem verstimmten Flügel Popsongs aus den späten sechziger und den siebziger Jahren zu spielen, etwa jeden zweiten Samstag im Monat, wenn sie mit dem Bus in die Stadt fuhr und besorgte, was der Supermarkt zu Hause und das Bisschen Internet, in dem sie sich zurechtfand, nicht hergaben, unter anderem passende Unterwäsche, Mandel-Honig-Kuchen mit Schlagsahne und signierte Bücher von Bestsellerautoren. Sie spielte die Lieder so, wie sie sie zurechtgelegt hatte, vor allem ihre Transkriptionen, zum Teil auch fremde, die sie durch elegantere Lösungen ausgebessert hatte. Sie wusste nicht, ob es erlaubt war, auf dem Flügel zu spielen. Da stand kein Schild. Niemand sprach sie an.
Regina saß gerade mit nach unten gedrückten Schultern, sie blickte nach vorn, aber nirgendwohin. Von „Angie“ modulierte sie zu Don McLean über oder, an Tagen, an denen ihr die Selbstsicherheit löchrig vorkam, zu „Here comes the sun“, dem Beatles-Song, der ihr am besten gefiel, auch wenn nicht Paul ihn geschrieben hatte und auch wenn es sich dabei im eigentlichen Sinn nicht um einen Beatles-Song handelte, sondern um einen Titel von George Harrison, der lediglich von den Beatles eingespielt worden war, für Abbey Road nämlich, das Album war ansonsten eine künstlerische Verirrung, fand Regina, als die Beatles einander kaum mehr aushielten und über Solokarrieren und Neubesetzungen nachdachten. Die Beatles mit Eric Clapton, was hätte das werden sollen, hätte Regina in früheren Jahren gesagt, als sie noch einen Sinn darin sah, Meinungen zu vertreten, auch wenn es nicht unbedingt ihre eigenen waren.

Richtiges Lampenfieber hatte Regina nicht mehr. An Paul, George, John und Sechzigerjahre-Ringo dachte Regina wie an alte Freunde. Ihre Hände brachten den Klang hervor und der Klang breitete sich im Atrium aus, legte sich über die Banalität der Restaurant- und Einkaufsgeräusche, und sie fühlte, wie sich auch in ihr etwas ausbreitete und weit und stark und leicht wurde, ein Hochgefühl, etwas wie Freude oder Bestimmung. Früher, in den Konzertsälen, hatte sie nichts dergleichen empfunden, wenn sie die mühsam einstudierten Stücke von Skrjabin und Khatschaturjan gespielt hatte, und was den Lehrern sonst noch für Dissonanzen einfielen. Tschaikowski hätte sie gern gespielt, aber die Lehrer hielten das für schlechten Geschmack. Reginas Finger fanden die Tasten wie von alleine, sie konnte, wenn ihr der Sinn nicht nach Improvisation stand, ihre Gedanken abschweifen lassen und sich selbst beim Spielen zuhören. Burt Bacharach, was für ein Genie. Der Flügel klang soviel schöner als ihr altes Hausklavier. Zum Transkribieren war sie eher durch Zufall gekommen, jemand hatte es ihr als gute Möglichkeit empfohlen, ein wenig Geld zu verdienen, während sie an einer richtigen Karriere arbeitete. Das Musikstudium war teuer und die Aussichten auf ein Auskommen mit ernst zu nehmender Arbeit gering. Schnell hatte sich Regina einen Namen gemacht. Hervorragende Spielbarkeit, hieß es, eine „kongeniale Art der Übertragung“, sie habe das „richtige Ohr“. Bald hatte sie sich die Aufträge aussuchen können, musste sich nicht mehr mit Lynn Andersons „Rose Garden“ herumplagen oder dem unmöglichen „Delta Dawn“. Ob man eine reduzierte Melodie wie „The Chain“ überhaupt sinnvoll fürs Klavier anpassen könne? Der Verlagsredakteur hatte anfangs gezweifelt. Reginas Versuch hatte ihr viel Lob eingebracht, ein paar Einladungen zu den Partys von Leuten, die sich sonst nie mit ihr abgegeben hätten, sogar das Angebot eines Tonstudios, das Regina aber abgelehnt hatte, weil sie bei der Aussicht verzweifelte, mit diesen Leuten mithalten zu müssen, ihre Späße und Anspielungen zu verstehen, ihre Art sich zu kleiden.

Einmal hatte Regina Ringo Starr in einer Bar getroffen, als es die Beatles schon längst nicht mehr gab. Sie hatte zu hohe Schuhe angehabt und er war betrunken gewesen, sie hielten sich beide am Tresen fest. Dass es Ringo war, hatte sie erst erkannt, als er in schlechtem Deutsch in ihr Dekolletee hineinfragte, wer sie sei.
Regina, hatte Regina in englischer Aussprache gesagt, um ihre Gesprächsbereitschaft zu signalisieren.
Regina, Re-gin-a, Gina, ha. Regina, hatte Ringo gesagt. Lustiger Name.
Ringo, lustiger Name, hatte Regina zurückgesagt.
Haha, richtig, hatte Ringo geantwortet und sich mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger die Hand ans Ohr gehalten wie einen Telefonhörer.
Ringo: Hallo?
Regina: Hallo.
Ringo: Wer ist dran?
Regina: Regina?
Ringo: Gina. Pretty nice girl. Welch Freude.
Regina: Ja. Ich freue mich auch.
Ringo: Eigentlich kein richtiger Name, Regina, Gina.
Regina: So heiße ich aber. Regina Hansen.
Ringo: Sehr erfreut, your majesty. Regina.
Regina: Sehr erfreut.
Ringo: Ringo Starr ist auch kein richtiger Name. Aber er klingt gut.
Regina: Ja.
Ringo: Regina. Gina. Dein Name macht mich durstig.
Regina: Gut, dass wir uns in einer Bar getroffen haben.
Ringo: Funny girl, Gina, so clever. Komm, ich geb dir einen aus. Zwei Gin Tonic or I got to get a belly full of wine, haha.

Regina hatte gelacht, weil es Ringo Starr war. Sie fand, dass er entsetzlich nach Zigaretten stank. Auch hatte er ihr ohne Bart und aufgelaufenes Gesicht besser gefallen. Er hörte nicht auf, ihren Namen zu sagen und Unsinn zu reden, trank sehr zügig und tatschte nach ihrem Hintern. Regina fand das alles sehr unangenehm, aber was sollte sie machen, es war Ringo. Die ersten beiden Gincocktails trank sie aus, den dritten ließ sie stehen, nachdem Ringo sich entschuldigt hatte, um auf die Toilette zu gehen, und nicht zu ihr zurückgekehrt war. Sie sah, wie ihn mehrere Frauen belagerten, die deutlich älter, unansehnlicher und entschlossener waren als sie. Regina hatte den Bierdeckel unter seinem Glas herausgezogen und eingesteckt. Sie war nach Hause gegangen und hatte geweint vor Enttäuschung über Ringos Gemeinheit, auch darüber, dass sie ihm nicht hatte sagen können, dass kaum jemand die Songs der Beatles so gut kannte wie sie. Das Best of-Songbook, das sie geschrieben hatte, war damals der europaweit meistverkaufte Verlagstitel gewesen. Wenige Jahre später hatte der Verlag Regina die Mitarbeit aufgekündigt. Ihre Transkriptionen seien zu anspruchsvoll, hieß es jetzt, die Akkorde für Mädchenhände zu schwer greifbar. Auch werde weniger Klavier gespielt. Eigene Transkriptionen lohnten sich nicht mehr, man kaufe sie lieber aus dem Ausland ein. Für eine Karriere als Konzertpianistin war es damals schon zu spät. Regina vermisste die großen Konzertsäle und das Bangen vor dem Publikum nicht, den Erwartungen ihrer Lehrer, den Kritikern. Nach der Kündigung beim Verlag spielte sie jeden Tag zu Hause auf ihrem Klavier, aber kein Skrjabin oder Khatschaturjan, sondern „Raindrops keep fallin’ on my head“ und immer wieder die Beatles. Als das Geld zu Ende ging, gab sie Inserate auf: „Erf. Klavierspielerin bietet Unterricht, alle Niveaustufen.“ Es kamen dann vor allem untere Niveaustufen und füllten Reginas Wohnzimmer mit schiefen Tonleitern. Sie beschwerte sich nicht. Den wenigen guten Schülern gab sie ihre Transkriptionen zu spielen, „Hey Jude“ und „Rocket Man“, nie aber „Here comes the sun“.

Das Beatles-Medley spielte Regina erst zum Schluss. Paul, John, George und Sechzigerjahre-Ringo sangen den Hintergrund zu den Tischgesprächen. Für ein paar Minuten war sie am Ursprung der Musik, wie ein fünfter Beatle. Jetzt war es für vieles zu spät. Für Kinder war es zu spät. Für einen Mann ohne Übergewicht, der im Bett nicht schnarchte und die Initiative für gemeinsame Ausflüge ergriff, war es zu spät. Um ihren Körper zu sportlichem Ansehen umzuformen, war es zu spät. Um sich eigene Stücke zu notieren, sie auswendig zu lernen und am Sonntag im Kulturhaus neben der Kirche zu Kaffee und Kuchen zu spielen, war es nicht zu spät, aber es war sinnlos. Regina setzte zu „Let it be“ an, das war ihr letzter Song. Sie dachte an die schöne Anekdote, wie Pauls verstorbene Mutter ihm im Traum erschienen war, um ihn mit diesen Worten zu trösten. Ein bisschen Trost, dachte Regina, ein bisschen Trost für euch, ihr armen Seelen im Alten Kontor. Niemand klatschte, als sie fertig war und der letzte Akkord unter dem Glashimmel verklang. Regina nahm ihre Einkaufstüten, ging die Steintreppe hinauf zum Ausgang und verschwand im Gedränge der Fußgängerzone.

Elise Schmit «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen«, Hydre Éditions, 2019, 135 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-95602-187-9

Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.

Beitragsbild © Boris Loder

Anaïs Meier «Zwiebel»

Zwiebeln sind etwas Gutes. Man findet sie in fast jeder Küche der Welt und gleichzeitig gibt es auf der Welt auch sehr viele Zwiebeln, eine Win-win-Situation ist das. Gekocht schmecken sie süss, gebraten saftig und roh pikant. Ein wirklich erstaunliches Gemüse. Das Zwiebelschälen mögen viele trotzdem nicht. Es gibt sehr viele schlechte Metaphern darüber, die man gar nicht zitieren möchte. Es gibt allgemein viele Metaphern zur Zwiebel, was zeigt, wie wichtig sie für die Menschen ist. Die Zwiebel ist auch wichtig für die Tiere. Nachts singen zum Beispiel die Bauernhoftiere Lieder über die Zwiebel, das ist etwas, was nur ganz wenige wissen. Denn die gekochte Zwiebel gibt der Speise Würze und auch Süsse und sie passt zu jedem Gemüse. Und zu jedem Fleisch, ein Fakt, über den die Bauernhoftiere nachts mit Schrecken singen.

Menschen haben auch schon über die Zwiebel gesungen, aber das kam oft nicht gut heraus. «Ich habe eine Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner» von Tim Toupet ist ein Beispiel. Und das ist eines der wenigen Probleme, die die Zwiebel hat: Sie hat keine Zwiebelgottheit. Denn wenn die Zwiebel eine Zwiebelgottheit hätte, würde sie jeden Menschen, der zu diesem Lied tanzt, auf einen Dönerspiess spiessen und im Fladenbrot verkaufen. Mit viel Rotkraut. Auch das Rotkraut ist ein wunderbares Gewächs. Es sieht super aus und schmeckt trotzdem gut. Wie die Zwiebel ist es, was die Witterung anbelangt, sehr genügsam und im Geschmack rezent bis zum Abwinken. Was so ein Rotkraut und so eine Zwiebel einander wohl alles zu erzählen hätten. Traurig sind sie ob all diesem mediterranen Gemüse, welches man ihnen hierzulande vorzieht. Gemüse ohne Konsistenz, Gemüse, das zu achtzig Prozent aus Wasser besteht und schlapp in den Regalen hiesiger Lebensmittelläden vor sich hin fault.
Welche Freude ist da zum Beispiel der Anblick eines wackeren Knollenselleries! Der daneben ganzjährig vor Kraft strotzt und geduldig auf den unteren Regalen auf uns wartet! Auch der Knollensellerie ist ein wunderbar bekömmliches Gemüse, am besten natürlich mit der Zwiebel genossen. Was der Zwiebel nebst einer Gottheit fehlt, ist eine gute Lobby, zum Beispiel in der Regierung. Die Zwiebel-LobbyistInnen hätten hinter den Säulen des Säulengangs des Bundeshauses, dort, wo die ZigarettenlobbyistInnen mit ihren Bauchladen voller Gratiszigaretten und -feuerzeugen warten, die PharmalobbyistInnen mit ihren gratis Modafinil, Ritalin, Temesta und Xanax und die WaffenlobbyistInnen mit ihren … Wir wollen es gar nicht wissen. Also eben dort sollten die Zwiebel-LobbyistInnen kleine Küchen betreiben, dank derer sie sofort tolle Zwiebelgerichte darbieten könnten: Zwiebelsuppe, Zwiebelkuchen, gefüllte Zwiebeln, Zwiebelringe oder Zwiebel-Pakora. Die Zwiebel-LobbyistInnen müssten gar nichts dazu sagen, die Zwiebeln würden sich selbst genügend bewerben. Da sich die Zwiebel selbst aber nicht gern in den Vordergrund drängt, gibt es leider nur wenige Speisen, die primär auf ihr basieren. Vielmehr verhilft sie allen anderen Speisen zur wirklichen Bekömmlichkeit. Ganz anders als arrogantes Gemüse wie etwa die Spargel, der Kürbis oder die dominante Tomate. Die Zwiebel ist ein schüchternes, zurückhaltendes Gemüt, welches deshalb ständig unterschätzt oder, ganz schlimm, vergessen geht: Die Zwiebel!! Die doch Dreh- und Angelpunkt jedes Gerichtes ist, wird viel zu oft vergessen.

Anäis Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», Mikrotext, 2020, 96 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-948631-01-7

Anaïs Meier, 1984 in Bern geboren, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne «Aus dem Réduit» in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erschien der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman «Mit einem Fuss draussen» bei Voland & Quist.

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Quentin Mouron «Extrait de L’Âge de l’héroïne»

Dans une ruelle piétonne de Prenzlauer Berg, coincée entre un bar à bières et un fast-food coréen, la Librairie du Nouveau Monde est le paradis du bibliophile.
– Vous avez la forme d’une libraire, mademoiselle Schulz. Vous n’avez pourtant pas une coiffure qui vous distingue, disons, d’une teinturière ou d’une enseignante au primaire (même s’il est exclu que vous soyez plasticienne ou coach en séduction). Vous n’avez pas non plus un regard, un sourire ou des mimiques qui vous trahissent. Il n’existe pas, spécifiquement, de nez de libraire, de sourcil de libraire, de carnation particulière; beaucoup de gens portent le même nez que le vôtre. Pourtant, en regardant votre visage, et pour peu que l’on sache différencier une femme d’une autre, on ne peut que s’écrier : «Voici une libraire!» Ce n’est pas tel élément singulier qui se surajoute à votre visage; c’est tout un masque qui se compose, lentement, en imperceptibles mouvements de fond. Vous deviendrez de plus en plus libraire, mademoiselle. Vous vous aggraverez. Les contours de votre visage, de votre masque, de votre vie (ces mots sont synonymes), seront de plus en plus nets. Oh, vous ne faites pas que vendre des livres, je le sais bien! Vous pratiquez la randonnée, la cuisine asiatique, vous donnez pour les aveugles et vous aimez, tard le soir, vous enfiler un doigt dans le derrière en écoutant Beethoven (particulièrement le majeur, particulièrement les derniers quatuors). Pourtant, vous serez toujours une libraire qui randonne, une libraire qui cuisine, une libraire qui donne – et une libraire qui se socratise lorsqu’elle rentre chez elle.
Mademoiselle Schulz pouffe.
– Et qui vous dit que j’attends toujours d’être rentrée chez moi?
Franck sniffe un trait de cocaïne à même la couverture du Tanzaï et Néadarné de Crébillon fils (dans l’édition Pékin Lou-Chou-Chu-La de 1734). Après avoir reniflé bruyamment, il dit, amusé, presque hilare:
– Voyons, mademoiselle, vous n’avez eu ici de plaisir que vaguement intellectuel, discrètement historique. Votre jouissance se tient quelque part entre la poussière et le néant. Mais votre provocation vous a coûté une rougeur; n’investissez pas à perte! Tournez-vous, je vous prie!
Ayant troussé la vieille libraire, Franck baise langoureusement son cul. Elle proteste. Il ne lui en maintient les cuisses que plus fermement; il y plante les ongles. Il se réjouit de ces fesses ridées comme d’un festin précieux. Il hume, il embrasse, il lèche, il mord. «Pas comme cela, Franck! se récrie la libraire. Vos doigts, vous me promettez vos doigts! Et voilà que vous m’arrosez de postillons, me faites la croupe en bave, me sarclez de morsures! Pour qui vous prenez-vous?» Elle se redresse, furieuse.
– Pardonnez mon appétit. J’ai toujours quelque répugnance à me servir de mes mains, sauf s’il s’agit de faire craquer une reliure ou de tuer un homme.
La vieille glousse.
– Voilà l’une de vos phrases, de vos trouvailles, suffisantes pour éblouir vos pucelles, vos bardaches. Avec moi, ça ne prend pas. Ouvrez-moi le cul et fermez votre gueule.
– Si la Poésie s’en mêle!
Franck retire sa chevalière, qu’il pose sur la table. Il inspire profondément et glisse son majeur entre les fesses de la libraire, puis son index. Il la débourre enfin à quatre doigts; il la fait virevolter dans les coins, sur les «éditions originales», sur les «autographes», sur les «beau papier», tous les «Hollande», tous les «Japon», tous les «maroquins rouges». Les amants tournoient. Le sol craque, tremble. Ils percutent une étagère. Bam! Trois Marmontel en tombent. Ils achoppent contre un pupitre: quatre Ronsard. Ils repartent en arrière, piétinent indifféremment Cazotte, Chénier et Thiers. Cette débauche! C’est un affolement. C’est une furie. Les vélins volent! Verlaine y passe. Sa poésie. Sa prose. En feuillets libres, en pluie d’agrafes. Les deux amants bondissent de l’autre côté de la pièce. Index, majeur, annulaire. Franck entonne un chant letton. Ils glissent sur un «grand format» ;Restif de la Bretonne. Ils se reprennent in extremis.» L’arrière-boutique! L’arrière-boutique!» glapit mademoiselle Schulz. Ils y parviennent; c’est une forêt de «débrochés», de «désagrafés», d’in-folio sans ordre ni rigueur. Ils s’y faufilent, y rèptent, s’y lovent – tout au cœur. L’Histoire. La Culture. La Poussière. La touffeur de tout ça! L’étranglement par les racines. Et les milles insectes, les cancrelats poilus, les mites tenaces. Les voilà pris à la gorge, aux organes, investis de haut en bas. Ils sont maintenant pressés de finir. Franck s’ankylose, il se sent las, il se sent triste. La douairière beugle, se tord, elle vesse profusément. Elle s’effondre, finalement, sur les œuvres complètes de Montesquieu (Belin, 1817).
Mademoiselle Schulz reprend place derrière le bureau de chêne. Légèrement rouge, elle roule une cigarette en lorgnant Franck qui dispose une autre ligne sur la couverture du Crébillon.
– Etes-vous toujours convaincu que je ne sois qu’une libraire, mon ami?
– Par la gueule et par le cul, pour pasticher votre poésie.
– Mais vous-même, Franck…
Il sourit.
– Je vous interdis de parler de moi.
Franck referme le volume de Tanzaï et Néadarné. Il glisse trois billets de cinq-cents euros sur le comptoir, baise brièvement la bouche de mademoiselle Schulz, et sort de la librairie. À côté, le fast-food coréen promet une réduction sur le bibimbap végétalien.

Quentin Mouron: «L’Âge de l’héroïne» (Editions La Grande Ourse, Paris 2016)

Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Rezension von «Notre-Dame-de-la-Merci» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Bilgerverlag

Cornelia Travnicek «Energien»

I. Wassergang

Eins ist Schwarm und Schwarm ist eins
Unter den Flossen raue Rampen so steigen
Beigezeiten abertausend Glasaalkinder
über ihre Sohlengleiten
Wir haben Oberwasser

Räderschlagend mahlt und wendet
ein Mühlenstein
das Dreistromland

Im Mäanderbecken schwankt der Spiegel

Doppelhelix formt den Turmfischpass
Stromaufwärts Archimedes Kronenhaupt
Kann die Wanderlinge singen hören
Ich halte eine Muschel an mein Ohr
Effervo. Aqua. Laborare.

Mit Laufwasser leise tröpfelnd
Hingetreten
Auf was sich an den Stufen staut

Fällt was gesammelt in den Schacht

II. Windfrequenzen

Schlag auf Schlag trifft
Uns ein Schatten
Schneisen in den Vogelflug
Ein Windmühlband am Hügelrand
Der Kampf beginnt

Grün klagt grün
Und nichts wird grüner
Strukturelle Festigkeit

Das letzte Opfer ist die Landschaft

Wucht und Unwucht hängt sich an die Rotorblätter
Altersmüder Großwindräder
Viertel des Jahrhunderts später
Wenn ein Schild bestimmt
Neglegere. Vento intermisso.

Unhörbar kommt ein Schall gekrochen
Wir halten fest
An Nichts das bleibt

Alles steht hier nur zur Pacht

III. Lichtvolten

Eins in einer Milliarde
Härchen auf deinem feinen Nacken
Glühwurmenden in der Abendstunde
wenn du auf den Schindeln kniest
Der Winkel stimmt

Faltergleich hebt und senkt
ein Sonnenwind
die neuen Flügel

Der Tag verebbt in kurzen Wellen

Metall zieht sich durch Metall
Du stehst frei Hand auf meinem Giebel
und drehst dem Wetterhahn
eine Zauberformel in sein Ohr
Iridie, Platina, lucescit!

Die Zukunft ist aus Sand gebaut
mit Sonnenhonig prall
die blauen Waben

Auf jeden Morgen folgt die Tracht

Cornelia Travnicek «Parablüh», Limbus, 2017, 88 Seiten, CHF 18.90, ISBN 978-3-9903910-1-3

Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Studium der Sinologie und Informatik, arbeitet als Researcher in einem Zentrum für ­Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2012 erschien mit grossem Erfolg ihr Debütroman «Chucks», der 2015 verfilmt wurde. Nach dem Roman «Junge Hunde» (2015) und dem Gedichtband «Parablüh» erschien 2019 ihr erstes Kinderbuch «Zwei dabei» (illustriert von Birgitta Heiskel).

Rezension des Romans «Feenstaub» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Bogenberger Autorenfotos

Rolf Lappert «Das Wunder von Kalifornien»

Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.

Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.

Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.

Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.

Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.

Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.

Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.

Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.

aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors

Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.

Interview mit Rolf Lappert, dem ersten Preisträger des Schweizer Buchpreises

Rolf Lappert liest am 14. Januar 2021 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neusten Roman!

Beitragsbild © Sonja Maria Schobinger

Iris Wolff «(Er)zählen»

Erklären konnte ich es mir nicht. Ich nahm es hin, wie das Geräusch unseres Atems, wie das Sirren der Mücken, das Hämmern eines Spechts, das Knirschen unserer Schritte auf dem Weg. Wie die fliegenden Spinnfäden, die Tautropfen auf den Farnen, das honigfarbene Harz der Tannen (das ich nie unterließ zu berühren).
Dieses Licht, das zwischen den Bäumen aufleuchtete, wenn wir lange in den Bergen blieben, tröstlich, ahnungsvoll, wie das Lodern eines Leuchtturms in der Dämmerung. Ein Fixpunkt am Horizont, der die Dunkelheit der Wälder erhöhte.
Auf einer unserer Erkundungen fragte ich meinen Vater, was das für ein Licht war, und warum es immer leuchtete, wenn wir in den Bergen waren.
Vater blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich der dunklen Flanke der Berge zu, die jetzt so abweisend dalagen, kein Umriss einer Tanne war zu sehen, kein Weg. Auf unserer Seite zögerndes, violettes Abendlicht. Er sagte, es sei ganz einfach: Hinter diesen Wäldern sei ein Fluss, an diesem Fluss stünde ein Haus, in diesem Haus säßen zwei Freunde. Sie waren es, sie zündeten ein Licht an, weil sie die Schritte zusammenzählten, die wir am Tag gegangen waren.
Es leuchtete mir augenblicklich ein.
Ein Fluss. Ein Haus. Zwei Freunde, die unsere Schritte zählten.

Ich glaubte lange an diese Geschichte. Irgendwann war sie fort. Wie die mit Kartoffelstärke behandelte Bettwäsche, die mein Bruder und ich übermütig rieben, um sie wieder weich zu machen. Meine Aufpasserdienste, wenn mein Bruder sich mit einem Mädchen traf, und ich ihn danach heimlich ins Haus ließ, sobald ein Steinchen gegen die Fensterscheibe flog. Die aufgeschichteten Matratzen im Zimmer der Großmutter, die aus einer Zeit stammten, da jederzeit Gäste zu erwarten waren, und die in meiner Erinnerung bis zur Decke reichten; nur eine Handbreit bis zum Plafond. Großmutter, die erkannte, aus welchem Brunnen im Dorf wir Wasser geholt hatten, das beste Paprikasch zubereitete, und, wenn sie die Entmutigung ankam, die oberste Matratze nahm, sie auf die Terrasse schleifte und unter freiem Himmel schlief.
Sie warnte uns Brüder, keine Grimassen zu schneiden, das Gesicht bliebe sonst so, und sie sagte auch, wir sollten nicht so viel trinken vor einer Mahlzeit, sonst bekämen wir Frösche im Bauch. Und an diese Frösche glaubte ich ebenso wie an die beiden Freunde.

Schönheit kann sich nicht so gut verbergen wie die Wahrheit, sagte Vater.
Er sagte es, wenn wir durch die Berge streiften, und er sagte es auch, wenn er vor Mutters Bild innehielt, das auf der Kommode neben der Eingangstür stand. Ein helles Gesicht, wellige, glänzende Haare, ein gerader, schmaler Mund. Ich fragte mich, ob er mit ihr auch so wenig gesprochen hatte. Er sehnte sich am Ende jedes Arbeitstags nach der Stille der Berge. Er konnte dem unendlichen Monolog eines Vogels zuhören, und vergessen, dass jemand bei ihm war. Beneidete jeden Fels, jede Pflanze um ihr Schweigen.

Ich bin immer durch die Türen gegangen, die offen standen. Ob es die richtigen waren, weiß ich nicht. Eine Tür führte mich in den Westen. Durch eine Tür kam Julie, und durch eine andere ging sie fort. Manche Türen blieben verschlossen, zu manchen Träumen fand ich den Eingang nicht.
Manche Leute sagten, ich sei klug. Andere, ich sei egoistisch. Wiederum andere hielten mich für zugänglich. Das waren allerdings Freunde. Harro lernte ich auf einer Tagung kennen. Er setzte sich neben mich, sah aus, als bräuchte er ein frisches Hemd und gute vierundzwanzig Stunden Schlaf. Wie sich herausstellte, sah er immer so aus, als hätte er nicht geschlafen, wirres Haar, blasse Haut, Ringe unter den Augen, wasserglasgroß. Dazu die eindringlichste Stimme, tief, kratzig, melodiös, und die Gabe, das, was gesagt wurde, und das, was gesagt werden würde, zusammenzufassen oder vorwegzunehmen, je nachdem.
Die Wahrheit zieht es vor, sich zu verbergen. Vielleicht tut sie uns damit einen Gefallen, vielleicht hält sie uns damit bei Laune. Sie verbirgt sich in Geschichten (auch jene, die man sich selbst gern erzählt), Glaubenssätzen, Anschuldigungen – die man nicht zurücknehmen kann, wie sehr man es auch möchte.
Man meint, man sei ihr als Erwachsener näher denn als Kind. Hexen ziehen aus dem Wald aus, Gespenster aus dem Schrank, Frösche mögen keine Mägen. Karla war lange Zeit mit Anlauf ins Bett gesprungen, aus der fixen Idee heraus, es könne sich jemand darunter versteckten und nach ihren Fesseln greifen. Jona behauptete, er könne sich durchs Schlüsselloch in andere Zimmer stehlen, wenn er Hausarrest hatte.
Zuletzt gehen die Dinge ineinander über, wie in das Aprilabendlicht der Berge getaucht. Hell und Dunkel sind nicht so leicht voneinander zu unterscheiden, das Überflüssige rückt fort.

Ich erinnere mich, wie Vater beim Glockenläuten an den Seilen hochgezogen wurde. Wie Großmutter die Schuhe meines Bruders versteckte, damit er abends nicht aus dem Haus konnte. Wie Polizisten die Luft aus meinen Fahrradreifen ließen und die Ventile mitnahmen, weil ich Julie auf dem Lenker ausgefahren hatte. Wie ich mit Harro an einer Bar saß, wir tranken und sahen einander kaum an. Wie Jona am Flughafen vergaß, sich umzudrehen, und Karla im letzten Moment die Hand zum Abschied hob. Ich spüre, wie lahm die Zunge im Mund lag, weil sie sich in einer anderen Sprachfärbung zurechtfinden musste, und erkenne, dass ich Vater über die Jahre ähnlich geworden bin. Die Sehnsucht nach dem Wald ist groß, dem Gleißen, Glühen, Flimmern, dem Rauschen, Summen, Vibrieren, das es nur in den Bergen gibt.
Leise, weil es nicht mich meint, laut genug, um die Gedanken zu besänftigen.

Ob man mit etwas davonkommt, ist fraglich.
Ich warte noch immer auf das Geräusch des Steinchens an der Fensterscheibe. Großmutter liegt auf der Terrasse und sieht in den Sternenhimmel. Wenn ich die Hand ausstrecke, berührt sie den Plafond. Julie sitzt lachend auf dem Lenker. Karla und Jona verlangen eine Geschichte. Harro füllt unsere Gläser auf. Vater betrachtet die dunkle Seite der Berge und raucht.
Und wenn es Abend wird, hinter den Wäldern, zünden die beiden Freunde ein Licht an und zählen meine Schritte.
Deine auch?

Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.

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Beitragsfoto © Falko Schubring