Daniel Zahno «Der Reißverschluss» – Scheinheilig 3

Es war immer dasselbe: Das Futter der Jacke geriet in den Reißverschluss, und der ging nicht mehr hoch noch runter. Das Problem hatte er bei verschiedenen Jacken, bei der grünen Übergangsjacke war es jedoch besonders schlimm. Er wollte an der Kasse bezahlen, das Portemonnaie steckte in der Jackentasche, der Reißverschluss klemmte, und er stand dumm da. Verzweifelt versuchte er, das Futter aus dem Schieber zu fummeln, in dem es sich derart verfangen hatte, dass die winzigen Zähnchen blockiert waren. Aber er konnte zerren und ziehen wie er wollte, das Futter kam nicht heraus. Entschuldigend lächelte er der Kassiererin zu, während die Schlange hinter ihm länger und länger wurde. Betreten wich er zur Seite zu einem Weihnachtsstern und ließ die hinter ihm Stehenden vor. Er zog die Jacke aus, um besser am Reißverschluss nesteln zu können, doch der bewegte sich keinen Millimeter. Das Futter war im kleinen Spalt zwischen Ober- und Unterteil des Schiebers gefangen. Wenn er zu fest riss, machte er die Jacke kaputt, wenn er zu wenig zog, tat sich nichts. Eine gutaussehende Frau trat auf ihn zu und fragte, ob sie ihm helfen könne. Sie war ihm bei den Geschenkkörben schon aufgefallen, sie hatte ihn mit warmen Pastaaugen angesehen. Verlegen nickte er und sagte, der Zipper sei eingeklemmt. Er reichte ihr die Jacke, deren Futter sie mit einem einzigen geschickten Griff löste, so dass sich der Reißverschluss ritsch ratsch öffnete. Sie schenkte ihm ein schönes Lächeln. Er war überwältigt, nicht vom Reißverschluss. Zu dem Trick griff er, wenn er jemanden kennenlernen wollte und es ihm an dem mangelte, was Frauen so perfekt beherrschten: zipper control.

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Daniel Zahno, 1963 , lebte zehn Jahre in New York. Clemens-Brentano-Preis, Preis der deutschen Wirtschaft, Freiburger Literaturpreis. Stipendiat Ledig House New York, Writer-in-Residence Deutsches Haus New York University, Stipendiat Istituto Svizzero Venedig. Zuletzt erschienen: «Mama Mafia», «Manhattan Rose», «Die Geliebte des Gelatiere». Arbeitet an den Prosa-Miniaturen «Sinfonie der Flöhe».

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

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Katharina Michel-Nüssli «Grossmutters Ikone» – Scheinheilig 2

Ein Heiligenbild baumelte an der Innenseite der Toilettentür. Jedes Mal, wenn sie geöffnet oder geschlossen wurde, schlug das Bild mit einem trockenen Ton, Holz gegen Holz, unregelmässig klopfend an die Tür und verkündete so Kommen und Gehen der verschiedenen Hausbewohner. Die Ikone stammte aus Grossmutters Familienerbe; ihre Eltern waren aus Italien eingewandert und katholisch. Ihr Ehemann hingegen war protestantisch und ein Handwerker mit Sinn für Realismus. Er hielt nichts von diesem Götzenkult, wie er es nannte, darum musste die Muttergottes mit ihrem goldenen Heiligenschein ihr Dasein als Randexistenz fristen. Spöttisch meinte Grossvater, das Bild helfe ihm beim Scheissen. Grossmutter nahm es gelassen. Wenn sie mal «musste», gönnte sie sich eine Auszeit. Sie behauptete, unter Verstopfung zu leiden, deshalb brauche sie etwas länger für dieses Geschäft. Es war der einzige Platz im Dreigenerationenhaus, wo sie sich ungestört fühlte. Nachdem sie ihre Notdurft verrichtet hatte, was nie länger als zwei Minuten dauerte, zog sie ihre Strumpfhose hoch, strich den Rock glatt und setzte sich auf den WC-Deckel. Sie murmelte ein Vaterunser, betrachtete danach die heilige Maria, die bestimmt mehr gelitten hatte in ihrem Leben als sie selbst, und fand so ihren täglichen Trost. Sie lud ihren körperlichen und seelischen Ballast ab, das ersparte ihr die Beichte, nicht aber den gelegentlichen Besuch der Messe. Der Pfarrer war ein sympathischer Mensch, bei seinen Predigten wurde ihr warm ums Herz. Sie wollte ihn aber nicht mit Peinlichkeiten belasten, das hatte er nicht verdient. Gestärkt und erleichtert verliess sie das stille Örtchen und widmete sich dem Tagewerk und den Freuden des irdischen Lebens.

Ihre Enkelin Elly kam oft hoch in den zweiten Stock und verbrachte viel Zeit bei der Grossmutter. Die Knopfsammlung im grossen Konfitürenglas war ihr Anziehungspunkt. Elly holte es aus dem Stubenbuffett. Sie liebte das Geräusch, wenn sie die Kostbarkeiten auf den Teppich leerte. Dieses leise Scheppern, wie ein Wasserfall aus Eissplittern. Sie sortierte die Knöpfe nach Farbe, Form oder Material. Den schönsten gab sie Namen. Mal waren sie Tiere, dann wieder Figuren wie Hänsel und Gretel oder Schneewittchen und die sieben Zwerge. Im selben Möbel wie die Knopfsammlung lagerte die Guetslibüchse. Wenn man nett fragte, lag immer ein Häppchen drin. Und wenn man sich bedankte, vielleicht noch ein zweites.
«Elly, du zappelst so herum», sagte Grossmutter. «Du musst gewiss auf die Toilette.» Natürlich. Es eilte. Gerade rechtzeitig schaffte es die Kleine, die sich nur ungern bei ihrem Spiel unterbrechen liess. Sie hatte die Tür so schwungvoll aufgerissen, dass ihr die Muttergottes direkt vor die Füsse fiel. Schnell machte sie Pipi. Dann nahm sie das glücklicherweise unbeschädigte Kunstwerk in die Hände und versuchte es wieder aufzuhängen. Doch der Nagel ragte für sie unerreichbar hoch aus dem Holz. Elly trug das Bild zu Grossmutter, die ahnte, was passiert war. Sie hängte es an seinen Platz zurück. «Warum hat diese Frau einen goldenen Hut?», fragte Elly.
«Das ist kein Hut, das ist ein Heiligenschein», erklärte die alte Frau. «Nur besonders fromme Menschen haben einen Heiligenschein. Solche, die an Gott glauben und nach seinem Willen leben. Das hier ist die Mutter des Christkindes. Sie hat Gott gehorcht. Darum ist sie heilig.»
«Gibt es denn heute keine Heiligen mehr?», fragte Elly.
«Warum meinst du?»
«Ich habe noch nie jemand mit diesem Goldkranz am Kopf gesehen.»
«Das sieht man eben nicht. Man spürt es nur», versuchte Grossmutter zu erklären. «Komm doch zurück in die Stube. Möchtest du einen Keks?»

Immer an Heiligabend versammelte sich die ganze Sippe bei den Grosseltern. Auf Ellys Wunsch lag das Bild der Muttergottes unter dem Tannenbaum. Schliesslich würde es ohne sie keine Weihnachten geben, war ihre Erklärung. Nach ein paar Liedern wurden die Kerzen angezündet. Eine andächtige Ruhe legte sich auf die Gesellschaft. Elly kniff die Augen zusammen. «Schau, Grossmutter!», rief sie entzückt. «Die Kerzen haben einen Kranz. Sie sind alle scheinheilig!»

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Katharina Michel-Nüssli, 1964, war früher Primarlehrerin, ist heute freiberuflich tätig. Ihr erstes Buch «Sommersprossen und Kondensstreifen» enthält Kurzgeschichten, Miniaturen und Gedichte. Bisher hat sie bei der «Goldenen Schreibfeder» in Bischofszell TG zwei Preise für ihre Texte gewonnen. Der Text «Feierabend» erschien in einer Anthologie. «Heimweg» wurde vom Schulmuseum Amriswil prämiert. Erstmals plant sie ein Schreibprojekt über Kindheitserfahrungen ihres Vaters und seiner Geschwister.

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Béatrice Bader «Heiliger Schein» – Scheinheilig 1

Ana sammelt Heiligenbildchen. Eigentlich wollte Kunstgeschichte studieren, aber weil ihr das zu anstrengend erschien, begann sie, Kirchen zu besuchen. Die Heiligenbildchen, welche sie dort in den Gebets- und Gesangsbüchern findet, nimmt sie mit.

Ana wohnt im dritten Stock eines einfachen Hinterhauses. Die Sonne scheint jetzt im Dezember immer nur während weniger Stunden am Tag durch die beiden halbblinden Fenster von Küche und Stube. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand lehnt ein alter Sekretär mit aufgeklappter Lade, in der Mitte des Raumes steht ein rechteckiger Holztisch, bedeckt von einem Stapel ungeordneter Heiligenbildchen, als hätte ein, ob all der auf dem Tisch versammelten geballten Heiligkeit aufgebrachter Windstoss sie kräftig durchgewirbelt. Eine nackte Glühbirne schaukelt sacht über dem Tisch hin und her und lässt die Schatten der beiden Stühle kaum wahrnehmbar in ihrem Licht tanzen.

Ana hält sich einen Hasen, um nicht allein zu sein. Eigentlich ist es ein Kaninchen, aber weil Ana den Hasen von Albrecht Dürer liebt, nennt sie ihn Hase. Sein Fell ist nicht braun mit wenig weiss wie das des Hasen auf dem Bild, sondern schneeweiss und flauschig.  Es ist auch kein Feldhase, sondern ein Angorakaninchen. Ana hat es von ihrer Grosstante übernommen, als diese eine Allergie gegen die Kaninchenhaare entwickelte. Ana hebt Hase auf ihren Schoss und streichelt ihn zwischen den Ohren. Dabei betrachtet sie die durcheinanderliegenden Heiligenbildchen. Unter dem Tisch warten in einer Holzkiste unzählige kleine Bilderrahmen.

Als Ana nach Hause kommt, ist es bereits später Nachmittag. Bald wird es dunkel sein. Die halbblinden Fensterscheiben blicken scheinheilig, so als ob sie nicht sehen würden, was auf der Strasse geschieht. In Anas Träumen hoppeln Hasen zwischen den Rädern fahrender Autos hindurch, die Häuser sehen weg. Ana zündet eine Kerze an, ihr Lichtschein spiegelt sich im Fensterglas und winkt ihr zu. Sie sieht ihr eigenes Spiegelbild und wünscht sich, es würde sich zur ihr auf den leeren Stuhl setzen und ihr für ein paar Stunden Gesellschaft leisten wie eine Freundin.

Ana sortiert die Heiligenbildchen nach Motiven – es gibt viele heilige Männer und nur wenige Frauen – und legt sie auf der Schreibfläche des Sekretärs aus. Danach ordnet sie aus der Holzkiste ein Holzrähmchen nach dem andern, jedes in der Grösse zu einem Bildchen passend. Die kleinen leeren Rahmen hängt sie wie es kommt an die Tapetenwand über dem Sekretär. Mit glasig leerem Blick starren sie auf Ana, sehen zu, wie diese weiter die Bildchen sortiert. Scheinheilig, denkt Ana.

Als sie am nächsten Tag aus dem Haus geht, steckt sie ohne zu überlegen eines der Heiligenbildchen in ihre Handtasche. Ein bisschen Heiligenschein kann nicht schaden, denkt sie, während sie zur Bushaltestelle geht. Die rote Wintersonne steigt über die Dächer wie ein frisch gefüllter Ballon; sie wirft ihr Licht auf die Strasse zwischen den Häusern als wäre es ein blutiger Teppich. Die Menschen warten mit gesenkten Köpfen frierend an der Haltestelle.

Ana öffnet ihre Handtasche und legt das Heiligenbildchen auf den Sitz der Wartebank. Sie lässt es liegen, als sie einsteigt. Durch die Scheiben des abfahrenden Busses kann sie sehen, wie eine Frau das kleine Bild mit der Schutzheiligen nimmt und betrachtet, bevor sie es in die Manteltasche steckt.

Als Ana an diesem Abend nach Hause kommt, setzt sie sich mit Hase aufs Bett und vergräbt ihre Hände tief in dessen Fell. Dann steht sie auf und geht zum Tisch. Das Flackern der Kerze bewegt die leeren Bilderrahmen und erweckt sie zu unheimlichem Leben. Ana fühlt sich durch sie beobachtet. Sie dreht die vor ihr liegenden Heiligenbildchen um und schreibt eine Botschaft auf die Rückseite des ersten: «Wo ist dein Heiligenschein»; dann aufs Nächste: «Tu nicht so scheinhelig»; und wieder aufs Nächste: «Jetzt kommt die Nacht der Nächte». Ana stellt sich vor, wie sie im Paradies herumgeht und wie eine Heilige die Bildchen an die dort lebenden hoch erfreuten Menschen verteilt. In dieser Nacht träumt sie nicht.

Während der nächsten Wochen lässt Ana täglich ein Heiligenbildchen liegen und bringt sie mit ihren Botschaften auf der Rückseite unter die Leute. Sie sieht, wie ein Mann es findet, umdreht und das Geschriebene liest. Erschrocken schaut er mit eingezogenem Kopf verstohlen um sich, als sei er ertappt worden. Nun ist Ana nicht mehr allein mit Hase, der ja eigentlich ein Angorakaninchen ist; sie sitzt jetzt in den Köpfen der Finder der Bildchen, die gemeinsam mit ihr über die von ihr geschriebene Botschaft nachdenken. Der kalte Dezemberabend haucht Eisblumen an die blinden Fenster ihrer Wohnung. Ana sieht sie und ist glücklich.

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Béatrice Bader, Künstlerin und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen. 

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

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Willi van Hengel «Entstellung des Gesichts. Eine Verirrung»

Er wusste immer, dass er einmal der reichste Oberbrucher wird. Und dass ihm irgendwann mal die richtige Idee kommen würde, war ihm auch klar. Nur dass es so einfach sein würde, hätte er nie gedacht. Vor allem nicht, wenn man dabei auch noch ehrlich bliebe. Wahnsinnig ehrlich. Mit dem Wahnsinn seinen Lebensunterhalt verdienen, dachte er und musste darüber seinen Kopf ein wenig von der einen zur anderen Seite schütteln, weil er lachen musste. Das sind die Momente, die man sich erträumt. Träumend in der Wirklichkeit hängen, und sie schießt einen nicht ab. Lässt einen hängen. Genüsslich. Für beide. Als hätte das Dasein einen Sinn fürs Gerechte.

Er wartete auf Klaus, der um halb neun kommen wollte. Klaus würde um die Ecke kommen, mit seinem Zweirad, was er naturgemäß überhaupt nicht gerne hörte. Er fuhr also am liebsten Motorrad, mehr noch als alles andere, da brachte ihn keiner von ab. Und was Klaus am wenigsten leiden konnte, war ein Sozius hinter ihm. Selbst seine eigene Freundin, wenn er denn mal wieder eine hatte, mochte er nicht hinter sich haben. Was er aber überhaupt nicht ausstehen konnte, war, wenn sie sich an ihm festhielt und von hinten ihre Arme um ihn geschlungen hatte. Wenn Klaus schon mal jemanden mitnahm, dann sagte er gleich, dass er das nicht mochte. Wem er nichts erklären musste, war seine süße Gummipuppe. Deshalb nahm er die auch am ehesten von allen mit. Obwohl er am liebsten immer noch alleine Motorrad fuhr. Und das würde auch so bleiben, bis an sein Lebensende. Das ließ Klaus immer wieder durchblicken. – Dass er damit aber Joschy zu einem reichen und deshalb angesehenen Oberbucher machen würde, konnte natürlich keiner ahnen. Klaus kam wie verabredet gegen halb neun um die Ecke gefahren. Joschy stand schon draußen vor der Tür, es waren schon sechs Minuten nach halb neun, und er hatte heute Lust, in die Kiste zu fahren. Dort war es am diesem Tag immer am schönsten. Es war viel los, aber nicht so überfüllt von so vielen uninteressanten Leuten wie an den Wochenenden. Mittwochs war Philosophentag. Man freute sich die ganze Woche schon darauf. Und als Klaus um die Ecke bog, sah Joschy, dass er nicht ganz alleine war, jemand mit einer etwas ungewöhnlichen Farbe saß hinten drauf, ohne sich an Klaus’ Bauch festzuhalten. Sie saß sogar etwas nach hinten gebeugt dort, so dass man Angst haben musste, dass sie rücklings hinunterfallen würde. Sachte brachte Klaus die Maschine zum Stehen. Joschy traute seinen Augen nicht. Er erkannte sie als besagte Puppe mit Helm auf dem Kopf. „Nimm ihr den Helm ab“, sagte Klaus, nachdem er sein Visier hochgeklappt hatte, „und klemm sie zwischen uns“. Joschy zögerte. Er wollte sie erst kennen lernen. „Willst du sie mir nicht vorstellen?“ fragte er ihn. „Sie heißt Evelyn und kann verdammt gut blasen“, antwortete Klaus etwas genervt. Er wollte zur Kiste. Merkte aber auch, dass Joschy sich noch sträubte. Also drehte Klaus sich um, während die Maschine ins Wanken geriet, Joschy aber geistesgegenwärtig nach dem Lenkrad griff und sie wieder ins Gleichgewicht brachte, und zog ihr den Helm aus. – „Sie sieht etwas komisch aus“, sagte Joschy, der sich mit ihrem Mund nicht gleich anfreunden konnte. Klaus stieß einen langen Seufzer aus. – „Evelyn, das ist Joschy, er hatte immer schon Probleme mit Frauen, also sei artig. – Können wir jetzt fahren?“ – „Is’ ja schon gut“, erwiderte Joschy, während er sich den Helm aufsetzte und hinter Evelyn auf dem Motorrad Platz nahm. In der Kiste stellten die drei sich zwei Meter hinter dem Tresen zwischen die Stehtische. Evelyn mit Helm in ihrer Mitte. Jeder, der eintrat und an ihnen vorbeigehen wollte, wunderte sich zunächst darüber, dass jemand den Helm anbehalten hatte. Dann erspähten sie allmählich einen rosaroten Körper, nackt. Und als sie ihr Auge schamvoll darauf fallen ließen, wurde es immer größer. Sie erkannten eine Plastikhaut. Und als Klaus das Visier von Evelyns Helm hochzog und sie den weit offen stehenden Mund wahrnahmen, wurden die einen wütend, die anderen lachten laut auf und verneigten sich vor Evelyn, die ihnen natürlich vorgestellt wurde. Irgendwann an diesem Abend fragte zu später Stunde ein Fremder, der Evelyn unbedingt näher kennen lernen wollte, ob er die Sau mal ausgeliehen haben könnte. Der Kunde konnte kaum noch stehen und hatte nur noch Augen für die Kleine. – „Aber nur für zwei Bier und zwei Cola“, sagte Klaus.

Nickend drehte der Fremde seinen Kopf zur Seite, wie Betrunkene es nun mal tun, langsam und bedächtig, und bestellte die Getränke. „Und zehn Euro“, schoss es aus Joschys Mund, der das eigentlich gar nicht sagen wollte. Joschy war ein Mensch, der anderen Menschen nie zu nahe treten wollte. Deshalb sah Klaus ihn auch so überrascht an, genau so überrascht wie die vielen Leute, die an diesem Abend an ihnen vorüber gegangen waren. – „Klar“, antwortete der Fremde und begann nach seinem Portemonnaie zu suchen. Er legte zehn Euro auf den Tisch. – „Und wie wissen wir, dass du damit nicht abziehst“, fragte Klaus ihn. Schon legte der Fremde seine Geldbörse neben den Zehn-Euro-Schein auf den Tisch. – „Ich komm wieder, ehrlich“, stammelte er, „aber ohne Helm“, fügte er lallend hinzu.
Klaus nahm Evelyn den Helm ab, und sie sahen den beiden hinterher, wie sie aus dem Lokal verschwanden. Ein komisches Gefühl, dachte Joschy. Doch er sagte es nicht, wollte es lieber für sich behalten. Es war nicht so, dass irgendein Fremder mit irgendeiner Puppe ging. Es war anders.

Um sich nichts anmerken zu lassen, bestellte er zwei Bier und zwei Hennessy. Mit Cola, warf Klaus schnell hinterher, worauf Joschy nur sorry sagte. Er hatte nicht daran gedacht, dass Klaus mit dem Moped war, so zumindest nannte er seine Maschine, und außerdem konnte Klaus eh nicht viel vertragen. Ein richtiger Kumpan war er nie. Darin konnte man sich nie auf ihn verlassen. Das konnte Joschy, wenn er ehrlich war, noch nie leiden. Und das war auch immer etwas, was zwischen ihnen stand. Es hatte was mit der Einstellung zum Leben zu tun…
Nachdem die beiden ihre Gläser ausgetrunken hatten, sagte Klaus, dass der Typ bestimmt abgehauen sei, weil in seinem Portemonnaie nur noch 22 Euro waren. Pass und Bankkarte waren nicht darin. Joschy blickte auf. Nach einer kurzen Pause bat er Klaus mitzukommen. Er führte ihn über den Parkplatz in eine gegenüberliegende Hecke aus Koniferen. Er begann sie mit seinen Händen abzutasten, wie ein Bulle, der nach einer Waffe oder nach Stoff sucht. Nur dass der eine oder andere Ast sich nicht nur bewegte, sondern gar zurückschlug. Das machte Joschy wütend, und er suchte immer schneller, bis er plötzlich aufschrie: „Sieh hin, da liegt er.“ Der Fremde war über Evelyn eingeschlafen. Die weiße Haut seines Hintern blinzelte den beiden entgegen. Klaus sah Joschy fragend an. Der sah genauso jungfräulich zurück, mit seinen großen Rehaugen. Sonst immer so cool tun, dachte Joschy, und kaum sind wir in einer anderen Welt, schon ist der Lack ab. Er schüttelte nur mit dem Kopf und sagte nichts, weil er wusste, dass man in solchen Situationen einen Menschen am besten erkennen kann und seine Erkenntnis dann für sich behalten sollte, weil jedes Wort nicht nur zu viel ist, sondern stört.

So sah Joschy sich veranlasst, einen Ast der Konifere abzubrechen, um damit leicht auf die sich bewegende weiße Haut zu schlagen. Es tat sich nichts. Also versuchte er, etwas strenger zuzuschlagen. Doch immer noch keine Reaktion. Dann noch etwas härter. Im Einklang mit einem verzerrten Gesicht, das zum Glück im Dunkeln blieb, kam dann eine erste Regung. Noch härter. Ein erstes Lebenszeichen. Ein Knattern in der Stimme. Ein erstes Wort. Ein Satz fast. – „Eij, was soll das!“ – „Eij, du Penner, steh auf, du bringst unsere Evelyn um. Sie erstickt. Hast du se nicht mehr alle.“ Der Fremde regte und räkelte sich. – „Wollt’ ich nich’, sorry“, entschuldigte er sich, während er aufstand und sein Gleichgewicht zu finden suchte. – „Warst du zufrieden?“ fragte Joschy. – „Toll!“, antwortete der Fremde. – „Okay, ich glaub dir. Hier hast du dein Portemonnaie zurück.“ Der Fremde wurde plötzlich munter. Er bedankte sich überschwänglich, indem er Klaus um den Hals fiel, ihn dann losließ, um Joschy ebenso zu umarmen. Die beiden nahmen es hin. Und während sie dem Fremden hinterher blickten, sagte Joschy ganz trocken: „Der erste Freier!“ Klaus, der nicht hingehört hatte, sagte nur: „Und wer macht sie nun sauber?“ Einige Tage später rief Joschy seinen Freund Klaus an und fragte ihn, ob der ihm Evelyn überlasse. Klaus war froh, die Puppe los zu werden. Er mochte sie nicht mehr anfassen, seitdem dieser Typ sie hatte. Das war der Tag, an dem Joschy seine Chance sah. Mit diesem Tag setzte er seine Idee in die Wirklichkeit um. Nun ließ er die Puppen für sich tanzen. Bis hierher war es immer umgekehrt. Bis sie zuletzt überhaupt keine Achtung mehr vor ihm hatten, und ihn nur noch mit Helm herumlaufen ließen. Und es dauerte nicht lange, da konnte er sich eine zweite Puppe anschaffen, und eine dritte… eine vierte meldete sich fast von alleine. Die nämlich bekam er auch geschenkt, wie die erste, Evelyn, die nach wie vor sein bestes Plastikpferd im Stall war. „Pfand: 50 Euro und gespült zurück!“ Das war sein Werbespruch. Und alles lief wie am Schnürchen. Klar, hin und wieder kam die eine oder andere Puppe nicht wieder. Aber das machte gar nichts. Er hatte ja die 50 Euro als Pfand. Was für ihn aber am Wichtigsten war: Es war nie Evelyn, die wegblieb! Sie kam immer wieder zu ihm zurück! Auch wenn sie mit der Zeit, was nicht ausblieb, älter und verbrauchter wurde, so gab es Freier, die nur sie haben wollten. Mit der Zeit nämlich hatte sie Ecken und Kratzer entwickelt, die den Jungs gut taten. Verdammt gut. Sonst wäre sie nicht so gefragt gewesen. Und das Schönste war, dass sie den glatteren Mädels so einiges beibringen konnte. Joschy wollte eigentlich gar nicht reich werden. Er wollte nur unabhängig sein. Frei, wie er immer sagte, frei und trinken können, wann er will. Damit meinte er zwar nicht, wie er immer betonte, kein Bier vor Vier, sondern den Schmerz tief in seinem Herzen, der gegen seine ausgebeulten Gedanken fuhrwerkt, und das manchmal sage, weil er schräg geträumt habe, sonst aber gehe es ihm blendend, schließlich habe er fast alles erreicht in seinem Leben, und damit meinte er sicherlich, wie man sich vorstellen kann, dass man die eine oder andere Frau, die man in echt oder im Fernsehen sieht, wahrlich nicht von seiner Evelyn unterscheiden könne, nein, Evelyn… nein, lassen wir das.

Das einzige, was er wollte, war, sich einen weißen Anzug zuzulegen, wo er doch die ganze Zeit schon weiße Schuhe trug. Der weiße Anzug war für ihn wie eine weißer Mercedes mit weißem Lenkrad. Einmal aber war es beinahe vorbei mit seinem Geschäft. Ein Zuhälter aus dem Nachbarort hatte es auf seine Puppen abgesehen. Denn mit der Zeit wurde die eine oder andere Puppe angegriffen, attackiert von fremden Fingern mit fremden Nadeln. Und es wurde immer schwerer für Joschy, das seinen Kunden klar zu machen. Sie blieben mit der Zeit weg. Joschy wusste aber, dass sie niemals echte Haut vorziehen würden. – Joschy war der beste Psychologe der Umgebung. Er hat Menschen immer schon gerne beobachtet. Und manchmal konnte er sich nicht vorstellen, dass den Anderen es anders erging. Das, was man sagte, war doch in den meisten Fällen, das Uninteressanteste und Unwichtigste. Doch nur zwischen den Wörtern eitert so was wie Wahrheit heraus. Doch nur in Blicken oder im Schweigen fühlt man sich ertappt. Doch nur da, und sonst nirgendwo. Und er hatte recht. Mit der Zeit kamen alle seine Freier wieder zurück. Da halfen keine Nadelstiche. Irgendwann fuhr Joschy mit Evelyn in ein Geschäft, stellte sie ohne Helm als seine Evelyn vor und bat den Verkäufer mit ausgestreckter Hand diese herrliche Harley Davidson an seinen besten Freund Klaus zu verschicken: mit besten Grüßen von J. und E. – nach 20 Jahren! Der weiße Anzug war zwar etwas verwaschen, und Evelyn brauchte schon seit langer Zeit nicht mehr zu arbeiten. Joschy hat es ihr aber nie verboten. Im Gegenteil. Er mochte die Vorstellung, dass sie von einem anderen begehrt und manchmal sogar berührt würde. Und er hat lange Zeit gebraucht, um es ihr zu sagen. So wie manche Menschen nie die Zeit dafür finden, sich der Wahrheit zu stellen, sagte er Klaus einmal nach einem Fußballspiel. Joschy konnte zwar mit diesem Spiel nichts anfangen. Er ist aber Klaus’ zuliebe hin und wieder mit ins Stadion gefahren. Ganovenehre, dachte er dann immer, und sah Klaus an und musste denken, dass der auch Ganovenehre dachte, und Joschy fühlte sich mitten unter den vielen Menschen nicht allein gelassen. Was Gedanken und Gefühle alles anrichten können, dachte er dann und freute sich mit, wenn Klaus das erste Tor seiner Elf bejubelte.

Die beiden, Joschy und Evelyn also, waren verliebt wie an dem Tag, als Klaus sieben Minuten nach halb neun mit ihr um die Ecke bog, von der Kirchenuhr war fast noch der Nachklang der Glocke zu hören, die sich zwei Mal meldet, wenn es halb ist, und Joschy nie wieder in seinem Leben das Gefühl los wurde, das er seit damals hatte, als er zum ersten Mal die Uhr für um halb schlagen hörte, es hatte so etwas Beruhigendes, noch eine halbe Stunde bis zur vollen Zeit, noch so viel vor einem, noch so viel Leben und Unerzähltes und so viel Hoffnung, als hätte ein Flugzeug niemals vor zu landen.

Willi van Hengel, 1963, arbeitet als Lektor im Deutschen Bundestag. 2006 veröffentlichte  er „Lucile“, seinen ersten Roman, 2008 der Roman „Morbus vitalis“ und 2010 der Gedichtband „Wunderblöcke“, 2018  sein erstes Theaterstück „de Janeiro – ein Punk ertrinkt in Weißensee“, 2021 das Theaterstück „flanzendörfer“ und 2022 der Roman „Dieudedet oder sowas wie eine Schneeflocke“. Der Roman „Entstellung des Gesichts“ wird im März 2025 im Verlag kul-ja-publishing erscheinen.

Eva Strautmann «Ohne Titel»

Ohne Titel 1

Eisiges Zaudern
im schwergewichtigen Blick hinab in silbernen Boden,
weisse Lava, sprudelnd über Wasser 
oder Stromwellen?
Im Gebirge abhanden gekommen überschäumtes Gesicht
des Schwans, nein der Figur,
stakt vorbei an den Wegen,
an überragenden Gipfeln tosender Stille
und vereinsamt unterhalb der Erde.
Verlorenes Gebirge im Strahl gelblichen Augenblicks
springt über die Ufer unserer Augen,
jagt sich selbst im Schacht
ihrer geschusterten Tornister auf dem Rücken
des Unsichtbaren
verloren auf weiter Flur

 

Swan – beautiful, Öl auf Leinwand

 

Ohne Titel 2

Das verborgene Herausragen, 
in der Ferne, 
ein Halm von Grün,
unsichtbar im Sichtbaren 
verloren, begraben, 
im Weitläufigen,  
begrünt im Blumengelb, 
dann wieder flach, 
eben-mässig, 
hochgehoben, auf goldenen Stelzen, 
nein gold schimmernd, 
prächtig im Verborgenen, 
weite Landschaft, 
im See, 
zwischen Fels und Wasser nur ein Streifen 
sprechenden Grüns, 
schreiendem Boden, 
irrend am Singen 
und greifend nach einer Stimme

 

The Dog II, Öl auf Leinwand

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Grossbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regieassistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © privat

Jürg Rechsteiner «Eine seltsame Botschaft»

Tell setzt sich an einen Tisch im Schiffsbauch. Trotz Kapuze ist ihm der Fahrtwind an diesem wolkenverhangenen Septembertag kurz nach Isleten zu kalt geworden. Vielleicht wäre es klüger gewesen, in Altdorf zu bleiben. Hier drin riecht es nach Flammkuchen und Kaffee, doch für seinen Rücken ist die angestaute Wärme sicher besser. Am Tisch nebenan malt ein Kind mit Farbstiften und singt vor sich hin. Er muss auf sich achten und beweglich bleiben, mit blockiertem Rücken ist nichts zu gewinnen, weder eine Verhandlung, noch ein Krieg, noch persönlicher Friede. Um all das geht es heute, und natürlich geht es um Freiheit, immer wieder geht es um Freiheit. Alle reden davon, und viele wollen frei sein. Ihm geht es um Verantwortung, so viel ist ihm inzwischen klar geworden. Der See lässt ihn für einmal nicht handeln, sondern nachdenken. Er gilt als Rebell, dabei hat er an Gelassenheit gewonnen. Schon wieder dieses Wort, gewonnen. Er hat sich nie als Anführer gesehen. Das wurde ihm auch schon als Feigheit ausgelegt. Freiheit und Führung passen nur für kurze Zeit zusammen, ist seine Erfahrung.

«Es ist Zeit, deine Waffe weiterzugeben», diese kurze Botschaft hat er vor zwei Tagen erhalten. Wer bin ich, dass ich jetzt in diesem Schiffsbauch sitze, unterwegs zu einem Geheimtreffen? fragt sich Tell. Der Gipfel des Niederbauen schaut aus den Wolken, wie ein Felsbrocken der auf einem Wolkenband schwebt, ein grauer Kopf unter einem blauen Stück Himmel. Wer bin ich? Vor Jahren hat er mit seiner Waffe einen Gewaltherrscher umgebracht. Seither lebt er mit seiner Tat. Als Held, angeblich. Die Waffe hat er noch eine Zeitlang zur Jagd von Wild gebraucht. Das hat nicht verhindert, dass seine Waffe zum Symbol geworden ist, zum Symbol für Widerstand, für gerechtfertigte Gewalt gegen Gewalt, für…, ja, für viele Deutungen ist sie dienlich. Nun soll er sie weiterreichen, andernorts würde sie gebraucht, so heisst es. Er hat sich zu einem geheimen Gespräch bereit erklärt. Doch jetzt auf dem Schiff unterwegs zu diesem Treffen kreisen seine Gedanken, ohne an ein Ziel zu finden. Ist es Eitelkeit? Selbstüberschätzung? Die Waffe lagert zuhause in einem abgeschlossenen Schrank. Soll sie dort bleiben? Als Symbol?

Das Treffen kann er nicht mehr absagen, aber er wird keine abschliessende Antwort geben. Er muss die Sache mit Hedwig besprechen. Das wird seine Antwort sein: Ich muss das mit Frau und Kindern klären. Tell ahnt, was Hedwig sagen wird. 

Jürg Rechsteiner, geb. 1956, lebt in St. Gallen. Schriftsteller und Jurist. Zuletzt Lyrikveröffentlichungen, u.a. in orte Verlag Poesie Agenda. Roman «Halbland», mehrere Hörspiele bei Radio SRF.

Bettina Scheiflinger «la ultima»

1

Die Frau liegt in ihrem Bett. Es kommt ihr vor, als träume sie, als habe sie die Augen geöffnet und schliefe doch noch immer. Nur im Alptraum ist man sich so sicher, wach zu sein.
Sie steht auf, geht auf die Strasse, endgültig vertrieben aus der Sicherheit des eigenen Zimmers, getrieben von einer schrecklichen Ahnung. Etwas ist anders, ihr Name ist weg, ist verschwunden, war gestern noch da. Ihr Name war das erste Wort, von ihrer Mutter an sie gerichtet, das Wort, das ihre Schwester ihr tröstend einflüsterte, das Wort, mit dem ihre Freundin sich suchend an sie wendete, das Wort, das ihre Tochter rief in der Furcht und in der Freude. Sie schüttelt den Kopf, kann ihn einfach nicht erinnern.
Ich bin die Namenlose, denkt sie.
Die Namenlose klopft an Türen und Fenster. Gestern noch wohnten hier alle Menschen zusammen. Hier lebten sie alle und gaben allem eine Form und einen Grund, benannten die Dinge und einander, erkannten sich. Jemand muss sich doch an ihren Namen erinnern und ihn ihr nennen können. Aus zaghaftem Klopfen wird ein Hämmern und Rütteln, ein mächtiges Reissen mit Klage und Zorn. Keine da, sie beim Namen zu nennen. Wo ist die Freundin, die Mutter, die Schwester, die Tochter? Die Zimmer hinter den aufgerissenen Türen sind hohl, sind Löcher in der Stadt, sind Wunden in den Mauern. Das Echo in den Strassen und Innenhöfen verhöhnt ihre Suche. Mehrmals meint sie, es verrate flüsternd ihren Namen. Es gibt doch immer nur ihre eigenen Geräusche wieder, ihr Name ist es nie.
Sie versteht, alle Frauen sind weg, alle Mütter und Schwestern, Töchter und Freundinnen. Mit ihnen verschwunden sind alle Namen. Die Stadt ist ohne Frauen, wer weiss, wie und wohin sie gingen. Sie ist die Einzige, die noch verbleibt.
Ich bin die Zurückgelassene, denkt sie.

2

Der Morgendunst verzieht sich in die Höhe, löst sich auf, macht Platz für das Licht. Gleich steht die Sonne so hoch, dass sie zwischen die Häuser in die Gassen gelangt und jeden Winkel ausleuchtet. Die Zurückgelassene kauert in einer schattigen Ecke, als das Sonnenlicht sie erfasst und ihr Versteck beleuchtet. Es strahlt sie an und stellt sie aus. Sie erhebt sich, ihre Finger ballt sie zu einer Faust. Ihre Haut glänzt in der Sonne. Sie hört Schritte sich ihr nähern, begleitet von aufgeregten Stimmen. Einige Männer stehen vor ihr. Es ist ihr Vater, ihr Sohn, ihr Bruder, ihr Freund. Als die Männer sie erblicken, schauen sie sie bewundernd an, den Mund leicht geöffnet. Sie verbirgt ihr Zittern hinter einem Lächeln.
Die Männer treten einen Schritt zurück, bestaunen sie mit glänzenden Augen. Einer streckt ehrfürchtig seine Hand nach ihr aus und berührt ihr Haar, streicht ihr behutsam über den Kopf, fährt mit einem Finger über ihre Wange bis zu ihrem Kinn. Der Griff eines Anderen geht knapp an ihr vorbei, sie spürt seine Fingerspitzen ihre Schulter streifen, als sie sich von ihnen entfernt.
Ich bin die Bewunderte, bemerkt sie.
Aber auch das ist nicht ihr richtiger Name.
Die Männer verkünden ihre Entdeckung. Die Bewunderte hastet über die Strasse auf den Platz, von allen Seiten nähern sich schon entschlossene Schritte, stark im Takt der Gruppe, drohen, sie einzukreisen. Die Schritte folgen ihr bis an den Rand der Stadt, werden lauter, werden schneller. Sie beginnt zu laufen.
Ich bin die Gejagte, wird ihr bewusst.
Die Gejagte läuft über das Feld vor der Stadt, über die Wiese dahinter, bis zu den Büschen und Bäumen. Gestern noch nannte sie die Pflanzen bei ihren Namen, konnte leicht eine von der andern unterscheiden. Sie spürt ein Brennen im Nacken, weiss, die Sonne ist noch da und wird weiterhin auf- und untergehen, die Erde hört nicht auf, sich zu erneuern.
Sie läuft in die Obhut des nahen Waldes. Sie ist nicht weit entfernt von der Stadt, trotzdem ist sie dankbar um die Baumkronen und Büsche, die sie abschirmen von der Bedrohung der Stadt, um das Moos, das ihre Schritte dämpft, die langsam zur Ruhe kommen. Sie schöpft Atem, schöpft Hoffnung. Der Boden saugt an ihren Füssen, bis sie sich in einen Klumpen Schlamm verwandeln. Ihre Hände verschwinden in den Blättern eines Strauches, rascheln bei jeder Bewegung, sind nicht mehr von der Pflanze zu unterscheiden. Ihr Körper schmiegt sich in die Kuhlen des Moosbodens, die Haut schimmert in sattgrünem Ton, die Härchen auf ihren Armen und Beinen wachsen grün und stark. Der Wald und ihre vor Angst und Sorge verhärteten Muskeln, alles wird weich, alles vereint sich. Die Frau weiss, es gibt ihren Namen nicht mehr und es gibt ihre Gefährtinnen nicht mehr.

3

Sie erwacht vom Lärm der Männer. Sie erhebt sich vom Boden, spürt, dass unter ihr Kartoffeln reifen, an denen Käfer knabbern, sieht, dass über ihr Äpfel an den Ästen des Baumes baumeln, hört das Zwitschern der Vögel.
Die Männer diskutieren, geben sich Zeichen, rufen sich zu, brüllen vor Aufregung und Angst, während sie im Chaos der Stadt irren. Die Frau geht sicheren Schrittes auf den Lärm zu, zurück in die Stadt.
Die Männer prüfen regelmässig ihre Waffen, kontrollieren deren Einsatzbereitschaft. Sie spreizen die Hände um das Metall, bis ihre Knöchel sich weiss färben, legen ihre Zeigfinger über die Abzüge, umklammern die Griffe ihrer Messer. Als die Frau in der Stadt erscheint, verstummen die Männer, lockern ihre Finger und Muskeln.
Einer nähert sich ihr, hält sie fest. Die Männer jubeln. Die Frau zuckt nur wenig zusammen, ist bereit. Der stärkste Mann tritt ganz nah vor sie, will sie schultern, will sie in die Mitte der Stadt tragen. Sie reisst sich los, schreitet selbst voraus. Die Männer folgen ihr, es sind ihre Väter, ihre Söhne, ihre Brüder, ihre Freunde. Der stärkste Mann geht nie weiter entfernt als einen Schritt hinter ihr.
Auf dem Platz bleibt die Frau stehen. Die Männer umringen sie, kratzen sich am Kopf, blicken sich an und dann zu Boden. Es wird still.
Die Frau schaut den Männern in die Augen, dann geht ihr Blick zwischen ihnen durch und über sie hinaus. Sie weiss, sie ist die Letzte, sie ist die Erste.
Sie kann sich teilen, kann Neues aus sich hervor bringen, sich aufspalten und neues Leben geben. Sie ist mächtig. Das ist das Ende. Und das ist der Anfang.

Die Frau öffnet den Mund, bringt erst nur ein Kratzen und Krächzen heraus. Die Männer weichen einen Schritt zurück, bleiben mit offenen Mündern stehen. Die Wörter vibrieren in ihrem Hals, als sie zu sprechen beginnt. Sie findet ihre Stimme, findet ihren Namen.
Laut und kraftvoll ruft sie ihn allen zu.

Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert. 
Ihr Debütroman „Erbgut“ erscheint im August 2022 bei Kremayr&Scheriau.

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Beitragsfoto Mercan Falter

Ralf Bruggmann «Cindy und Bert»

Da ist dieser Teebeutel. Es ist zu bezweifeln, dass es viele gute Geschichten gibt, die mit einem Teebeutel beginnen. Doch einerseits ist es auch zu bezweifeln, dass diese Geschichte eine gute Geschichte ist. Und andererseits steht der Teebeutel nicht am Anfang der Geschichte, sondern mittendrin, und vielleicht sogar schon kurz vor dem Ende. Cindy ist sich diesbezüglich nicht sicher, aber sie hat eine Ahnung.

Cindy fragt sich, wie der Teebeutel dorthin gekommen ist. Cindy fragt sich viele Dinge, unter anderem fragt sich Cindy, warum sie sich so viele Dinge fragt, und sie fragt sich, warum sie so oft keine Antwort kennt. Manchmal denkt Cindy, dass sie dumm sei, doch dann erinnert sie sich an die Titelmusik der Sesamstraße, sie singt im Kopf mit, Der, die, das – wer, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm, und Cindy weiß dann zwar noch immer nicht genau, ob sie dumm ist, aber sie ist sich sicher, dass sie es nicht bleiben will, wenn sie es denn wäre, darum fragt sie sich weiterhin viele Dinge.

Der Teebeutel liegt mitten auf dem Tisch in der Küche von Bert, und eigentlich wollte Cindy nur ein Glas Wasser trinken, denn sie hatte Durst und einen pelzigen Belag auf der Zunge, doch jetzt steht sie da und starrt auf den Teebeutel, als läge in ihm ein elementares Rätsel der Weltgeschichte, und Wasser getrunken hat sie noch immer nicht.

Dass sie in der Küche von Bert steht, liegt daran, dass sie zuvor im Bett von Bert lag, und dass sie im Bett von Bert lag, lag vor allem am Alkohol. Sie hatte wohl angenommen, der Sex mit Bert könnte das Loch füllen, das sich in ihr so unbeirrbar auszubreiten schien, doch eigentlich war es vor allem der Alkohol, der dieses Loch füllte. Bert war nett, Bert war auch ein wenig hübsch, außerdem hatte er eine gute Körperhaltung und gepflegte Finger, doch darüber hinaus war er nichts Besonderes, aber nichts Besonderes war immer noch besser als nichts, hatte sich Cindy gedacht und war mit ihm mitgegangen.

Die Wohnung war gepflegt und sauber, eher lieblos eingerichtet, wie ein Hotelzimmer, nur ohne Bibel in der Schublade. An einer Wand hing ein Bild von Mahatma Gandhi, und das hatte Cindy ein wenig beruhigt, weil Menschen, die sich Bilder von guten Menschen an die Wand hängten, grundsätzlich keine schlechten Menschen sein konnten. Bert erzählte, was er beruflich machte, aber Cindy hat es vergessen. Wahrscheinlich war sie gerade mit dem Bild von Mahatma Gandhi beschäftigt, als Bert von seiner Arbeit berichtete.

Ich will dich ficken, hatte Bert irgendwann in beinahe sachlichem Ton gesagt, daran erinnert sie sich noch, und sie erinnert sich auch daran, dass sie ihm mit einem Schulterzucken geantwortet hatte. An den Sex erinnert sie sich hingegen kaum mehr. Bert hatte komische Geräusche gemacht, gerade so, als hätte er Schmerzen oder Angst oder beides, aber womöglich war er auch einfach vergnügt. Als er einschlief, war sie noch sehr weit von einem Orgasmus entfernt, aber auch darauf hatte sie wohl nur mit einem Schulterzucken reagiert, und nach einigen Minuten war sie ebenfalls eingeschlafen.

Und jetzt steht sie eben vor diesem Teebeutel, einem gebrauchten Teebeutel, der offensichtlich schon seit Tagen auf dem Tisch in der Küche von Bert liegt, denn die wenigen Teetropfen, die ihm noch entronnen waren, haben längst einen trockenen braunen Ring um den Teebeutel gebildet, um die Inszenierung aufzuwerten, und als Cindy den Teebeutel leicht mit dem Finger berührt, ist sie erstaunt, wie hart er sich anfühlt. Als sie ein Kind war, hatte sie eine Maus als Haustier, die Maus hieß Felix, und als Felix starb, fühlte sich sein Körper ganz ähnlich an wie der Teebeutel auf dem Tisch in der Küche von Bert. Sie begrub Felix damals im Garten und ist jetzt umso mehr irritiert, dass Bert den toten Teebeutel einfach auf dem Küchentisch liegen lässt.

Früher gab es ein Schlagerduo namens Cindy & Bert. Das fiel ihr sofort ein, als Bert seinen Namen nannte, und Cindy musste lachen, woraufhin Bert wohl dachte, sie fände seinen Namen lustig. Er kannte Cindy & Bert offensichtlich nicht, denn als sie ihrerseits sagte, wie sie heißt, nickte er lediglich. Der größte Erfolg von Cindy & Bert war das Lied Immer wieder sonntags, und jetzt steht Cindy vor dem Teebeutel in Berts Küche, es ist Sonntag, sie hat keine Meinung zu Cindy & Bert, doch sie ist sich sicher, dass sie kein Interesse daran hat, zwischen sich und dem Bert im Bett ein verbindendes & entstehen zu lassen.

Cindy trinkt endlich einen Schluck Wasser, dann noch einen. Dann betrachtet sie erneut den Teebeutel. Es ist einer jener Teebeutel, deren Etikett mit hübschen Sinnsprüchen versehen sind, mit denen man sein Leben und die Welt verbessern kann. Sie dreht das Etikett des Teebeutels zu sich hin und liest. Sich an jedem Moment zu erfreuen – das ist der Sinn des Lebens. Cindy lächelt, obwohl sie es gar nicht witzig findet, und das Lächeln ist so bitter, dass sie gleich nochmals einen Schluck Wasser trinken muss.

Sie öffnet alle Schränke in der Küche, zieht Schubladen heraus und schiebt sie wieder hinein, bis sie endlich findet, was sie sucht. Sie stellt die kleine Schachtel auf den Tisch, öffnet den Deckel und nimmt einen Teebeutel nach dem anderen hinaus. Fein säuberlich legt sie alle Teebeutel vor sich hin, breitet die gesamte Weisheit auf engstem Raum aus und liest sich dann durch das teebeutelphilosophische Schlaraffenland.

Allen zu dienen, das ist die Kunst, glücklich zu sein. Mach dir selbst und anderen Mut. Wenn wir ganz bei uns selbst sind, sind wir Liebe. Lebe deine Stärken. Geh nur Wege mit Herz. Sei ein Teil der Antwort auf die Probleme dieser Welt. Lebe mit Respekt vor dir selbst und anderen. Schätze die Person, die du bist. Lerne in Stille, dir selbst zuzuhören. Lass dein Verhalten für sich sprechen. Mitgefühl bringt Verständnis. Sei freundlich zu dir selbst. Löse ein Problem und hundert andere verschwinden. Dankbarkeit schenkt viele neue Möglichkeiten. Leben ist Teilen. Geduld zahlt sich aus. Im Vergeben zeigt sich Größe. Hab Mut, deiner Intuition zu folgen. Sei stolz darauf, wer du bist. Manchmal verschwindet alles Komplizierte, wenn ein neuer Morgen erwacht.

Cindy lässt den letzten Teebeutel sinken. Sie zuckt mit den Schultern, starrt auf die gesammelten Sinnsprüche. Dann denkt sie, dass es Zeit ist, allmählich zu verschwinden, am besten, bevor auch für Bert ein neuer Morgen erwacht. Sie sammelt die Teebeutel ein, verstaut alle bis auf einen wieder in der Schachtel und stellt diese zurück in den Schrank. Den gebrauchten Teebeutel lässt sie auf dem Tisch liegen, denn jene Geschichte ist tatsächlich zu Ende. Den ungebrauchten Teebeutel nimmt sie mit.

Ralf Bruggmann, 1977, ist in Herisau in der Schweiz aufgewachsen und lebt heute mit seiner Familie in Speicher. Neben seiner Tätigkeit als Texter in einer Werbeagentur schreibt er Textfragmente, kurze und lange Geschichten und realisiert Literaturprojekte. Zahlreiche Texte sind auf disputnik.com zu finden. 2016 gewann er den Jury- und Publikumspreis beim Schreibwettbewerb «Literaturland» des Amts für Kultur des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Neben Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2017 der Prosaband «Hornhaut» in der Edition Outbird. Mit «delfin» erschien im Sepätsommer 2024 im orte Verlag sein erster gedruckter Roman. Zuvor veröffentlichte Ralf das fragmentarische Romanexperiment «Nita verschwindet» im Internet.

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Beitragsbild © Andreas Butz

Fee Katrin Kanzler „Flipping the bird“

Küßt euch und beißt,
Zwei Otter, in die Dotter, hartgekocht, den Toast.
​​Durs Grünbein


Komm. Du Idiot. Schau nicht, als wären meine Augen aus Dynamit. Sie sind aus Gallerte. Wie die Sülze beim Metzger, wie der Froschlaich am Ufer. Mach das Kopfkino aus. Hör auf das Gurgeln der Amseln. Beweg dich.

Unter Wasser ist es wärmer als oben. Die Sonne steht zwischen den Schlehdornbüschen, noch geht sie früh unter. Pippa lässt sich von der Luftmatratze gleiten, schwimmt in den flachen Uferbereich. Dort hat der See noch etwas Tageswärme gespeichert, nicht viel, noch ist Frühling. Aus der Wiese hängt Hahnenfuß auf den Strand herab, hingekleckste Dotterflecken, und eine Silberweide schleift ihre Zweige über den lehmigen Grund.
Matt folgt Pippa. Je näher er, Bohnenstange, dem Ufer kommt, desto häufiger stoßen seine Knie gegen den Seeboden. Schließlich liegt er neben dem Mädchen, auf die Ellenbogen gestützt, wirbelt Schlamm auf.

Wie du guckst. Wie ein Hund, der sich vergewissert, ob alles in Ordnung ist. Ich wette, dass du noch keine im Bett hattest. In deinem schottischen Dorf, hundert Seelen am Arsch der Welt, Rinder, Schafe, keine Touristen. Ein Himmel voller Möwen, im Sommer zwei, drei Ornithologen zu Gast, und fertig. Jetzt arbeitest du im Schottlandladen, Spirit of Alba, und kommst mit der Großstadt nicht klar. Du fährst alle paar Tage hinaus in die Landschaft, zu Tümpeln wie diesem hier. Seit du da bist, starrst du mich an mit diesem Hundehunger.

Alles an Matt ist größer als an Pippa. In einen seiner Schuhe kann sie beide Füße stecken. Sie hat es ausprobiert, bevor sie ihre zerrissenen Strümpfe abstreifte, bevor sie ins Wasser sprang. Als sie Matts Hand nimmt, durch die trübe Suppe führt, spreizen sich seine Finger. Seine aufgespannte Flosse bedeckt Pippas kompletten Bauch.
Der Wind hat etwas Müll ans Ufer getrieben, das Mädchen fischt einen kleinen, violetten Tetra Pak aus dem Unrat. Wasser, Fruktosesirup, Sauerkirschsaft, Holunderbeerkonzentrat, Limettensaft, Ascorbinsäure. Sie liest Matt das Kleingedruckte wie ein Gedicht vor, bevor sie die Verpackung ins Gestrüpp wirft. Ein Paar Schwingen bringt die Schilfkolben in Bewegung, ein Graureiher steigt in die Luft. Matt lässt seine Hand einige Zentimeter wandern. Hinter den Bäumen lässt sich die Skyline erahnen. Es ist, als hätten sich die Gebäude extra hochgestemmt, als spähe die Stadt eifersüchtig herüber.

Unsere erste Begegnung in der Wunderbar, du warst am Morgen erst aus Edinburgh eingeflogen, ich hielt dir meinen Mittelfinger ins Gesicht. Pippa, Philippa, flipping the bird, sagtest du. Ich fragte dich, ob das eine Songzeile, irgendein Zitat sei. Du hattest es erfunden. Ich beschloss, dass du nur halbseitig ein Idiot bist. Die Hälfte, die Songzeilen produzieren kann, die nach Heidekraut riecht und Klavier spielt, ist in Ordnung. Vertrottelt bist du trotzdem. Entschuldigst dich für jeden Mist. Wenn ich in deine Badeshorts greife, wirst du immer noch dein gehauchtes Sorry auf den Lippen haben. Wenn ich deinen Schwanz anfasse, wirst du die Augen verdrehen wie ein Lobotomierter.

Die Seerosen treiben fette Knopsen an die Oberfläche. Zwei davon sind schon aufgesprungen, zwei Spritzer Monetweiß im Schlammgrün des Sees. Ein Teichhuhn stakt über die Seerosenblätter, viel vorsichtiger, als es müsste.

Im Frühjahr 2025 wird im danube books Verlag (https://www.danube-books.eu/) der Erzählband „Ameisenschnee“ erscheinen, darunter auch der hier erschienene Text.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«. 2020 war sie Finalistin des 22. Irseer Pegasus.

«Wichtige Männer warten lassen»

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Beitragsbild @ Thomas B. Jones 

Arno Dahmer «Die Nüchternheit der Nullerjahre», ein Kapitel

1. Januar 2019, 10.00 Uhr

Was mag die Essenz des Felskletterns sein? Wenn ich die gesamte Zeit bilanziere, von 1994 bis heute, könnte die Antwort lauten: das Licht. 

Licht, das mich die Wand emporträgt wie ein Aufwind. An einem sonnigen, nicht zu heißen Tag, an einem abgelegenen Felsen. 

Licht dringt durch Stirn und Schädeldach in mich; erhellt die Nacht, die dort über Jahre geherrscht hat, bis ich nur mehr Licht bin; Licht, Licht, Licht, ein unendliches Strahlen und Gleißen. 

Doch ist das Dunkel nun außen, fast überall, jenseits der Felsen; als wäre es in die Welt emittiert. 

Wenn ich damals, während meines kurzen Studiums, etwa durch einen Korridor an der Uni gehe, in irgendeinem Hörsaal sitze, scheint Mangel an Licht mein Denken zu beeinträchtigen; ich merke, wie ich in dem Dämmer um mich her nur immer wieder „ja, ja, ja …“ sage – man hält mich für einen Idioten. 

Lange Zeit später ist dann – aber nun werde ich gleich pathetisch – das Dunkel mein Schicksal geworden. Mein Augenlicht schwindet. Ich bin fast blind. Trotzdem klettere ich noch immer. 

Wie geht das überhaupt? Und vor allem: Wie kam es dazu? Dass ich zu klettern anfing und weiterhin klettere. Davon handelt dieser Blog. 

Er handelt allerdings in ein Dunkel hinein, wie jenes, das mich mehr und mehr umgibt. Wer werden seine Leser sein? Wird es welche geben? Liest jemand noch längere Texte oder scrollt man nur durch Newsfeeds?

Noch kann ich am Computer arbeiten. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, zwei bis drei Zentimeter hoch. Aber lange werde ich es nicht mehr können, es sei denn, ich erlerne die Blindenschrift. Dagegen sträube ich mich. Ein Behinderter will ich nicht sein. Doch wenn man eine eigens für Behinderte erdachte Schrift benutzt, ist man es dann nicht unleugbar und endgültig? Behinderte sind weder alt noch jung, weder Mann noch Frau. Sie sind einfach nur behindert. Sie gehen nicht auf Herren- oder Damentoiletten, sie gehen auf Behindertentoiletten. Sie parken nicht im Parkverbot, sie parken auf Behindertenparkplätzen. Jedoch: Ich schweife ab. 

Was ich sagen wollte, ist: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für meinen Bericht. Einen Blog könnte man prinzipiell unendlich fortsetzen; das Web ist geduldig. So aber werde ich mich aufs Wesentliche beschränken müssen.

Ich habe vor, die Namen aller Personen, die hier vorkommen werden, zu ändern. Eine Ausnahme bilden berühmte Kletterer. Man würde ja auch nicht schreiben: „Gerald Röder“ oder „Der Kanzler, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte“. Das wäre ebenso albern wie verwirrend. 

Ich selbst werde mich, einer Eingebung folgend, Markus Dengler taufen. Das klingt erdverbunden und mein Lebensweg mag zeigen, dass dies tatsächlich eine Facette meiner Persönlichkeit ist. Der Name im Impressum dieser Seite ist – allen Schlaubergern sei es gesagt – natürlich nicht meiner, sondern der eines entfernten Bekannten, der sich damit einverstanden erklärt hat, dort genannt zu werden. Er liest seine Mails übrigens nicht, geschweige denn Briefe. 

Doch tue ich all dies nicht aus Angst vor Verwicklungen, juristischen oder auch nur privaten. Ich hoffe lediglich, auf diese Weise unbefangener schreiben zu können. Vielleicht kann ich überhaupt nur so schreiben, über mich selbst und im Internet. Entweder weil ich ein zurückhaltender Mensch bin oder, wahrscheinlicher, weil ich zur Zeit der Floppy Disks und Wählscheibentelefone geboren wurde, im Jahr 1977. Solche wie mich nennt man heutzutage „digital immigrants“. Und es stimmt: Das Internet ist uns etwas fremd geblieben.

Aber bin ich nicht andererseits ein Inbild des Zeitgeists? Der Unbekannte mit seinem Drang, sich einer virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren, um sich – ja, was? – seiner selbst zu vergewissern?, sich zu behaupten?, darzustellen?, vielleicht gar zu überhöhen? Der letztlich ungreifbare, geradezu unkörperliche Einzelne. Dieses Sich-Zeigen und Doch-nicht-zeigen-Wollen. Ob jemand sich dabei namentlich zu erkennen gibt, mag nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ob einer durch Masken spricht, das wissen wir im Netz ja ohnehin nie. 

Ihr könnt mich also für lächerlich modern oder peinlich altmodisch halten – das bleibt ganz euch überlassen. 

[Der Text ist geplant als eines der ersten Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Die Nüchternheit der Nullerjahre“. Dieser spielt in der Subkultur der Felskletterer und erzählt die Geschichte einer schwierigen Jugendfreundschaft. Der Roman hat die Form eines fiktiven Blogs.]

 

Arno Dahmer wurde 1973 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt er in Mainz. Er studierte Germanistik, war danach u. a. journalistisch tätig und arbeitet zurzeit als Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er veröffentlichte kurze Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie den Erzählband Manchmal eine Stunde, da bist Du (Mirabilis, Klipphausen/Miltitz, 2017). Arno Dahmer nahm an der von Kurt Drawert geleiteten Darmstädter Textwerkstatt teil und erhielt für seine literarische Arbeit einige Stipendien sowie einen Sonderpreis beim Uslarer Literaturpreis. Bei kul-ja! publishing erschien im März 2023 sein Roman «Ein Mythos von mir». Aktuell arbeitet Arno Dahmer an seinem neuen Roman, der voraussichtlich 2026 bei kul-ja! publishing erscheint.

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Beitragsbild © Andrea Schombara