Patrick Tschan «Der kubanische Käser»

Das wunderbarliche Leben und Lieben des Noldi Abderhalden

Es war nicht so, dass Noldi Abderhalden in dieser bitterkalten Winternacht im Februar 1620 freiwillig über die eisigen Trampelpfade auf den Chüeboden oberhalb Alt-St. Johanns aufgestiegen wäre, um von dort seinen ganzen Schmerz über dieses verdammte Tal hinwegzuschreien.

Nein. Die Heidi hatte ihn verlassen. Wegen dem Heiri Obderhalden.
Er war so stolz gewesen, dass gerade er die Heidi küssen und mit ihr gehen durfte. Wie ein Pfau war er Hand in Hand mit ihr die Dorfstrasse rauf und runter flaniert, unter den neidischen Blicken der anderen Burschen, die wie er fast täglich wegen der Heidi einen Ständer weggedrückt hatten. Geheiratet hätte er sie,  auf der Stelle – hätte er gekonnt, hätte er gedurft.
Aber, was eh nicht gut ausgehen durfte, war durch den Heiri bereits nach dem zweiten Gang am Ende der Dorfstrasse abgeklemmt worden.
«Komm Heidi», hatte er gerufen, und die Heidi hat die Hand vom Noldi losgelassen, sich beim Heiri untergehakt, sich zu Noldi umgedreht, ihm zugeraunt, der Heiri käme eben draus, im Gegensatz zu ihm, er solle jetzt ja nicht flennen, sondern zum kleinen Babettli gehen, die käme auch noch nicht draus, aber irgendwann kämen sie dann beide draus, und dann käme es schon noch gut für ihn.
Und so krümmte er sich jetzt dort oben auf dem Chüeboden vor Liebesschmerz mit einer Flasche saurem Wein im Kopf, beobachtet von Bär, Wolf und Gämsbock, tobte, schrie, stampfte, weinte und schluchzte so laut, dass sich Bär, Wolf und Gämsbock einig waren, dass nur Menschen sich so saudumm aufführen konnten.
Da er die Heidi doch schon ein gutes Stück weggetrunken hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich ausser Schreien und Toben dort oben wollte, und machte er sich daran, wieder vom Chüeboden hinabzusteigen, bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit und das einsetzende Schneetreiben, wählte im Suff zweimal die falsche Abzweigung, rutschte aus, landete unsanft auf dem Hintern, und da er auf dem blanken Eis nicht mehr hochkam, entschied er sich, in den Spuren der schweren Holzfällerschlitten auf dem Hosenboden ins Tal zu rutschen. Hei, da nahm der Noldi Fahrt auf, zog die Beine an und gab leichte Rücklage, nutzte die Schneewechten als Steilwandkurven, eine Tannenwurzel riss ein Stück Leder aus der Hose und dem Hintern und eine Eule stob aufgeschreckt in das ewig Gründunkle des Tannenwalds. Am Ende der Schussfahrt landete er geradewegs vor den Füssen eines Anwerbers für Reisläufer der von Plantas.
«Ha», rief der Anwerber, «da kommt ja einer vom Chüeboden geflogen. Schau, Trommler, ein stämmiges Exemplar von einem Alt-St. Johanner Sautreiber! He, was meinst du?»
Der Trommler antwortete mit einem kräftigen ‹Terrrräng›.
«Der wäre doch was, um gegen die vermaledeiten Bündner Protestanten, gegen den Jörg Jenatsch und Konsorten zu kämpfen. Was meinst du, Trommler?»
Terrrräng!
«Jörg Schnaps?», lallte Noldi und versuchte aufzustehen.
Der Anwerber drückte ihn zu Boden. Jetzt erst spürte er den stechenden Schmerz in seinem Hintern von all den blauen Flecken, Hautschürfungen und Rissen, die er sich beim wilden Ritt über Steine, Felsvorsprünge, Tannennadeln und -zapfen zugezogen hatte.
«Schnaps?»
«Schnaps!»
«Ja, was würde so ein daher gerutschter Sauhirt denn für Schnaps geben?»
«Kuhhirt!»
«Von mir aus. Also, was gäbe ein Kuhhirt für Schnaps?»
Terrrräng!
«Was würde denn so ein Herr mit Trommler wollen?», lallte Noldi dagegen.
Der Anwerber reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. «Deinen Todesmut.»
Terrrräng!
«Das ist alles?» Noldi versuchte, die helfende Hand abzuschütteln, und fiel dabei fast wieder um.
«Ja.»
Terrrräng!
«Und was, was … also was, was gibt den, den Schnaps?», brabbelte Noldi.
«Dein Kreuz. Hier. Für zehn Jahre.» Der Werber hielt ihm ein Blatt mit grossem Wappen und mächtig geschwungener Schrift unter die Nase, zog eine Feder aus der Umhängetasche und zeigte Noldi die Stelle fürs Kreuz.
Terrrräng!
«Zeig den Schnaps, du, du, du Seelenkrämer …»
«Voilà.» Der Anwerber zeigte auf den Trommler und dieser zog ein kleines Fässchen Schnaps aus seinem Beutel.
Noldi nahm das Fässchen, zog den Zapfen, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und ächzte: «Wuaah!»
«Veltliner.»
Terrräng!
«Gib … du, du Buhler, du.»
«Trommler!»
Der Tambour hob die Trommel hoch, der Anwerber legte das Blatt darauf und fragte Noldi scharf: «Name?»
«Noldi, du, du Leichenfledderer, du.»
«Wie noch?»
«Abderhalden, natürlich, du, du, Schnitter, du …»
Der Werber schrieb den Namen und Vornamen auf das Blatt, drückte die Feder in Noldis Hand, führte sie zur Stelle, wo dieser zu unterschreiben hatte, und machte dort drei Kreuze. Daraufhin nahm Noldi einen zu grossen Schluck Schnaps, prustete die Hälfte wieder hinaus und besudelte das Blatt. Der Trommler schrie «He!», der Werber nahm das Papier und wischte den Schnaps ab, und Noldi, ohne Stütze, fiel hin, krümmte sich, umschlang das Schnapsfässchen und entschied sich, nie mehr aufzustehen und für immer und ewig einzuschlafen.
Terrrräng! Terrrräng!
Er blieb liegen.
Terrrräng! Terrrräng! Terrrräng!
Er tat ein tiefer Seufzer.
«Wache!», befahl der Anwerber. Zwei mit Hellebarden bewaffnete Soldaten traten aus dem Dunkel der Nacht, hoben den Noldi hoch und schleppten ihn in einen Stall, wo sie ihn neben eine Kuh warfen.

Babettli, die das alles von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, stürmte, kaum waren die Soldaten wieder im Dunkel und Anwerber wie Trommler im Wirtshaus verschwunden, die Treppe hinunter, auf die Dorfstrasse und in den Kuhstall, in den sie den Noldi verfrachtet hatten.

Es war ein jämmerliches Bild, das sich ihr bot: ein verdreckter, blutverkrusteter Noldi, der sich an sein Schnapsfässchen klammerte und wirres Zeug stammelte. Die danebenliegende Kuh war so leibarm, dass sie trotz grosser Kälte nicht einmal dampfte.
Erfasst von Mitleid und ihr gänzlich unbekannten anderen Gefühlen legte sie sich eng an Noldis Rücken, begann sein Haar zu streicheln, sein Gesicht, seinen Hals, und irgendwie rutschte ihre Hand unter sein Hemd und von da – sie hatte wirklich keine Ahnung, welcher Teufel sie da ritt – in seine Hose, und da war das Ding, von dem alle sprachen, das sie aber noch nie gesehen, geschweige denn angefasst hatte.
Noldi stöhnte, spürte im Halbtraum etwas in seiner Hose, das sich wie ein Murmeltier anfühlte, weich, pelzig, warm, fettig, und von dem er hoffte, dass es ja nicht zubeissen würde. Irgendwann begann das Murmeli mit ihm zu sprechen, fragte ihn, wie er das finde, er antwortete, es solle weitermachen, aber einfach nicht beissen, es fragte, was er da mit den bewaffneten Männern gemacht habe, Zeugs verkauft, eben, antwortete er, was für Zeugs, er habe seine Todesverachtung verkauft, warum er dies getan habe, er sei halt so todesverachtend unglücklich, warum er denn so unglücklich sei, weil er die Heidi verloren habe.
Da biss das Murmeli dermassen zu, dass der Noldi sofort wieder nüchtern war, wie am Spiess vor Schmerz schrie, die Kuh darob verstört aufschreckte, ihm ein Huf an die Backe donnerte, derweil er noch einen Rockzipfel von dem weinend aus dem Stall stiebenden Babettli im Augenwinkel erhaschte.
Er krümmte sich noch mehr vor Schmerz, Liebeskummer und Suff, trank noch ein paar Schluck und schlief schliesslich ein, träumte von Murmelis und Heidis und Kühen und wurde am anderen Morgen durch einen kräftigen Fusstritt geweckt, in den eisigkalten Dorfbrunnen geschmissen und in die Uniform eines Söldnerregiments der katholischen Truppen der von Planta gesteckt.

Patrick Tschan, geboren 1962, lebt in Allschwil, Schweiz. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Patrick Tschan ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussball-Nationalmannschaft.

Am 27. März, um 19 Uhr, ist Buchtaufe im Literaturhaus Basel. Patrick Tschans neuer Roman «Der kubanische Käser» erscheint bei Zytglogge. Der hier veröffentlichte Text ist der Einstieg in den Roman.

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Urs Faes «Ins Schweigen reden»

Du bist allein im Haus, allein mit dem, was du jetzt ahnst, weißt und nicht annehmen willst: dass du nicht die grosse Liebe seines Lebens gewesen bist, sondern eine andere: Virginie. Oder einfach Ini. Sie und er, damals, und jetzt wieder. Schmerzt dich das?

Liebste Ini… so haben die Briefe angefangen. Das tönt zärtlich, vertraut, innig. Ja, innig ist das richtige Wort. Beeinander aufgehoben. Janek und Ini. Das tönt wie Hero und Leander. Des Meeres und der Liebe Wellen. Vom Winde verweht. Der grosse Gatsby. Janek und Ini. Wie die grossen Liebesgeschichten in der Literatur. Im Film.

Nicht grübeln. 

Eliane und Dorit kommen wieder. Sie lassen dich nicht im Stich. 

Jetzt bist du allein. In der Stille. In Gedanken. Im Schmerz. Das musst du mit dir austragen. Das nimmt dir keiner ab. Auch Eliane nicht.

Und Jakov?

Wo mag er sein? Auch allein? In einem Zimmer, das er nicht kennt? Ohne Worte für das, was ist. Fremd die Gesichter, die um ihn sind, die er nicht mehr erkennt. Irgend jemand könnte ihn besuchen, und er würde lachen, wie er immer Besuchern entgegengelacht hatte, freundlich, zuvorkommend, herzlich, ein zärtlicher Händedruck, eine sanfte Umarmung, ein gutes Wort. Jakov hatte für jeden ein gutes Wort, er war ein herzlicher Mensch, mit einem zärtlichen Blick auf die Menschen, auch auf dich. Vergiss das nicht. Wie liebevoll er sein konnte, fürsorglich, einer, der in den Augen der andern las, nicht nur ihre Wünsche, auch ihre Nachdenklichkeiten.

Und was ist mit diesem Kind? Jakovs Kind? Oder das Kind seines Vaters: Emily Mary Blumental. Ist Jakovs Vater der Vater oder der Grossvater des Kindes? Emily? Der Name ist nie gefallen. 

Du schüttelst dich, als könntest du abschütteln, was da ist, auf dir liegt, dir aufliegt.

Wie kannst du dich an Bilder halten, die nur eure sind, die Reisen, die vielen Reisen? Die Monate an der Baltischen See, Klaipeda, das Kurische Haff, das Ostseebad Cranz, eure Gänge durch die Birkenhaine bis zum Haff, in dem das Wasser im Sommer richtig heiss wurde, ein Dampfbad zwischen den Wanderdünen. Auch ihr habt eine Geschichte, du und Jakov. Aber du bist mit diesen Erinnerungen allein. In Jakov sind sie gelöscht, auch eure erste Begegnung im Rhein-Main-Flughafen. Auch eure Wanderferien im Bergell, das stundenlange Gehen, von Stampa über die Bogenbrücke der Maira und hinauf nach Coltura, zum Palazzo Castelmur. Jakov gefiel das Bild von Augusto Giacometti in San Pietro: Der Morgen der Auferstehung. Er buchstabierte das Wort: Risurrezione. Und er deutete auf das Epitaph unter dem Bild: Johannes und Magdalena. Ein Liebespaar, das aufersteht. Wer liebt, aufersteht. Jakov schien völlig fasziniert von diesem Gedanken und fotografierte das Bild zusammen mit dem Epitaph.

Langsam seid ihr dahingewandert, oft mit dem Blick ins Tal hinunter und hinauf zu den Bergen, den Piz Cam und den Pizzo Cengalo. In den Bergen war Jakov daheim, mountains home, sagte er, als wäre er in den geliebten Bighorn Mountains, wo ihr auf euren Ausritten dem Gros Ventre River gefolgt und hinauf auf die Spitze des Sleeping Indian Berges vorgedrungen seid, und ihr euch verloren habt im Hinunterblicken auf das Tal von Jackson Hole, an die Waipitis gedacht habt, die ihr auf eurer zweiten Reise, zum Schneeschuhfahren auf der Gros Ventre River Ranch, in der Nacht habt vor Hunger heulen hören, dieser unvergessliche Anblick: diese eng aneinander gelehnten Tiere im Schnee. 

Bilder, von denen Jakov nicht mehr spricht, die erdrückt und entrückt sind in ihm, vergessen, vergangen, versunken, in den Schutthalden seines Gehirns. Nur das ganz fern Erinnerte ist ihm noch nah, ein Frauenname, eine grosse Liebe.

Du bist allein mit euren Erinnerungsbildern, mit allem, was ihr gelebt habt: Du und Jakov, Herta und Jan. Das klingt nüchtern, alltäglich praktisch, zwei, die sich verstehen, sich arrangieren. Aber Janek und Ini, das bebt, das rührt an Traum und grosse Gefühle.

Du rufst allein eure Bilder zurück, kein „Weißt du noch, Jakov, die Gabelhorn-Antilopen unter den Laubbäumen im Boysen Park, nah am Ufer des Shoshoni, über dieser kleinen Bucht, in der das Schilf vom Licht angeblitzt wurde, ein heller Schein, gleissend hell…“. 

Nur bei dir ist das von euch Gelebte aufgehoben, euer Lebensbuch.

Ist das schon ein Nachruf? Jakov nachgerufen? Als wäre er schon nicht mehr da? Für dich ist er nicht mehr da, auch wenn er noch da ist. Gelöscht in Jakov, was dich, was euch betrifft, wie auf einem Bildschirm ein Text gelöscht wird, eine Melodie, ein Bild, ein Tastendruck und nichts mehr da, Leere.

Ini ist geblieben, erhalten, bewahrt, wie in Karneol unzerstört, zum unverhofften Wiedersehen, wundersam heil geblieben zwischen Gedächtnisablagerungen und Gehirnschuttverwicklungen, Denkhalden und Müllbergen.

Die Bildfolge Ini ist geblieben, lebt und atmet, weil die Liebe sie erhalten, stark gemacht hat, so stark, dass sie den Jahren trotzt, der Krankheit, dem Vergessen und Verlöschen, unsterblich ist, ewig.

Diese Vergangenheit ist geblieben und Gegenwart geworden. Janek und Ini, eine unsterbliche Liebe, das letzte Refugium eines verlorenen Gedächtnisses. Vielleicht wird sie auch bleiben, wenn Jakovs Gestalt still geworden ist, weil bleibt, was von der Liebe gebildet, getragen, unzerstörbar geworden ist. Weil die Liebe nicht vergeht, nie vergeht, auch  über den Tod hinaus? Ist es das, was uns antreibt, was in uns als Sehnsucht glüht, unstillbar? 

Auch dich hat das angetrieben, und du hast geglaubt, in Jakov diese Nähe gefunden zu haben, all die Jahre hast du das geglaubt. Du hast nicht geahnt, dass sie in ihm schon gefunden und verwahrt war und einen Namen trug: Ini.

Du wischst mit der Hand langsam durch die Luft, als wüsche deine Hand die Nacht, wüsche sie die Welt, wüsche herunter, was trübte, die Aussicht, die Fernsicht, die Rücksicht. Du musst sie waschen, die verwüstete Welt, die unter Schlacken, Ablagerungen siechende Welt da draussen; und die Welt in Jakovs Kopf, in Jakovs Gehirn, in Jakovs Gedächtnis, die wüst ist und fast leer, glanzlos geworden, stumpf, de-mens, von Sinnen, jetzt, erst jetzt verstehst du das Wort.

Du bist allein. Und wer allein ist mit den Erinnerungen und mit der wüsten Welt, der ist wirklich allein. So stehst du in diesem Korridor, so gehst du durch die Räume, greifst nach dem Halte-Tau an der Wand, das Jakov vom Schlafzimmer ins Bad und durch die Räume geleitet hat.
Du musst dich festhalten, dich anklammern am rauen Tau, gegen diesen Sturm, der weht, von einem verlorenen Paradies, von den Erinnerungen her, die dich aus dem Leben mit Jakov umweben und dem, was sie trübt: Janek und Ini. Du gerätst von Sinnen im Sinnen; wonach steht dir noch der Sinn?

Was kannst du dem entgegenstellen, was da weht, stürmt, heult, dich forttreibt?

Bleibt nur die Müdigkeit, und darin ein letzter Aufruhr, ein Dennoch, das schon nicht mehr trotzig, sondern nur noch ein Flügelschlagen ist, Einsicht?

Dieser Vers, den dir Eliane einmal aufgeschrieben hat, eine Frucht ihrer Theaterarbeit, als Trost gemeint, auch in der Bitterkeit: „Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar,/ Schatten, Worte, Wünsche, Taten,/ Die Gedanken nur sind wahr// Und die Liebe, die du fühltest,/ Und das Gute, das du tust;/ Und kein Wachen als im Schlafe,/ Wenn du einst im Grabe ruhst.// Possen! Possen! Andre Bilder/ Werden im Innern wach!“

Lachen über die Possenspiele des Lebens, zum Lächeln finden, zum Lassen, Loslassen, Zulassen, Ablassen?

Und einmal gelassen sein, Gelassenheit finden?

Und darin eingestehen, deine grosse Liebe war nicht, was du dachtest, war weniger, Schatten, ja ein Schatten, unter dem Schatten einer andern?

Und Jakov? Ist er jetzt leicht, zurück in der frühen Liebe, da wieder eingekehrt, darin jetzt gelassen, losgelassen von allem andern, von all dem, was lastet oder lasten könnte? Vom Leben?

Back home? War das nur diese im Kokon verwahrte Liebe?

Und du hast geglaubt, das gelte dem Heimweh nach den Weiten Wyomings, den Wäldern des Teton, dem gewundenen Lauf des Snake River, den kleinen Seen um Boulder Flats. Es hat, ohne dass er es nennen konnte, nur ihr gegolten, Virginie, der frühen, der grossen Liebe, nach der ihn ein Sehnen verzehrte; das war der Heart Lake, in dessen Wasser er getaucht ist und darin weiterschwimmt.

Hast du ihn für den genommen, der er gewesen ist, den versprengten Reiter, einer, der immer ein Reisender gewesen ist, einer, der von irgendwoher kam und nach irgendwohin aufbrach, getrieben von der unbestimmten Hoffnung, es gebe irgendwo eine Ankunft, beschlichen von der Ahnung, keine Ankunft zu finden. Vielleicht war es diese unbestimmte, diese unstillbare Sehnsucht, die ihn antrieb, die ihn reisen liess und nur einen Namen hatte. Vielleicht hat ihn das letztlich auch seine Statistiken schreiben lassen, dieser unbestimmte Leerraum, in dem alles entschwunden schien, in dem es keine Gewissheit gab, in Fülle verfügbar war nur der Mangel, der Mangel an Selbstgewissheit, an Heimat und menschlicher Bedingung in der Welt. Hat ihn dieser Mangel angetrieben, nach den früh erfahrenen Toten, der Mutter, von Virginie, von Ken, vielleicht auch von Emily? Und die immerwährende Angst vor Verlusten, immer neuen Verlusten, auch von dem, was man ist und lebt? 

Du zitterst. Du sagst so oft vielleicht? Vielleicht, weil du so wenig weißt, mit Gewissheit weißt: von Jakov, von dir selbst. Auch du hast Angst. Nichts ist sicher. Nur das Gefährdetsein, auch in der Liebe, die fragile Aussicht, den Alltag halten zu können, wenn überhaupt. Kannst du es noch? Noch weiter? Immer weiter? Gehen. Gehst du noch, oder stehst du?

Du gehst durch die Wohnung; durch die Ratlosigkeit gehst du, deine Ratlosigkeit. Deine Schritte widerhallen, dumpf patschend auf dem Parkett, ein Eichenparkett, hohl klingt das, als wäre alles hohl unter dir, voller Leerräume, mit Geheimnissen und Untaten, voller Archive, die jemand angelegt hat, von deinen Wegen, Schritten, deinen Sehnsüchten, das ist abgelegt in Schachteln und Mappen, du brauchst sie bloss zu öffnen, einzutreten in die Archive, in dir, unter dir, Archive, tief in die Erde hinein, unterkellert ist das alles, immer neue Räume mit Dokumenten, Mappen, Statistiken, die alles enthalten, was dich angeht, die infragestellen, was du empfunden, was du entschieden, was du gesprochen hast. Überall Papiere, Virginie-Papiere, Jakov-Papiere, Eliane- und Dorit-Papiere, alles ist voller Papiere, Buchstaben, Zeichen, Schriftzeichen, Wandzeichen, Menetekel. 

Soviel an Spuren aus einem Leben, soviel an Zeugnissen, Leidenschaften und Leiden, an Glück und Scheitern, an Ahnungen und Vermutungen, und so wenig an Gewissheit, an Klarheit, selbst da, wo Zahlen und Namen und Daten sind, so flüchtig, so undurchschaubar, so dämmerhaft und unzugänglich bleibt, was einer gelebt, du, Jakov, Ini.

Du gehst, und von draussen fällt jetzt das Licht herein, fällt auf den Boden, stumpf, dumpf, wie die Schritte, die du machst, behutsam, ängstlich. Dünn ist die Kruste über diesem Hohlraum unter dir, das Echo verrät es, das ist hohl da unten, du kannst jederzeit einbrechen, durchbrechen wie durch das Eis auf dem See, das voller brüchiger Stellen ist, die nicht tragen, die dich in die Tiefe fallen lassen, in die Archivschächte des Erdachten, mit den Schachteln des Erinnerten, mit den Statistiken deiner Irrtümer, Irrwege und Irrfahrten, mit diesen Papieren, Virginie-Papieren, Jakov-Papieren, mit den Rechnungen, Statistiken, Zahlen, alles ist voller Zahlen, als zählten nur noch die Zahlen.

Dieser Text, den mir Urs Faes freundlicherweise zur Verfügung stellt, ist ein erster Blick in seinen neuen Roman.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Er ist einer der Grossen der Schweizer Literatur. 1983, vor 35 Jahren, erschien sein erster Roman «Webfehler» bei Lenos. 1989 wechselte er zu Suhrkamp und veröffentlicht dort seit 30 Jahren Romane und Erzählungen. 2017 erschien «Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch» in dem er seine Erfahrungen mit einer schweren Krankheit mit der Geschichte seiner Herkunft verwob. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis. Zuletzt erschien in der Insel Bücherei die Erzählung «Raunächte».

«Urs Faes’ Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.«

Rezension von «Raunächte»  auf literaturblatt.ch

Rezension von «Halt auf Verlangen» auf literaturblatt.ch

Urs Faes im Logbuch von Suhrkamp

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ekko von Schwichow

Hansjörg Schertenleib «Der Stich»

Er sitzt allein an einem Tisch im Biergarten und versucht, sich mit der Hitze zu arrangieren. Überzeugt davon, nicht beobachtet zu werden, lehnt er sich auf dem Stuhl zur Seite und legt die rechte Hand auf den Stamm des Baumes, dessen Blätterdach das Abendlicht filtert. Die vernarbte, stellenweise von tiefen Rissen aufgesprengte Rinde des Baumes fühlt sich an wie die Haut eines uralten Tieres, fällt ihm ein. Er riecht an seinen Fingern und denkt seltsamerweise an Rossseich. Greift Wind in die Äste, blitzen Lichtsicheln über die Tische, das Kies, und die Gesichter der Gäste. Rossseich! Was für ein Wort, er hat es lange nicht mehr gedacht. Er reagiert hektisch, ja panisch auf die Wespen, die über den Gastgarten herfallen, nervös auf- und absteigen, hektisch Runden fliegen, Achten, Ellipsen, oder wie schwankende, schwere Transporthubschrauber an seinem Tisch auftauchen und nicht einmal mit wedelnden Händen vom Kurs abzubringen sind. Gelegentlich schliessen sich die Wespen zu Kampfgeschwadern aus vier, fünf Insekten zusammen, die im Verbund anfliegen, vor seinem Gesicht in der Luft stehen bleiben und nur in die Höhe steigen, abdrehen und ein anderes Glas, einen anderen Teller anfliegen, wenn er mit beiden Händen fuchtelt und laut schimpft. Die Gelassenheit, die Wespen nicht zu beachten, geht ihm ab.  Es gibt nicht viele Tiere, die er nicht mag: Schlangen, Aale, abgerichtete Hunde, Wespen.

Von seinem Tisch geht der Blick über ein aufgebocktes Boot hinweg auf einen Kanal, auf dem manchmal, geräuschlos wie in einem Traum, Paddelboote vorbeigleiten. Am Himmelsausschnitt über seinem Kopf jagen Schwalben, das flaschengrüne Wasser des Kanales spiegelt Büsche, Bäume. Ein Junge steht unter einem Baum am Ufer des Kanals und drischt mit einem Stecken auf die Blätter eines herunterhängenden Astes ein, um sie zu zerfetzen. Warum steht er nicht auf und greift ein? Weil er keine Lust hat auf eine Auseinandersetzung mit dem Mann, wohl der Vater des Jungen, der auf der Treppe sitzt, die zum kleinen Bootshafen des Hotels führt, raucht und das Kind stolz anlächelt. Eine Krähe stösst ihre knarzenden Rufe aus, in irgendeinem der Bäume über ihren Köpfen, höhnisch, anklagend, ein Verbündeter im Geäst? Er lebte mehr als zwanzig Jahren in Irland und hat gelernt, Landsleute treffsicher zu erkennen. Um zu wissen, dass das Paar, es sitzt zwei Tische entfernt von ihm, wie er aus der Schweiz stammt, müsste er deshalb gar nicht hören, welche Sprache sie sprechen. Er bräuchte dem Mann also nicht zuzuhören und tut es doch. Wie viele Männer aus seiner alten Heimat sich doch über ihre Zeit im Militär definieren! Das Gesicht des Mannes strahlt, die Episode aus seiner Rekrutenschule, wie viele Jahre mag sie zurückliegen?, macht sein Gesicht frisch, der schön geformte Mund der Frau dagegen wird schmal, wird Strich. Der Mann, er scheint von Satz zu Satz jünger zu werden, erzählt von einer Velofahrt, die seine Kameraden und er in der drittletzten Woche der Ausbildung durchzustehen hatten, hundertachtzig Kilometer auf dem schweren Waffenrad, ohne Licht, ohne Lärm, die dreissig Kilogramm des Sturmgepäcks am Rücken, Rad an Rad über den Julier, ohne den Hintern aus dem Ledersattel zu heben, denn das war streng verboten. Als sie endlich auf der Passhöhe ankommen, befiehlt ihnen der Major, abzusteigen. Der Russe, behauptet er grinsend, hat Nägel gestreut, was die todmüden Rekruten um die herbeigesehnte Talfahrt betrügt, da sie ihre Velos, um den imaginierten Nägel zu entgehen, den langen Weg talab schieben müssen. Der Mann hat sich ins Feuer geredet, das Gesicht der Frau verrät, sie hat die Erinnerung zu oft gehört, um Bewunderung oder wenigstens Interesse zu heucheln. Der Mann räuspert sich, wirft die Stoffserviette auf den Tisch, steht abrupt auf und verschwindet mit steifem Gang in der Gaststube. Die Welt, sie ist ein Jammertal, denkt er und sieht die Rekruten vor sich, die die Phantasie ihres Majors verfluchen und sich doch danach richten, indem sie verstohlen nach Nägeln Ausschau halten. Die Hitze, die wie eine Glocke über dem Spreewald steht, zwänge meine früheren irischen Nachbaren in die Knie, weiss er, und greift nach der Serviette, um sich den Schweiss von den Unterarmen zu wischen. Dass sich eine Wespe in der Serviette verbirgt, begreift er erst, als er damit über die linke Ellbeuge streicht: es ist mehr als vierzig Jahre her, seit er das letzte Mal von einer Wespe gestochen worden ist; der jähe Schmerz schlägt die Brücke in seine Jugend. Der Stich brennt wie Feuer, wird zündrot, schwillt aber bloss leicht an. Ist er allergisch? Er zerdrückt die Wespe mit der Serviette, beugt den Arm, auf, zu, auf zu, bemüht, ruhig zu atmen und auf keinen Fall in Panik zu geraten. Die Frau am Nebentisch sieht ihn aufmerksam an und gibt seinen Blick erst frei, als er beruhigend lächelt und den Kopf schüttelt. Damals hat er jedenfalls nicht allergisch auf den Stich reagiert; er war barfuss über die Wiese hinter dem Elternhaus seiner Mutter im Salzkammergut gegangen, in der, von Vogelschnäbeln malträtiert, von Wespen umschwirrt, Birnen lagen, und mit dem linken Fuss auf eine Wespe getreten. Er hatte über die Wiese gehen wollen, um Helga zu küssen, das erste Mal überhaupt ein Mädchen zu küssen, Helga, das Nachbarmädchen, das im Dämmerlicht des Schopfes auf ihn wartete, in dem sein Onkel nach Schichtende in der Saline Liebes- und Jagdszenen in Knöpfe und Gürtelschnallen aus Hirschgeweihen schnitt. Helga, das Mädchen, das bellend und abgehackt lachte, als amüsiere es sich über etwas, das überhaupt nicht lustig war, Helga, das Mädchen, das seinen gestochenen Fuss massierte, bevor sie ihm beibrachte, wie man küsst, richtig küsst, auch wenn man sich nicht liebt, Helga, die mit 22 Jahren unter den Zug ging, hundert Meter vom Bahnhof in Bad Ischl entfernt, Helga mit den Sommersprossen und den dicken gelben Zöpfen, nach denen er griff wie nach Seilen, weil sie ihm den Halt gaben, den er sonst nirgends fand. Er hat den süssen Moderduft der faulenden, gärenden Birnen in der Nase, den der Wind nachts in sein Schlafzimmerchen unter dem Dach trug, das er mit seiner Schwester teilte, spürt den damaligen Stich in der Fusssohle brennen, während er den Stich in der Armbeuge, den er eben erhalten hat, massiert. Er glaubt, Helgas Lippen zu spüren, beschliesst, ein weiteres Glas von dem Grauen Burgunder zu trinken und schliesst die Augen, um in der Vergangenheit zu weilen, bis der Kellner an seinen Tisch tritt.

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Rezension mit Interview von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch

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Konrad Pauli «Demenz»

Demenz

Er kann es nicht verstehen, er schaut, so lange er es zu tun vermag, seine leeren Hände an. Einen Nachmittag lang, denn er ist, ohne es zu wissen, in der Demenzklinik untergebracht und dort nun zu Hause. Wo er zuvor zu Hause gewesen ist, hat er vergessen. Aber er weiss auch nicht mehr, was er denn vergessen haben soll. 

Er schaut seine Hände an, die hatten bis jetzt doch etwas in Händen gehabt. Einen Teddy hatte er bei sich gehabt und stets an sich gedrückt. Er war so wunderbar weich, obschon er vergessen hatte, was Weichheit bedeuten mochte. Aber die Hände waren nun leer. Die Finger suchten nach der verlorenen Weichheit. In ihnen waren doch auch die Knopfaugen, in ihnen sah er sich oft gespiegelt. Mit dem Teddy waren auch die Knopfaugen verschwunden. Ihm war entgangen, wohin sie denn gegangen sein mochten. Keinen der möglichen Wege vermochte er sich zu denken. Überhaupt das Denken. Das verbliebene Bisschen Denken liess ihn an gar nichts mehr denken. Aber es fehlte etwas    und die Finger zappelten, so als suchten sie danach. Wo er allenfalls zu suchen hatte, blieb ihm ein Rätsel. Selbst Rätselhaftes verschwamm im Dunst. Aber die Finger hielten nicht still. Irgendmal gebot ihnen die Müdigkeit Halt. Aber irgendmal würde die Suche, ohne dass er dies wusste, zu neuem, richtungslosen Leben erwachen. So würden die Finger stets etwas zu suchen haben.    Später kam die Pflegerin. Einen wunderschönen, selbstgemachten Bären hielt sie in der Hand. Die feinen Haare des Bären strichen ihm über die zappelnden Finger    und neue Knopfaugen suchten den Kontakt. Zunächst witterten die Finger Verrat    da stimmt etwas nicht. Endlich, als berührten sie Heisses, zogen die Finger das neue Pelzgeschöpf an die Brust, drückten es fest und beruhigten sich.

 

Frühlingserwachen 1

Es scheint, der Frühling wolle an diesem sonnigen Märztag in einem Atemzug explodieren. Zwar sind viele Passanten noch eingepackt in Mäntel, Schal, Kapuze und Wollmützen    sie wollen noch nicht wahrhaben, dass die jähe Wärme ihnen an den Kragen gehen will. Wie zugeschnürt, die steifen Arme an den Körper gepresst, kommen sie daher, während der Eisstand binnen kurzem von einer langen Menschenschlange belagert wird. Vorbeigehende, Ältere, wundern sich, dass man für Abkühlung und gleichwelchen Genuss so lange anzustehen bereit ist. Wer’s geschafft hat, sitzt auf Bänken und Mäuerchen und schleckt, damit ja kein Tropfen verloren geht. Die Saison ist eröffnet, das grosse Spriessen eingeläutet. 

Auch die beiden Ringeltauben spüren, wie man zu sagen pflegt, den Frühling. Auf der Netzstange an der Kornhausbrücke inszenieren sie ihre Annäherungsversuche, ihren Balztanz, ohne vorerst zusammenzufinden. In aller Unruhe, ja Nervosität tänzelt das Männchen auf das Weibchen zu, das seinen Schrittchen synchron mit einem Wegrutschen antwortet. Naturgemäss bleibt das Männchen gewissermassen am Ball, schiebt sich, den Abstand zu verringern, auf das Weibchen zu, will sogleich aufsitzen, hat aber in seiner Hast, seinem stürmischen Verlangen Gleichgewichtsprobleme, die der Verehrer mit Flügelschlagen auffängt und ins Lot bringt. Dem Weibchen ist so eine fünf Sekunden lange Atempause vergönnt, um notdürftig sein Federkleid zu richten, aber der Bewerber hakt sogleich nach, lässt nicht locker und tänzelt neue Anläufe. Von solcher Beharrlichkeit scheint die Taubendame tief beeindruckt zu sein, also lässt sie den Taubenmann gefährlich oder erfreulich nahe an sich herankommen. Auf der dünnen Stange ein Balanceakt sondergleichen. Die verlockende Nähe der Dame ermuntert den Täuberich, nun aufs Ganze zu gehen. Flatternd will er ihr zu Leibe rücken    flatternd wehrt sie sein Ansinnen entschieden ab, rutscht aber bloss zwei Handbreit weg. Das ernsthafte Spiel setzt Runde um Runde. Seine niemals groben Attacken bleiben ohne Erfüllung. Doch die Erregung drängt ihn stets zu neuen, nun mutiger gewagten Anläufen, die das Weibchen aber jedesmal pariert. Ist’s der richtige Bewerber, wird das Weibchen irgendmal nachsichtig und bereit sein. Vorerst zeigt sie ihm nach einem weiteren Versuch sozusagen die kalte Schulter, fliegt schräg über ein Ziegeldach und versteckt sich in den Ästen einer Tanne. Der Täuberich ist versucht, ihr gleich nachzufliegen, guckt ihr trippelnd nach, bleibt aber mit plötzlich gestrecktem Hals auf der Stange. Nun ist er zu stolz, sie im Tannenversteck aufzuspüren. 

 

Frühlingserwachen 2

Von weither, kaum gefiltert vom jungen Buchenlaub, kommt der Lärm, der sich nach wenigen Schritten als Frösche-Quaken verrät. Dieser kleine Teich im Wald inszeniert Grosses: Jetzt gilt es ernst, es gibt kein Zögern, kein Verweilen mehr. Die Natur gebietet und fordert ihren Tribut. Das Gesetz muss erfüllt werden. Kaum ein anderes Geräusch hat in diesem Heidenlärm Platz. Es geht sozusagen um Tod und Leben. Und das Leben muss um alles in der Welt weitergegeben werden. Wer noch kein Weibchen gefunden hat, bläht die Schallblasen schier bis zum Platzen. Diese naturgegebene Aufgeblasenheit! Emsiges Werben bringt die Wasserhaut zum Zittern. Es gilt keine Zeit zu verlieren    nicht die kleinste Pause gönnen sie sich.

© Konrad Pauli

Nur eine Katze

Die nicht mehr junge Katze gehörte, sozusagen als Stammgast, zur Metzgerei Schori. Zum Betteln war sie zu vornehm, dafür sass sie vormittags beinahe stundenlang vor, will sagen neben der Tür – denn sie hatte gelernt, keinem Kunden ein Hindernis zu sein. Sie sass da und wartete. Sie wartete auf das Stückchen Fleisch, das ihr irgendmal vor die Pfoten gelegt wurde. Ging man an der Metzgerei vorbei – mit Sicherheit war sie da. Sie liess sich streicheln, sie war hier zu Hause. Einmal schaffte sie es gar in die Quartierzeitung. Nun kannte sie jedes Kind, jetzt war sie ein Star ohne Allüren. Nach über hundertjährigem Familienbetrieb hat die Metzgerei Schori nun die Pforten geschlossen. Davon weiss die Katze noch nichts. Wie gewohnt steht sie – ein Vorbild an Geduld – vor der Tür, aber bald scheint sie zu spüren, dass hinter geschlossenen Storen die alte Ordnung nicht bloss ins Wanken geraten war, sondern die endgültige Veränderung eingeleitet hat. Ungläubig harrt sie aus. Sie geht zwar weg, kommt auf Umwegen aber wieder zurück – noch kann sie nicht fassen, was man ihr angetan hat. Doch die Storen knattern nicht mehr hoch. Kein Lichtblick ins Innere. Keine Verheissung, auf deren Erfüllung zu warten sich lohnt. Noch wärmt die Herbstsonne. Streichelt im Vorbeigehen ein Kind die Katze, knistert ihr Fell. Aber die warmen Tage sind gezählt. Ob die Katze aus der Heimatlosigkeit herausfinden wird, ist ungewiss.

 

Atempause

Regelmässig kurz vor Mittag macht der alte, bauchstarke, indes rüstige Mann Pause vor dem Eingang zur Coop. Es steht da ein Metallgestell, vollgestopft mit einem Dutzend Besen. Auf diesem Gestellrand thront breitbeinig, wie angeklebt, der stattliche Mann – umrahmt vom Kranz der neuen Besen. Man möchte ein Foto machen, scheut sich aber davor, möchte den Mann auch nicht um Erlaubnis bitten, denn er kann im Laden auch mal mit den Armen rudern, sich Platz verschaffen und lautstark alle Hindernisse verfluchen. Man lässt ihn also dort sitzen und das Büchsenbier geniessen – wie eine Trophäe hält er es in der Hand. Man wagt nicht einmal den Augenkontakt, leicht erlebt er Solches als Provokation. Über den Rollator gebeugt steht heute ein Altersgenosse bei ihm – und der Biertrinker fasst, so als stehe er auf grosser Bühne, ein leises Votum seines stillen Gastes zusammen: Ja, das waren noch Zeiten, früher, als wir noch Zeit hatten.

 

Atempause II

Eine Atempause. Doch wofür ist sie zu nutzen? Womit sie füllen? Ist’s ein Zwang, ein Naturgesetz gar, dem Nützlichkeitsgedanken nachzuhängen und eine womöglich harmlose Leere füllen zu müssen? Käme man sich allenfalls abhanden? Was verlöre man im Verpassen, im Liegenlassen? Stets hat man eine Ahnung davon, könnte gar Manches aufzählen. Zu erledigen ist Vieles.  –  Erledigen? Muss getan sein  –  aber nicht alles passt in diese Kategorie, diese Schachtel. Was aber ist ausserhalb? Da rumort das Ungewisse, nicht hurtig Benennbare. Ahnungen, vage Vorsätze zuhauf. Aber halt. Es fällt zu leicht, im Wolkenkuckucksheim alles Diffuse bloss anzuhäufen.
Besser, man hält sich ans Konkrete. Was da ist im Augenblick: Herbstblätter scherbeln dürr über den Asphalt, es ist, als wollten sie ihn ritzen; mit einigen inszeniert der Wind einen kreisrunden Tanz. Ein Paar- oder Gruppentanz, rasch wieder auseinander gerissen. Zwei kleine Mädchen auf Minifahrrädern wehren sich kreischend, aber entzückt gegen die Kippgefahr der Böen. Ein Hund jagt einem flüchtenden Ahornblatt nach. Soldaten mischen ihre Tenü-Tarnfarben ins Herbstliche. Die dünnen Wolken wissen nicht, wohin sie ziehen sollen. Mit den immensen Auswahlmöglichkeiten können sie vorerst wenig anfangen. Dass die Böen bodenwärts ziehen, will wenig heissen. In Minuten kann sich Vieles ändern. Vorerst aber tragen die Passanten ihre Jacken und Mäntel offen. Ein Milan fliegt wie noch nie so niedrig über die Dächer. Hinter Wolkenschleiern erbleicht das Sonnenlicht. Nicht lange lässt die Dämmerung  auf sich warten. Womöglich ist bei solchem Verweilen wenig gewonnen, aber kaum etwas verpasst worden.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen „Ein Heldenleben“, „Seit jeher unterwegs“, „Marcos Blicke in Seeland“, Weitergehen“ und „Ein Romantiker in nüchterner Zeit“ (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Gabrielle Alioth «But you don’t really care for music, do you? – Szenen zu Leonard Cohen»

It’s time that we began to laugh and cry and cry and laugh

Ich bin dreizehn Jahre alt, meine ältere Schwester liest Salut les Copains und hört Jacques Brel. Wir haben die Maiunruhen, den Prager Frühling und den Vietnamkrieg am Fernsehen gesehen. An diesem Morgen stehe ich an der Haltestelle und warte auf den Bus, mit dem ich in die Stadt zur Schule fahren werde. Das rote Beret trage ich nicht mehr, es verrutscht auf meinem glatten braunen Haar. Dolly hat blondes gewelltes Haar, und ich bewundere sie. Sie kennt sich aus, auch mit Männern. An diesem Morgen singt sie den Refrain eines englischen Liedes. Ich verstehe fast alles, obwohl ich in der Schule nicht Englisch, sondern Altgriechisch lerne, und summe mit. Bis sie inne hält: „Du weißt natürlich, dass es laugh heißt, lachen und nicht lieben?“
„Natürlich“, lüge ich.

Many loved before us, I know that we are not new

Ich bin fünfzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester hat mir ihr Moped geliehen. Es ist Samstagabend, und ich fahre an das Sommerfest auf dem Hügel am Stadtrand. Es dauert nicht lange, bis ich Urs finde. Er hat blaue Augen und gewelltes Haar. Er ist auf dem Weg zu einem Konzert und überrascht, als ich frage, ob ich mitkommen dürfe. Das Konzert findet in einem Gemeindesaal statt. Die erste Band spielt schon, als wir ankommen, und es ist dunkel, aber ich sehe Dolly in einer Ecke in den Armen ihres Freundes. Wir hocken uns auf den Boden zwischen die anderen. Urs küsst mich. Ich überlege, was er mit seiner Zunge in meinem Mund sucht, aber ich weiß es nicht.

I will help you if I must, I will kill you if I can

Ich bin siebzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester wohnt nicht mehr zu Hause. Es ist Herbst, und ich fühle mich gut, aber ich kann es nicht länger verbergen. Ich muss etwas tun. Es macht überhaupt nicht weh, und als in der Nacht das Wasser bricht, hänge ich das nasse Leintuch über den Stuhl und lege mich wieder schlafen. Ich schlafe so gut in diesem Jahr. Am übernächsten Morgen bestellt meine Mutter ein Taxi. Ich schreie während der Fahrt und im Treppenhaus vor der Arztpraxis. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Kinder allein im Urwald gebären. Eine Woche später gehe ich wieder in die Schule.

Just win me or lose me

Ich bin neunzehn Jahre alt, meine ältere Schwester ist nach Salzburg gezogen. Richard hat blaue Augen und blondes gewelltes Haar. Ich öffne den Mund, als er mich küsst. Richard ist aus gutem Haus und kennt sich aus. Ich erzähle ihm von dem Kind, aber er weiß, was er will. Nach dem Studium heiraten wir.

Waiting for the miracle to come

Es ist Sonntagnachmittag, und wir spazieren den Rhein entlang. Richard spricht über die Arbeit an seiner Dissertation. Ich denke an die Servietten, die ich noch bügeln muss, und die Kurzgeschichte über die toten Katzen, die ich gern schreiben würde. Wir setzen uns auf eine Bank. Richard erklärt mir, wer von seinen Verwandten in den Patrizierhäusern am gegenüberliegenden Ufer wohnt, und ich weiß, dass ich das nicht ein Leben lang aushalten werde.

And is this what you wanted, to live in a house that is haunted, by the ghost of you and me

Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und wir haben ein Haus in Irland gekauft. Es hat keine Heizung, kein Bad, die Fenster sind zerbrochen, aber es liegt am Hang eines Tales durch den ein Bach fließt. An einem Morgen im ersten Winter stehe ich am Ufer, als die Sonne aufgeht, und sehe den Tau in den Spinnweben zwischen den Schilfhalmen glitzern. Ich weiß, dass ich so lange hier bleiben werde, wie ich kann.

Give me back the Berlin wall

Im Sommer 1987 fahren wir zum ersten Mal nach Berlin. Die Grenzposten sehen so aus wie in Irland, nur dass die Soldaten ihre Gesichter nicht mit Tarnfarbe beschmiert haben. Während Richard Zeitungsredaktionen besucht, fahre ich mit der U-Bahn in den Osten und kaufe günstige Buchausgaben von Goethe, Fontane, Heinrich Mann. Unter den Linden muss ich an das Lied von Hildegard Knef denken.

And no one knows why the wine is flowing

Wir haben uns in dem Haus über dem Tal eingerichtet und mehr Land gekauft, nun gehört uns auch der Bach. Ich habe meinen ersten Roman veröffentlicht und beschlossen, weiterzuschreiben anstatt Kinder zu haben. Richard ist erfolgreich als Journalist; wenn es nötig ist, helfe ich ihm. Manchmal gehe ich gegen Abend an den Bach hinunter und schaue dem Wasser zu. In den kleinen Buchten am Ufer dreht es sich in Wirbeln. Das Tal ist ein Teil von mir, aber ich weiß es noch nicht.

Everybody knows that the war is over

Am 31. August 1994 gehe ich wie jeden Morgen mit den Hunden am Strand spazieren. Am Abend zuvor hat die IRA eine unbefristete Waffenruhe erklärt. Es wird noch vier Jahre dauern, bis das Karfreitagsabkommen unterzeichnet wird. Der Kormoran, der an diesem Morgen in der Mündung des Flusses sitzt, hat seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. Er sieht aus wie ein Wappentier.

Dance me to the end of love

Am Montagabend fahren wir in die Stadt für die Tanzstunden. Es ist kalt in dem großen Saal, wir sind allein mit der Lehrerin, und sie muss uns die Schritte immer wieder zeigen. Richard wird wütend, wenn er Fehler macht. Wir wissen beide, dass wir den Tango niemals lernen werden. Ich würde gern Rumba tanzen können. Es heißt, Rumba sei der Tanz der Liebe.

That’s how the light gets in

Ich arbeite an meinem vierten Roman. Es ist der hermetischste, den ich je schreiben werde, und ich weiß, dass ich am Ende eines Weges bin. Für drei Monate lebe ich in Santa Monica. Die Jacarandas blühen. Gegen Abend spaziere ich manchmal zum Meer hinunter, um den Sonnenuntergang zu sehen.

If you want a lover

Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, als ich Dich wieder treffe. Ich weiß sofort, dass ich Dich liebe. Du sagst, es ist genauso wie damals. Ich bin glücklich, ich sehe es, als ich in den Spiegel schaue. Ich nehme mir vor, die zweite Chance nicht zu vertun.

There ain’t no cure

In unserer ersten Nacht klingelt Dein Telefon. Ein Notfall, Du musst ins Krankenhaus zurück. Vom Fenster des dunklen Zimmers aus sehe ich, wie Du auf dem Hotelparkplatz ins Auto steigst und den Motor startest. Bevor Du los fährst, blendest Du den Schweinwerfer für einen Augenblick auf. Die Zärtlichkeit des Lichts schnürt mir die Kehle zu.

It don’t matter how you worship as long as you’re down on your knees

Wir sehen uns heimlich, und oft muss ich auf Dich warten. Aber es ist besser, als nicht zu warten, und wenn Du da bist, ist es nicht mehr wichtig. Es fällt mir leicht, ein Doppelleben zu führen, und manchmal macht es auch Spaß. Ich schreibe über die Liebe.

The odds are there to beat

An einem Abendessen nach einer Lesung in Dhaka liest mir mein Tischnachbar aus der Hand. „There was an accident in your life“, sagt er. Ich weiß, wovon er spricht. „And there is another one to come.“ Die Gespräche am Tisch verstummen. Als ich am Tag darauf in einer Maschine der Bangla Airlines nach Kalkutta zurückfliege, überlege ich, ob ein Flugzeugabsturz ein accident ist. Aber natürlich stünde der nicht in meiner Hand.

If it be your will

Nach zehn Jahren erfährt Richard, dass ich ihn betrüge. Er sagt, er habe immer gewusst, dass ich eine Lügnerin sei. Der Scheidungstermin ist Ende Dezember. Die Verhandlung dauert nur ein paar Minuten, dann wünscht die Richterin uns Glück. Ich sehe Richard in seinem Regenmantel die Straße hinuntergehen und denke, dass er Dir dankbar sein sollte.

And thanks, for the trouble you took from her eyes, I thought it was there for good so I never tried

Ich gewöhne mich an das Alleinleben; an den Verlust des Tales werde ich mich nie gewöhnen. Ich richte mich in einem kleinen Haus auf einem Hügel ein, und jeden Morgen gehe ich mit dem Hund am Strand spazieren. Ich treffe Dich alle paar Wochen für zwei, drei Nächte, meist in einer fremden Stadt. Es ist nicht wichtig wo.

Everything depends upon, how near you sleep to me

Ich bin dreiundsechzig Jahre alt, Leonard Cohen ist vor zwei Jahren gestorben, meine Schwester lebt immer noch in Salzburg. Ich dachte stets, dass ich lieber ein interessantes als ein glückliches Leben hätte; es ist so schwer, über Glück zu schreiben. Heute scheint mir, dass wir unsere Möglichkeiten, über unser Leben zu entscheiden, maßlos überschätzen. Das Meiste passiert einfach – Liebe, Tod – und wir wissen nicht warum.

The story’s told, with facts and lies.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Ihr neuster Roman «Gallus, der Fremde» erschien bei Lenos. Im Waldgut Verlag erscheint im März erstmals ein Gedichtband «Der Mantel der Dichterin».

Rezension von «Gallus, der Fremde» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Laura Vogt: «Ich über – (Laura Vogt)», Plattform Gegenzauber

Ich soll nicht über das Ich schreiben, heisst es da und dort in der Literaturwelt, denn es bedeute Nabelschau. Welches Ich?, frage ich mich, und wer stellt hier die Bedingungen, für wen, wofür und warum?
Ich sitze an der Alten Donau, wie unwienerisch: lautes Froschquaken, Vögel singen; ich höre den Wind in den Bäumen, eine Kettensäge in der Ferne und Autorauschen von der grossen Strasse her, die über den Fluss führt. Dahinter schiessen hochmoderne Wolkenkratzer in die Höhe. Clean wirken sie, als würden sie aus der Erde wachsen, genau wie das Schilf direkt vor mir.
Zurück zum Ich, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Zwei junge Frauen, die je einen Kinderwagen vor sich her schieben, spazieren an mir vorbei; ich habe mein Kind zu Hause in St. Gallen gelassen und in den letzten zwei Tagen so wenig gesprochen wie seit mindestens zwei Jahren nicht mehr. Ich gehe alleine der Alten Donau entlang, und am Morgen ging ich auch ganz für mich durch Wiens Strassen und Gassen, am Museumsquartier und an der Hofburg vorbei, an Touristenströmen vorüber und durch sie hindurch.
Ich bin flüssig wie Honig.
Ich rinne vor mich hin, eher dünn- als dickflüssig bei der Hitze, und ich lasse an mir kleben, was mir gefällt, um die Dinge später, wenn ich ein Gegenstück habe, zu verwerten. (Brot für den Honig. Ein menschliches Gegenüber oder einen Stift & ein Stück Papier für das Ich)
Ich zergehe mir selbst im Mund.
Ich schlucke und verdaue all die Wörter, die ich lese.
Das Ich und seine mannigfaltigen Möglichkeiten. Das Ich in seinem Nichts.
Losgelöst von meinem Leben und mitten in ihm – zurück von der Alten Donau in der Wiener Innenstadt – betrete ich das Leopold Museum. Ich betrachte die Bilder von Egon Schiele, wegen derer ich in die Stadt gekommen bin. Hunderte Selbstporträts hat Schiele vor rund hundert Jahren gemalt. Klare Linien zeigen mal einen ganzen Körper, mal nur einen Torso; dürre Beine, schlaffer Penis, lavarote Nippel, aufgerissener Mund, die Stirn in Falten, ein honiggelber Körper. Das Ich als Märtyrer, als Heiliger, als Leidender.
Schiele hat sich nicht festgelegt. Er hat Ich gesagt und Vieles und Nichts gemeint.
Ich richte mich auf. Ich habe Durst. Mein kinderloses Ich steigt die Treppe hoch ins Café Leopold und wirft einen Blick in die Getränkekarte. Als der Kellner vor meinem Tisch stehen bleibt und fragt, was er mir bringen soll, deutet mein Zeigefinger auf „All I Need“. Grüntee belebt.

Laura Vogt, geboren 1989 in der Ostschweiz, absolvierte das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Davor studierte sie fünf Semester Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und hielt sich längere Zeit in Uganda, Ägypten und Griechenland auf. Sie schreibt Prosa, lyrische und journalistische Texte und ist zudem als Schriftdolmetscherin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen» (VGS St. Gallen). 2012 war sie Siegerin beim Schreibwettbewerb des Thuner Literaturfestival Literaare, 2014 erhielt sie einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung und 2017 einen Werkbeitrag der Stadt St. Gallen.

Im Januar wird das Stück „Die Traumbeschauten“ in der Offenen Kirche, St. Gallen aufgeführt. Laura Vogt schrieb den Text für dieses Musiktheater.

https://inscriptum.ch/programm/

Webseite der Autorin

Fee Katrin Kanzler «Mächtige Männer warten lassen»

I tried and failed to be a character in a story somebody else had written for me. – Laurie Penny

Krishna war ein kleiner, zu dünner Säugling mit schwarzem Haarflaum. Dass Krishna der Name eines Hindugottes ist, eines blütengeschmückten Flötenspielers, um den sich weiße Kühe scharen, hatte die Mutter nicht geschert. Sie wusste nicht, dass hinter dem Wort eine der zehn Inkarnationen Vishnus steckt, ein blauhäutiger Weiberheld. Sie nannte ihre Tochter Krishna, weil sie den Namen bei George Harrison aufgeschnappt hatte, seine ausgefallene Schreibweise, seinen Klang mochte. Einzig dem betreuenden Arzt fiel der Zusammenhang zwischen dem Namen und der leicht bläulichen Haut des Mädchens auf.

Vom Turm herab schlägt es fünf Uhr, ein spröder, hungriger Ton. Die Marktleute klappen ihre Buden zu, sammeln das restliche Gemüse ein. Ein paar letzte Tüten werden hastig an den Mann gebracht, bevor ein Verkaufswagen nach dem anderen davonrollt. Ein leichter Nieselregen setzt ein.
Die Künstlerin geht über den Platz, das Haar unter ihrer Kapuze verborgen. Schon von Weitem sieht sie den geschwungenen Schriftzug, die rote Eingangstür, die Lichter des Bistros. Drinnen baumeln Kronleuchter wie silberne Spinnen von der Decke. Unter einer der Glitzertaranteln sitzt der Mann mit dem Geld.
Er lümmelt mit dem Rücken zum Fenster, sie kann seine Halbglatze ausmachen, das immergleiche Grau seiner Schultern. Sie weiß, wie es abläuft, sie wird ihm gegenüber Platz nehmen, in dem engen Gang zwischen den Cafétischen, durch den wieder und wieder die Bedienung flitzt. Wenn andere Gäste die Tür öffnen, wird sie den kühlen Zug der Abendluft spüren, während der Mann mit dem Geld auf sie einredet, ihr sagt, was geht, was nicht geht und was er will. Manchmal wird der Ellenbogen der Kellnerin ihren Hinterkopf streifen, so dass sie ständig befürchtet, über ihr könnte ein Tablett voll Kaffeetassen ausgekippt werden. Schon vier solcher Treffen hat sie hinter sich, ohne dass die großen Versprechungen wahr geworden wären.
Etwas Pinkfarbenes leuchtet ihr auf dem nieselnassen Boden entgegen. Ihre Schritte verlangsamen sich. Eine liegengebliebene Nelke. Die Künstlerin macht ein Foto von der Blüte, blinzelt noch einmal zu den Silberarachniden hinüber und macht auf dem Absatz kehrt.

Über dem Sofa ein Vasarelyquadrat in Schwarz und Weiß, der Kaffeeautomat knirscht eine Portion Bohnen zu Pulver. Die junge Witwe steht barfuß vor der Maschine. Im Hintergrund schrillt ein Telefon. Eine Überwachungskamera wirft ein blindes Auge in den Garten, zeichnet Schatten auf, die niemand sieht.
Der Espresso schnurrt in eine silbern glasierte Tasse. Das Telefon verstummt und eine Raucherstimme knarzt zwei, drei Sätze auf den Anrufbeantworter. Das Spiegelbild der jungen Witwe ist mehrfach in den hohen Glasscheiben zu sehen. Sie träufelt Chiliöl in ihren Espresso, rührt. Es ist spät am Abend, eine stabförmige Designerlampe ist die einzige Lichtquelle im Raum.
Plötzlich springt einer der Bewegungsmelder draußen an, lässt die Fluter im Hof aufstrahlen. Die Frau hebt den Blick von ihrer Tasse. Hatte das Telefon so gar keine Anziehungskraft auf sie, durchfährt sie jetzt ein Anflug von Neugier. Sie eilt ins Schlafzimmer, holt die Walther aus dem Nachtkästchen und schleicht nach unten. Instinktiv weiß sie, dass jemand auf dem Grundstück ist, dass es diesmal kein Waschbär ist.
Als sie eine der Glastüren zum Garten aufgeschoben hat, hört sie aus einiger Entfernung ein Tappen und Kratzen, dann Schritte im Kies. Die Geräusche kommen von der straßenzugewandten Seite des Hauses, irgendwo beim Garagenanbau. Sie lauscht, ein hastiges Schlurfen, das Sirren eines Reißverschlusses, Klebebandratschen, ein leises Ächzen. Sie tritt ins Licht, durchquert den Garten und geht die Auffahrt hinunter. Ein Klackern, ein Zischen, die junge Witwe geht an dem Rolltor vorbei, hinter dem ihr Sportwagen steht, biegt um die Ecke. Sie sieht eine menschliche Silhouette, die von oben von der Garage hängt, Kapuze, ein Arm, der in Zickzackbewegungen Farbe an die Wand sprüht. So vertieft ist die Gestalt in ihr Werk, dass die Witwe erst ihre Pistole heben und ein halblautes Hey rufen muss.
Die Person zuckt zusammen, zieht rasch ihre Gliedmaßen auf das Dach zurück. Kurz ragt noch einmal die Kapuze über den Gebäuderand, dann knackt der Kies, ein Schlittern, ein Straucheln auf der Rückseite der Garage. Die dunkle Silhouette kämpft sich durch Eibenbüsche zurück auf die Straße, der Rhythmus von Turnschuhen hallt auf dem Asphalt, verschwindet in der Nacht. Erst jetzt sieht die Witwe sich selbst, ihren Schatten, groß und verzerrt auf den Hof projiziert. Der Hausmantel lässt sie breit und bedrohlich aussehen, sie ist ein gigantischer Umriss mit ausgestreckter Waffe.

Da Krishna an Arbeitslehre und Textilgestaltung keinen Spaß, dafür aber einen schönen Körper hatte, begann sie, für Fotografen Modell zu stehen. Mit siebzehn hatte sie genug zusammengespart, um bei der Mutter auszuziehen, wohnte in einem schmuddeligen Loch. Sie ging zu Modelcastings. Weil die Bezahlung stimmte, beteiligte sie sich auch an Pornoproduktionen. Der unterkühlte Sex langweilte sie jedoch genauso sehr wie der Unterricht in Rechnungswesen.
Beim zwölften, vierzehnten oder achtzehnten Casting klappte es dann, und in den folgenden zwei Jahren war Krishna immer wieder in den Katalogen von Billigkleidermarken zu sehen. Sie zog in einen anderen Stadtteil und arbeitete als Messehostess. Ihr Englisch war nicht das allerbeste, aber weil sie die erwarteten Umgangsformen aus dem Effeff beherrschte, stieg sie trotzdem bald zur VIP-Hostess auf. Sie lernte jede Menge reiche und wichtige Männer kennen. Genoss, wie die Schlipsträger und Scheichs um ihre Blicke buhlten, im Messerummel danach dürsteten, sich von ihr Champagner reichen zu lassen. Manchmal umgarnte sie die Kunden, zog sich anschließend mit dem Versprechen auf baldige Wiederkehr und Tramezzini zurück und ließ die Männer absichtlich eine geraume Zeit warten. Immer nur gerade so lang, dass sie keinen Ärger bekam. Lang genug jedoch, um aus einem Versteck heraus die suchenden Blicke, die gerunzelten Stirnen und die aufkeimende Verwirrung, vielleicht doch vergessen worden zu sein, beobachten zu können. Very important persons beim Schwitzen zusehen, mächtige Männer warten lassen, das war ihr heimliches Vergnügen.

Die junge Witwe wird vom Telefon geweckt. Das Morgenlicht frisst einen rötlichen Schlitz in die Samtwand vor dem Fenster. Der Geruch des Gatten driftet noch durch die Wohnung, sie atmet das Gespenst ein, wartet, bis das Klingeln aufhört, atmet erst dann wieder aus. Von draußen ist ein melodisches Wispern zu hören, Vogelstimmen, die gedämpft durch die Vorhänge dringen.
Eine halbe Stunde später zieht die junge Frau den Samt beiseite, hört den Anrufbeantworter ab. Der Finanzchef von Little Lamb Baby Foods bittet um dringenden Rückruf. Sie sucht, während die Kaffeemaschine kreischend Bohnen mahlt, die Telefonnummer von Olga Sonowska heraus. Nimmt sich vor, sie, die Assistentin ihres Mannes für über zehn Jahre, gleich morgen zum Abendessen einzuladen. Niemand weiß so gut über das Unternehmen bescheid wie Sonowska, hatte er immer gesagt. Als die Witwe ihre Finger um den Kaffeebecher legt, klingelt erneut das Telefon. Sie schließt die Augen, zählt bis zehn, hat nicht mehr dieselbe Freude daran wie früher, einen Geldsack sitzen zu lassen.

Manche von den Messekunden versuchten, Krishna auf ein Wochenende in die Alpen zu entführen, auf einen Segeltörn auf den Bodensee, zu einer Modenschau nach Milano. Die Hostess nahm nur ein Viertel der Einladungen an und war trotzdem mindestens einmal im Monat mit einem Verehrer unterwegs.
Helgo Zättervall, der Besitzer von Little Lamb Baby Foods, war besonders kreativ in der Auswahl seiner Ausflugsziele. Mit ihm ging Krishna zum Fallschirmspringen, badete in geothermischen Quellen, unter seiner Aufsicht lernte sie reiten, erwarb ihre Fahrerlaubnis und machte den Waffenschein. Der Mann hatte schütteres, rotes Haar, zusammengewachsene Zehen und aß leidenschaftlich gern Kümmelkäse. Auf einem Hausboot in einem norwegischen Fjord machte Zättervall der jungen Frau schließlich einen Heiratsantrag.
Krishna, gerade vierundzwanzig geworden, erbat sich Bedenkzeit. Sie flog zurück nach Deutschland, lag vier Nächte lang wach und grübelte. Sie kam auf keine bessere Idee. Jeder Weg, den sie sich ausmalte, führte irgendwann in die Wüste. Die Hostessenagentur zog Jahr für Jahr neues Personal an Land, junge Schönheiten aus aller Herren Länder, Krishna war sich ihrer Ersetzlichkeit bewusst. Sie hatte keinen Berufsabschluss und als Model würde sie maximal vier oder fünf weitere Jahre arbeiten können. Sich wie ihre Mutter als Kellnerin, Kindermädchen oder Kurierfahrerin über Wasser zu halten, kam für die junge Frau nicht in Frage. Früher oder später musste sie also diese Karte spielen, früher oder später musste sie einen Antrag annehmen. Ob es nun Zättervall oder einer der anderen Männer war, spielte im Grunde keine Rolle.
Nach knapp einer Woche hielt der Babynahrungsmagnat es nicht mehr aus. Er kam Krishna in ihrer kleinen Innenstadtwohnung besuchen, der Strauß aus hundert roten Rosen passte kaum durch die Tür. Zättervall warf sich vor der jungen Frau auf den Boden, wiederholte seinen Antrag und fügte hinzu, wenn sie nicht sofort zusage, würde er sich jetzt und hier aus dem fünften Stock stürzen. Sie sagte ja.

Gegen neun Uhr verlässt die Witwe das Haus, sieht sich das Graffiti, das der nächtliche Besucher hinterlassen hat, zum ersten Mal genauer an. Es ist ein Schemen, so schwarz wie der Schatten, den sie selbst in der Nacht auf den Hof warf. Eine finstere Wolke, horizontal hingestreckt auf dem Eierschalenbeige der Garagenwand.
Erst beim zweiten Hinsehen fallen der jungen Witwe die Unebenheiten auf, der große schwarze Fleck hat Kiemen. Sie tritt näher. Ein weißes Rechteck hebt sich rings um die düstere Wolke ab. Erst dann begreift sie. Eilt in die Garage, bugsiert eine Klappleiter hinaus und steigt zu dem Graffiti hoch. Das anderthalb mal zwei Meter messende Stück Pappe ist notdürftig mit Klebeband am oberen Garagenrand befestigt, der Sprayer hatte keine Zeit mehr, es abzuziehen. Sie greift nach der Schablone, die sich beim Lösen in sich zusammmenfaltet und das darunterliegende Wesen offenbart. Eine gestreifte Katze, schleichend. Erst denkt die Witwe an einen Tiger. Aber ihr fällt auf, wie hart und unorganisch die eierschalefarbenen Streifen den Katzenkörper in Segmente teilen. Als hätte jemand das Raubtier mit einem Laserstrahl in Scheiben geschnitten. Es hält den Kopf gesenkt, sein weicher, geduckter Gang wirkt niedergeschlagen. Es ist ein Panther hinter Gitterstäben.
Die Umrisse seiner Vorderpfoten und sein Kopf sind nur spärlich mit Farbe gefüllt. Auch im Leib gibt es dünn besprenkelte Stellen, unter dem Tier einige formlose Hauche von Schwarz, in denen sich Buchstaben andeuten. Die Witwe klettert von der Leiter, stößt mit der Ferse gegen eine Sprühdose, hebt sie auf, ein grelles Pink. Sie entfaltet die Schablone und entziffert den Schriftzug, der als Bildunterschrift gedacht war. Hinter tausend Stäben keine Welt, steht da. Die Phrase kommt der Frau bekannt vor, sie starrt die Worte an und fragt sich, warum gerade jetzt die Tränen über ihre Wangen rinnen, die seit dem Tod ihres Mannes nicht fließen wollten.

Kurz nach Mitternacht schickt der Mann mit dem Geld eine besorgte Nachricht an die Künstlerin. Als diese sich auch den ganzen nächsten Tag über nicht meldet, ruft er sie an. Lässt es wieder um Mitternacht klingeln, als wäre sie eine heimliche Geliebte, als hätte sie sich noch nicht weit genug hochgearbeitet, damit er wie ein normaler Geschäftspartner am Tag mit ihr telefoniert.
Sie hätte das Säuseln des Handys beim Klackern der Spraydosen fast nicht gehört. An der Mauer über ihr klebt eine Schablone, bäumt sich ein Nilpferd mit Stierhörnern, ein Behemoth mit weit aufgerissenem Maul, der einen Flamingo verschlingt. Die Künstlerin flucht und sprüht weiter. Drei Minuten später hört sie erneut das leise Wimmern des Telefons. Das Graffiti ist fertig, sie reißt die Schablone ab, kickt ihren Rucksack ein Stück zur Seite und duckt sich ins Gebüsch. Sie schaut aufs Display, nimmt das Gespräch an. Früher oder später wird sie dem Mann mit dem Geld erklären müssen, dass sie kein Interesse mehr an seiner Vermittlung hat.
»Du veräppelst mich doch? Ich habe Treffen mit den drei einflussreichsten Galeristen in der Region für dich arrangiert.«
»Und alle drei haben auf meine Bilder reagiert wie auf vergammelte Spiegeleier.«
»Gib der Sache Zeit. Arbeite an deinem Stil.«
Die Lichtkegel eines Autos wandern im Schneckentempo vorüber. Die Sprayerin rückt tiefer in die Blätter, stößt mit dem Rücken gegen einen Maschendrahtzaun.
»Ich will nicht mehr. Keine Lust, denen zu gefallen.«
»Überrasch sie doch beim nächsten Mal. Sei frech. Mach was Neues.«
»Nein. Wirklich. Ich bin raus. Keine Zeit zu diskutieren jetzt.«
Es herrscht eine kurze Stille. Das Auto ist vorbeigefahren, hat angehalten. Ein Streifenwagen. Die Künstlerin hört, wie der Fahrer den Rückwärtsgang einlegt.
»Du bist das dümmste und undankbarste Wesen, das mir je begegnet ist. Und dir habe ich Bilder abgekauft! Ja also: Schmeiß dein Talent eben weg. Ich wünschte, ich hätte dich wenigstens vorher noch gefickt. Tschüss.«
Die Autotüren springen auf, die Sprayerin erstarrt. Die Strahlen zweier Stablampen tasten das Nilpferdmonster ab und beginnen anschließend, das spärliche Gebüsch zu durchkämmen.
»Würden Sie bitte aufstehen und sich zeigen?«
Die Künstlerin erwägt, dass sie gerade die Miete für den nächsten Monat in den Wind geschlagen hat, und zieht die Flucht über den Zaun in Betracht. Sie reckt ihren Hals, verdreht die Augen nach oben, der Maschendraht ist etwa zwei Meter hoch. Bis sie sich hinübergehangelt hätte, würden die Beamten sie längst an den Hosenbeinen wieder herunterziehen. Sie bleibt hocken. Zwanzig Sekunden vergehen, ohne dass etwas geschieht.
»Kommen Sie raus, wir sehen Sie doch!«
Ein Blatt fällt lautlos durch das Geäst und streift die Wange der Sprayerin. Ein paar Bäume weiter flötet ein Nachtvogel eine fragende Melodie. Die junge Frau atmet tief ein und kriecht schließlich aus ihrem Versteck.

[…]

(Auszug aus einer Kurzgeschichte, «eine Werkstattschau», ein Einblick in etwas Werdendes)

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«.

Rezension von «Sterben lernen» auf literaturblatt.ch

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Simone Regina Adams «Usambaraveilchen, Schrankpapier»

Oma stirbt. Als Kind hielt ich sie für unsterblich. Noch einmal betrete ich ihr düsteres kleines Haus durch die Hintertür. Ich setze den Fuß auf die Steinstufe, die so abgetreten ist, dass sie müde in der Mitte durchzuhängen scheint; diese eine Stufe geht es hinauf, dann hinter der Schwelle zwei gekachelte Stufen hinab und ich stehe in der Waschküche.
Gleich neben der Tür hängen Küchenschürzen, links steht der Holztisch, ein Wachstuch darauf, vom vielen Schrubben farblos geworden; vor mir der grauweiße Spülstein, mit dunklen, abgeschlagenen Kanten, der Boiler darüber.
Dann die frühere Küche, ein Durchgangsraum mit gefliestem Boden und einem dünn gewordenen Webteppich. Der Kühlschrank brummt vor sich hin. Der Gasherd steht daneben, abgedeckt, ein kariertes Tuch ist darüber gelegt. Hier ist es kalt; seit ein paar Jahren kocht Oma ihr Essen auf den zwei Elektroplatten im angrenzenden Zimmer. Ich schaue hinein.
Über der Eckbank hängt an der Wand eines dieser Holzscheibchen mit dem aufgeklebten Erinnerungsbild eines Ortes, mit Geranien, See und knallblauem Himmel; auf dem Beistelltisch steht ein Trockenstrauß, ein Engelsfigürchen, ein Jesusbild. Auf dem Tisch ein Korb mit Orangen und welken Delicious, eine Tüte mit altem Rosinenbrot, die Brotmaschine, von Hand zu kurbeln. Dahinter der Wandschrank, den ich als Kind mit Schrankpapier auszulegen hatte, und in dem sich immer eine Dose mit Mandarinen befand; auch ohne ihn zu öffnen, sehe ich das Besteck darin mit den bunten Griffen und das blumige Porzellan.
Fast alle Schränke in diesem Haus sind in die Wand eingelassen, in die Mauern des Hauses hineingedrückt, wie der Schrank mit dem Putzzeug unter der Treppenschräge, auch die Garderobe im Flur; sie scheint in der Wand verschwinden zu wollen, mitsamt dem dunklen Mantel, den Schals, dem schwarzen Schirm und dem Pelzkragen mit dem Fuchskopf an einem Ende. Hier stand ich als Kind, wenn die Glocken zur Messe riefen; ich wartete, bis Oma das Gebetbuch aus der Schublade genommen, den Mantel angezogen und den Pelz umgehängt hatte, so, dass der Fuchs mich mit seinen gläsernen Augen anstarren konnte, wenn Oma mich an der Hand nahm und mit mir zur Kirche ging.
Und da ist die Tür zur Stube. Dort liegt Oma. Nicht mehr auf dem Sofa, auf dem sie sonst ihren Mittagsschlaf hielt, sondern in einem Krankenbett. Das Sofa war immer das Herz, das Zentrum des ganzen Hauses gewesen; das Sofa, von dem aus ich kaum den Tisch überblicken konnte als Kind, auch wenn ich auf einem der rot bestickten Kissen saß oder auf der Wolldecke aus den vielen verschiedenen bunten Flecken, von den Pfarrfrauen gestrickt und zusammengenäht; der Hauptgewinn der Verlosung beim Kirchenbasar.
Jeden Samstag, wenn ich dort in der Stube saß mit Oma und Mama, begann nach dem Essen das Putzen und Abstauben, angefangen mit der Kommode und dem holzverkleideten Radio: diesem großen Kasten mit den geheimnisvollen Wörtern in goldener Schrift: HILVERSUM, MILANO, HELSINKI; mit den vielen perlmuttweißen Knöpfen zum Drücken und den braunen zum Drehen, dem stoffbezogenen Lautsprecher, aus dem immer erst ein Knacken und Rauschen und dann eine dröhnende Stimme kam. In der oberen Klappe versteckt ist ein kleiner Plattenspieler, mit Heintje und Froschkönig; wenn der Tonarm über der schwarze Scheibe zitterte, quakte heiser und kläglich der Frosch: „Königstochterjüngste, mach mir auf! Weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Am Brunnen, als ich dir die goldene Kugel holen musste …“
Doch beim Samstagnachmittagsputz blieb der Plattenspieler versenkt, nur die Madonna in der Muschelwand und die gerahmten Fotos auf den Spitzendeckchen wurden abgestaubt; auch beim Tisch mit dem Fernseher wurde alles hochgehoben, abgewischt und zurückgestellt, die dicke Kerze im Messingständer und sogar die zwei Brillenmäppchen auf dem Papierstapel von Zeitungen, Prospekten, dem Kirchenblatt.
Dort in der Stube saß ich als Kind auf dem Teppichboden, sortierte die Gummibärchen der Farbe nach, malte die Osterhasen in meinem selbstgebastelten Kalender bunt und baute Männchen aus Weinflaschenkorken. Oder lag auf dem Sofa, wartete auf das Essen und langweilte mich, betrachtete den Christus im goldenen Rahmen über mir mit seinen leidvollen Augen und dem lieblichen Lächeln. Opa auf dem Foto daneben schaute streng auf den Tisch herab, an dem Oma vor jeder Mahlzeit betete, kommherrjesus, seiunsergast; ich faltete die Hände wie sie und murmelte dazu; dann gab es Suppe mit Rindfleisch und Mayonnaise, und zum Kaffee Marmorkuchen und Obstkuchen vom Blech.
Ich stehe im Flur, neben dem Kippschalter für das Licht im Keller; eine Holztür führt dorthin, um sie zu öffnen, muss der Eisenhaken angehoben und zur Seite gedreht werden. Ich erinnere mich an das Kellergewölbe, den Kartoffelgeruch, die Äpfel auf den Holzstellagen. Später traute ich mich allein hinunter, doch auch dann noch war ich erleichtert, wenn ich wieder oben war.
Im ersten Stock ist Omas Schlafzimmer, das große Ehebett, in dem sie seit den Sechziger Jahren, seit Opas Tod, alleine schlief, wenn ich nicht gerade neben ihr lag. Es hat Matratzen wie für die Erbsenprinzessin; Matratzen, in denen ich einsank als Kind; die dicke, abgegriffene Kordel hielt ich fest in der Hand; wenn ich daran zog, ging das Licht wieder an. Dann sah ich die weißen Styroporplatten an der Decke und den Lampenschirm, hell, mit Blüten bemalt wie ein Lampion. Der Nachttopf unterm Bett und an der Wand die ewig tickende Uhr; immer schlief ich dort, neben Oma, nie in dem Zimmer nebenan, in dem Mama groß wurde; es ist ein kleines Zimmer, mit Kommunionsbildchen an der Wand. Und dahinter gibt es noch einen kaum benutzten Raum, mit wurmstichigen dunklen Holzmöbeln; auch da ein Wandschrank, den Oma feierlich öffnete; ihre Schätze darin: eingemachte Kirschen, Birnen, Zwetschgen und Marmelade. Sie übergab mir andächtig ein Glas, das ich mit beiden Händen halten sollte, wenn ich es zur Stube hinunter trug.
Später dann half ich beim wöchentlichen Putz, ich schrubbte die Treppe mit der Bürste, wischte jede Stufe mit dem Lappen nach, und den Gehweg draußen musste ich kehren; die immer gleichen Aufgaben an jedem Samstagnachmittag; danach fühlte ich mich befreit und froh, wenn Mama mit mir nach Hause fuhr.
Aber vorher ging Oma mit mir zum Schrank in der Stube, dort lag der Geldbeutel neben der Suppenterrine; eine Münze oder einen Schein bekam ich zur Belohnung, sie bekam ein Küsschen; und dann stand sie an der hinteren Türe und winkte uns nach, mit einer kleinen verstohlenen Handbewegung, eher so, als würde man einen Popo tätscheln.
Noch immer stehe ich im Flur. Oma wird sterben, man wird sie aus dem Haus tragen, nicht weit hat sie es bis zum Friedhof hin.
Soll ich hinein gehen?
Was werde ich sehen?
Die fast blinden Augen, den schmalen Mund, das Gesicht, das so ernst und bitter aussehen konnte. Angst hatte ich manchmal vor ihr, als Kind, wenn sie mit mir schimpfte; Angst vor dieser Härte, die kurz, unerwartet hervorblitzte und mich dann erschreckte, so wie der Jesus, der
verrenkt am Mahagonikreuz hing, so wie das Bild der Madonna mit den blutenden Augen. Den zarten Kopf mit dem edlen Gesicht hatte sie zur Seite geneigt, in den Augenwinkeln glänzten dicke Tropfen, leuchtend rot wie Nagellack.
„Oma, warum hat die Madonna so rote Augen?“
„Sie hat so viel weinen müssen, Kind, bis sie keine Tränen mehr hatte. Da hat sie Tränen geweint aus Blut.“
„Aber warum?“
„Weil die Menschen so böse sind. Darüber weint sie.“
Ich fragte nichts mehr.
All ihre Gebete, Vaterunser und Mariamitdemkindelieb, immerzu; jedes Gebet eine Münze, um sich einzukaufen, um sich einen Platz zu sichern im Paradies. Aber hat sie nicht manchmal in sich hineingelacht, mich auch gelobt und Verständnis gezeigt? Oma eine Insel, Zuflucht und ein
böser, gefährlicher Drache; nachts schnarchte sie laut und ich träumte vom bösen Wolf, der mich fraß.
Ich öffne die Tür zur Stube. Ich gehe hinein.
Auf diese Leute war ich nicht gefasst. Was tun sie hier? Nachbarn, entfernte Verwandte, die ich nicht kenne, sie sitzen schweigend auf Stühlen wie vor einer Bühne, starren auf ihre Hände oder das stille Schauspiel vor ihnen; langsam nicken sie mir zu.
Und da liegt Oma. Ich erschrecke. Ihr Gesicht ist eingefallen, sie trägt kein Gebiss. Sie braucht es nicht mehr.
Die Wangenknochen sind immer noch breit und markant, doch die Haut darüber ist dünn geworden. Ihr Mund ist weit geöffnet, die Augen hat sie geschlossen. In diesem Gesicht ist der Schmerz so unverhohlen zu sehen, dadurch wirkt sie so fremd. Sie ist beinahe schön.
Ihr langes, weißes Haar ist offen und weich wie bei einem Mädchen; nur von einem Haarband aus der Stirn gehalten, fließt es seitlich über die Kissen. Ein goldenes Kettchen trägt sie um den Hals. Sie hat hohes Fieber, ihre Brust hebt und senkt sich angestrengt. Ich halte ihre Hand, die trockenen Finger biegen sich nach innen. Sie ist nur noch Atem, Wärme und Körper; krank riecht sie, intensiv.
Nach und nach sind alle gegangen. Ich habe Angst davor, dass Oma stirbt, während ich ihre Hand festhalte; Angst davor, mit ihr und dem Tod alleine zu sein. Ich sollte mit ihr reden, ich müsste laut mit ihr sprechen, es fällt mir schwer. Eine Kerze habe ich angezündet und das grelle Licht ausgeschaltet, nur das sage ich ihr: Oma, ich hab eine Kerze für dich angemacht. Dann bin ich wieder stumm. Ich habe nichts zu sagen. Es gibt nichts zu sagen, nichts, das wichtig wäre; außer, dass ich da bin.
Noch einmal zusammen Kaffee trinken, denke ich, noch einmal das alte Ritual. Ich gehe in die Küche, stelle den Kessel auf die Herdplatte, schütte das Kaffeepulver in den Filter, so wie früher.
Die große Standuhr in der Stube schlägt schon lange nicht mehr. Ich öffne die Tür des Gehäuses und versuche, sie aufzuziehen. Es tönt in ihr, doch die alte Melodie fehlt, es ist nur noch ein leiser, zitternder Hall. Die Messingstäbe, die ich mit den Fingern berühre, klingen nach, aber die Tonfolge kriege ich nicht hin, dabei ist sie in mein Inneres gebrannt. Diese Uhr würde ich niemals haben wollen, bloß die Töne, die aus ihr kamen, alle Viertelstunde.
Der Kessel pfeift.
Ich trinke den Kaffee, und auch von dem Kuchen esse ich, der in der Küche stand; ich staune über mich selbst. Der leichte Ekel, den ich gespürt hatte, als ich hereinkam, hatte mich erst daran gehindert, zu essen. Und jetzt tue ich es doch. Marmorkuchen, trocken und krümelig, schwer zu schlucken. Ich trinke den Kaffee dazu. Es ist ein letztes gemeinsames Kaffeetrinken, auch wenn Oma nicht mehr neben mir sitzt, erzählt und mir zuhört, sondern dort liegt und mit dem Tod kämpft.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich warte auf meine Ablösung und bin erleichtert, als endlich jemand kommt. Ich rufe Oma und sage ihr, sie soll mich noch einmal anschauen.
Tatsächlich öffnet sie die Augen und blickt mich an; ich komme ihr näher, damit sie mich genauer sieht. Eine Träne läuft über ihre Wange.
Ich bin nicht mehr alleine mit ihr. Ich verabschiede mich.
Hätte sie gesprochen, wenn sie es gekonnt hätte? Was hätte sie sagen wollen? Was hätte ich sagen wollen, wo mir doch die Worte fehlten?
In der Nacht werde ich wach. Der Kaffee ist mir auf den Magen geschlagen; ich bin unruhig und denke, dass Oma vielleicht in diesem Moment stirbt. Aber sie ist erst später gestorben, am Abend darauf.
Ein Leben, fast so lang wie ein Jahrhundert, ist zuende. Sie, die sonst alles im Griff hatte, meistens kühl und gefasst war und mir so unbezwingbar erschien; nur einmal habe ich sie anders gesehen, aufgelöst, kämpfend – und schließlich ergeben.
Zehn Jahre ist das her. Manchmal träume ich, weniger von Oma als von ihrem Haus. Nachts, in meinen Träumen ist alles noch da, steht alles am alten Platz. Dabei ist das Haus längst abgerissen, verschwunden.
Bei Tage ist es eine versunkene Welt; nur einzelne Dinge und Worte bleiben sichtbar trotz der Tiefe, in der sie liegen. Sie schimmern geheimnisvoll unter Wasser, vermooste, verrostete Wracks; Begriffe wie: Spülstein, Boiler und Bettumrandung, Usambaraveilchen und Schrankpapier.

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Flugfedern» auf literaturblatt.ch

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Wolfgang Hermann «Ein Mann, ein Bahnhof»

Im Laufe der Jahre wurde sein Sakko zur Beule. Sein Hut war ihm am Kopf angewachsen. Nur selten steckte in seinem Mundwinkel kein Krummer Hund. Seine Augen waren Knöpfe, denen keine Bewegung entging. Es lag wohl an seinem Schielen, daß sein Blick überall zugleich war. Seine Schuhe knarrten meine halbe Kindheit lang hinter meinem Rücken. Tagaus, tagein schlich er in Begleitung seines Krummen Hunds um den Bahnhof herum, redete mit niemandem, sah alles, während dem Krummen Hund darüber das Feuer ausging. Er sah mich durch den Maschendraht klettern und über die Gleise flitzen, sah mich am Bahnhofsbuffet zehn Mannerstollwerk zu einem Schilling kaufen (wenn ich den Schilling genau hatte, konnte mich die Frau am Buffet nicht betrügen), sah mich zurückflitzen über die Gleise und durch das Loch im Maschendraht verschwinden. Unser Haus lag nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt, was mich zum Bahnhofspezialisten machte. Ein Bahnhofspezialist ist zugleich einer für Abreisen und Ankommen, ein Sehnsuchtsspezialist. 

Es mag an seinem Schielen gelegen haben, daß man meinen konnte, er starre einen an, egal wo man auch ging. Wenn ich über die Gleise flitzte sah er mich, wenn nicht er, dann doch sein Krummer Hund.

Es fuhren zwar nur selten Züge ein, aber die Sehnsucht schlief nie. Die Sehnsucht hauste am Bahnhof in Gestalt von einsamen Männern mit dunklen Augen, die als Schatten durch die Bahnhofshalle schlurften. Zwei oder drei von ihnen standen zusammen und sprachen eine rauhe erdige Sprache. In den im Rücken verschränkten Händen wanderten Gebetsketten.

In den Augen dieser Männer spiegelten sich einsame Ebenen unter sengender Sonne. Diese Männer standen anders beisammen. Ein Murmeln war da, ein stummes Zusammengehören, ein gemeinsam getragenes Leid. Diese Männer waren frei, sie hatten ihr fernes Anatolien hinter sich gelassen, doch die Freiheit war größer als sie. Sie gingen am Bahnhof schlurfend in Deckung. 

Wie ein Trabant umkreiste sie der Mann mit den Knopfaugen, dessen Kopf immer schräg stand wie eine Tanne nach verheerendem Sturm. Hinkte er schon immer? Er war in seinen eigenen Schrittkreis eingeschlossen, den er unaufhörlich abschritt. Er war das Glotzermännle, so nannten wir ihn, er glotzte die Welt an, doch die Welt sah nicht zurück, sie übersah ihn, der hier auf dem schäbigen Bahnhof in Deckung ging. Er schritt seinen Kreis mit der verzweifelten Geduld eines Menschen ab, dessen Zeit in sich zusammengebrochen ist. Es hieß, er warte auf seinen Sohn, der aus dem Krieg nicht nach Hause gekommen war. Der Krieg, das war die gefrorene Zeit selbst, der Krieg am Ende der Zeit.

Sein Schritt grub sich mit jedem Jahr tiefer ein, er hinkte davon immer stärker. Das Knarren seiner Schuhe kündigte ihn an, er sagte kein Wort, niemand wußte, ob er sprechen konnte. Sein Blick war eng wie eine dunkle Röhre, aus der er nie mehr herausfinden würde.  

Der Bahnhof war die Zone der Freiheit, die keiner ertrug. Von der Bahnhofstraße wehte es die Jahre heran, es trieb sie durch die gelbgekachelte Bahnhofshalle hindurch und hinaus auf die Gleise ins Nichts. Die Körper der Männer boten dem Wind keinen Widerstand, sie hatten ihr Leben irgendwo zurückgelassen, das nun ohne sie zurechtkommen mußte. Die Männer hatten ihre Gebetsketten, sie hatten ihre Erinnerung an eine sonnenverbrannte Steppe, und sie hatten die Körper der anderen, sie waren gemeinsam ein Körper der Sehnsucht und der Freiheit, die ein Stück zu groß für sie war. Irgendwann würde ein Zug sie von hier fort bringen, sie würden turmhoch beladen in ihr stilles Dorf zurückkehren, wohin sie nicht mehr gehörten, doch sie wären damit nicht allein, es würde andere geben, die ein ähnliches Schicksal hatten, die auf Arbeit in ein kaltes abweisendes Land gefahren waren, jung und ahnungslos, und deren Schläfen über der Nichtzugehörigkeit ergraut waren. Doch sie wären eine Gruppe, ihr Los hatte einen Namen, ihr Dorf hatte einen Namen, und es gab Vettern, Söhne und Frauen, die einen Namen trugen. Sie hätten die Kraft dem Bahnhof zu entkommen, denn sie kamen von irgendwo her, ihre Gedanken hatten ein Ziel, und was sie dachten bildete aus ihnen eine Gruppe. Ihre Frauen würden kommen, ihre Söhne würden ihre Rücken beim Gleisbau krümmen, und die Kraft ihrer Söhne würde sie mit Stolz erfüllen. Sie würden andere Männer treffen und Fotos tauschen, und mit Hilfe der Fotos würde ein Eheversprechen gegeben, junge Frauen würden kommen aus dem Dorf in der sonnenverbrannten Ebene. Die Kinder der Frauen auf den Fotos würden mit gelgestärktem Haar am Bahnhof Zigaretten kaufen, doch sie würden den Bahnhof nicht verstehen wie ihn ihre Väter verstanden. Sie würden den Gesang der Gleise nicht hören, denn sie hätten keine Zeit für die Leere und den Wind des Nichts, der über die Gleise weht.

Der hinkende Mann mit den Knopfaugen wurde schräg wie eine einsame verwitterte Tanne. Generationen von Fahrschülern stürmten johlend an ihm vorbei zu den Zügen. Wenn sie fort waren, wehte er noch, der Wind des Nichts. Auch die Unterführung konnte den Wind nicht vertreiben. Es wurde viel gebaut um den Bahnhof. Das alte Wirtshaus gegenüber, das kein Einheimischer mehr betrat, seit es den Männern mit den traurigen Augen gehörte, wich einer Wohnanlage. Die Bushaltestelle wurde zu einem Kompetenzzentrum für intelligente Verkehrsmittel. Man bemühte sich redlich, aus der Bahnhofstraße den Wind des Nichts zu vertreiben, umsonst. Der Wind der Leere weht zwischen den neuen Menschen hindurch, die dort gehen und nicht wissen, warum ihr Schuh nicht recht Boden findet. Selbst die Altdeutschen Stuben durften endlich verschwinden. Man versuchte mit intelligenter Architektur das Beste gegen den Wind der Leere. Aber der Wind kommt aus dem Innern der Jahre, er weht auch ohne daß ihn einer versteht.

Irgendwann haben die knarrenden Schuhe das Glotzermännle nicht mehr getragen. Irgendwann hat auch das Holz dieser Tanne nicht mehr gehalten. Keiner raucht am Bahnhof einen Krummen Hund. Keiner sieht alles und hält es zusammen, indem er es sieht. Es findet sich keiner mehr für diese Arbeit, von der keiner begreifen würde, daß es sie gibt. Man hat den Bahnhof umgebaut. Es gibt ein Servicecenter. Es gibt Bildschirme, die von ankommenden und abfahrenden Zügen berichten. Man hat die Bahnhofshalle gründlich gesäubert. Es ist kein Platz mehr für die Kollegen von der alkoholischen Flasche, die früher allen Platz für sich hatten. Sie haben es mit ihrem Gestank erledigt, ganz einfach. Wer mehr stinkt, der hat seinen Platz. Über dem modernen Polyester ist sogar den Flaschenmännern die Lust zu stinken vergangen. Von denen hat sich auch das Glotzermännle fern gehalten. Die bildeten eine eigene grausame Welt, unberührt von den anderen. Die Männer mit den Gebetsketten hatten eine traurige Würde. Sie tranken nie. Sie murmelten. Ihre Augen sprachen. Und sie hatten eine Heimat, wenn es auch nur eine verbrannte Sonne war. Die Flaschenmänner hatten nichts als gemeinsames Geschrei aus violettgesoffenen Gesichtern. Und sie zelebrierten ihren Gestank als ihr höchstes Gut. Ihr Gestank war ihre Waffe.

Der hinkende Mann ohne Sprache hatte seinen eigenen Kreis, der sich durch die Jahre drehte. Dieser Kreis hatte keinen Grund und kein Gedächtnis. Er hatte vergessen, weshalb er sich drehte. Er hatte keinen Anteil an der Freiheit der Gleise, sein Leben war klein, es bestand aus Schritten, deren Sinn irgendwo da draußen in der Welt verloren gegangen war.

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem „Abschied ohne Ende“ (2012), „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ (2015) und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ (2016). Bei Limbus: „Paris Berlin New York“ (erstmals erschienen 1992, Neuauflage 2008, als Limbus Preziose 2015), „Konstruktion einer Stadt“ (2009) und „Die letzten Gesänge“ (2015).

Rezension zum Gedichtband «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Sylvia Steiner «Wenn Buchstaben zusammenstehn», Gedichte

die strickarbeit
abgebrochen
mitten in der
angefangenen nadel

der kleine vogel
auf dem asphalt
flaches dürres blatt
mit zwei stielen

wäre der tod doch
eine mächtige glucke
die unter ihre fittiche
nimmt was
der bergung bedarf

 

märz

auch wenn die schafe
den schnee wegscharren
und überall farbe
austreibt
wäre die welt ohne dich
nur ein schirmbild

 

schutz

rot das blut des märtyrers
in der glasampulle
es verspricht den menschen
schutz
vor der natur

rot die letzten korallen
im meer
wer verspricht ihnen
schutz
vor den menschen

 

«schutz», unveröffentlicht, erscheint nächsten Frühling in meinem neuen Lyrikband beim Wolfbach-Verlag, Zürich
die strickarbeit,  aus Band «eine andere geografie»
märz, aus Band «wenn buchstaben zusammenstehn»

Sylvia Steiner, geboren 1937 in Basel, lebt in Winterthur. Sie veröffentlichte die Lyrikbände wenn buchstaben zusammenstehn (2003) und eine andere geografie (2010), ihre Gedichte erscheinen in Literaturzeitschriften und Anthologien.