Agnes Weber «Der längste Gang»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Dienstag, 4. Dezember 1979

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf. Aus der Küche das klatschende Geräusch einer Ohrfeige, sonst kein Laut. Erstarrt sitzen wir da.
„Er hat Rita geschlagen“, bricht es aus mir heraus.
Mein Herz klopft wie verrückt. Wie in Trance stehe ich auf, schiebe den Stuhl von mir weg: „Ich schaue mal nach.“

In der Küche sitzt Rita still und bleich auf einem Hocker, ein hässlicher roter Abdruck auf der einen Wange. Der grosse, kräftige, sicher zehn Jahre ältere Mann erhebt die Hand, gleich wird er wieder zuschlagen.
„Stopp, so geht das nicht.“
Ich nehme Rita an der Hand und ziehe sie aus der Küche. Zu ihm sage ich:
„Geh, sonst rufe ich die Polizei.“
Der Mann lacht höhnisch, sein Gesicht ist blanke Wut, aus jeder Pore seines Körpers atmet Gewalt. Er folgt uns in die Stube wo Mary wie gelähmt am Stuhl klebt. Er versucht, Rita in die Küche zurück zu zerren:
„Du Schlampe, du sagst mir jetzt, wo du gestern Abend warst, oder ich schlage dich nieder.“ „Halt“, sage ich, und greife zum Telefon an der Wand.
Der Mann ist schneller, zieht am Kabel, das Telefon ist tot.

Bebend vor Angst führe ich Mary und Rita rasch aus dem Esszimmer, an ihm vorbei. Er ist einen Moment lang überrascht, dann wird er wieder ausfällig:
„Das geht euch alles gar nichts an, ich bringe euch um, ihr verdammten Weiber!“
Zwischen Stube und Wohnungstüre liegt ein Gang. Es ist der längste Gang, den ich je gesehen habe. Er erstreckt sich von hier aus bis fast in die Unendlichkeit. Der Mann wird sich an uns vorbei vor die Türe stellen, den Schlüssel drehen und abziehen, das grosse Küchenmesser holen und uns einzeln abschlachten, denke ich. Ich weiss nicht wie, aber es gelingt mir, die Wohnungstüre zu öffnen. Schnell raus, alle drei.

Kaum sind wir draussen, sieht der Mann rot, kommt angerannt wie ein wilder Stier. Er packt mich und stösst mich die Holztreppe hinunter, dann Mary, zuletzt Rita. Ein Riesenlärm, Schreie. Aus drei Wohnungen im Erdgeschoss stürmt je ein Paar heraus. Ich sage:
„Rufen Sie bitte die Polizei.“
Eine Frau geht los. Die anderen Frauen stellen sich vor Mary, Rita und mich, schützen uns. Die Männer packen den Mann zu dritt, versuchen ihn zu beruhigen. Es gelingt nicht. Ein wüstes Gerangel. Der Täter scheint Bärenkräfte zu haben. Kaum zu glauben, was jetzt geschieht: Er reisst sich los, nimmt Anlauf, wirft sich wie ein Irrer auf die Haustüre, deren obere Hälfte verglast ist, hechtet durch das splitternde Fenster und landet blutend im eiskalten Wasser des Brunnens vor der Haustüre. Die Polizei kommt gerade rechtzeitig. Zu dritt spedieren sie den tobenden Mann in den Kastenwagen. Dann protokollieren sie den Tathergang.

Mit der Zeit kehrt Ruhe ein im Haus. Rita sagt beim Abschied vor der Haustür unter wiederholten Schluchzern:
„Es tut mir so leid, dass ihr das erleben musstet! Armin ist mein Ex. Er hat noch nicht verstanden, dass es aus ist.“
Wir versuchen sie zu trösten. Dabei nehme ich wahr wie sich Rita schämt: für Armin und dass sie mit ihm zusammen war, vor den Nachbarn und über die Geschichten, die über sie, die Lehrerin, eine Respektsperson, im Dorf zirkulieren werden. Und sie hat Angst, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist.

Es ist spät geworden. Der Appetit ist uns längst vergangen. Mary bringt mich nach Baden, bevor sie zu sich nach Wettingen weiterfährt. Wir beide, zum ersten Mal im Leben mit einer so gewalttätigen und gefährlichen Situation konfrontiert, sind aufgewühlt, können das Geschehene immer noch kaum fassen, Mary sagt zu mir:
„Du warst so mutig, liebe Bianca“.
„Weisst du, ich war ausser mir vor Angst, aber ich konnte nicht anders. Ich mache viel Sport und dachte, das sei hilfreich, aber weit gefehlt, ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Wir haben grosses Glück gehabt. Als wir aus der Wohnung traten, wusste ich, dass wir es geschafft haben.“
„Ja, aber wie er uns mir nichts dir nichts die Treppe hinunter geworfen hat, das war der helle Wahnsinn. Zum Glück ist nichts passiert.“

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. ‚Das Fest’ ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Stefan Wenger-Ledermann «was engt mich ein – was macht mich weit»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

I Erde / Schöpfung
was engt mich ein
was macht mich weit
ein stiller See
einsamer Grat
auch bei Regen
kleiner Frosch
Weinbergschnecke
Moos und Gras
der Duft
von Leben

II Innenraum
es engt mich ein
ein dunkler Traum
ein enger Raum
manch Schuldgefühl
und innerlich Gewühl
mal Kindsgeschrei
und ausgeleerter Brei
dann tiefe Trauer
Herzensmauer

III Der Wald
es macht mich weit
der Wald
mit Erdenduft
mit Schattenbäumen
und Geborgenheit
mit Grün
und Gelb
und Rot
viel Braun
und Raum

IV Der Weg
wenn ich zu lange stille steh
und nicht mehr geh
dann wird mir eng
es engt mich ein
der Krieg von ferne
der Mächtigen Gelärme
und wenn ich nichts mehr lerne

V Reim und Wein
was macht mich weit
ein Blick
ein Klang
ein Bild
ein Kuss
Gesang
ein Wort
ein Reim
ein Satz
ein edler Wein

VI Politik
es engt mich ein
das Kapital
und macht mich weit
der Traum
von einer andren Welt
es engt mich ein
rechtskonservativ
und primitiv
es macht mich weit
das Denken
progressiv
und weit
und warm
und arm
im Blick
ein Mensch als Gegenüber

VII Das Wort
ein stiller Ort
an dem ich schreiben kann
der Holztisch im Speisewagen
ein Platz am Fluss
die Notiz
zwischen Kochkellen
Wäscheklammern
und Kindern

VIII Angst und Stille
es engt mich ein die Angst
vorm leeren Blatt
vorm Fehlen der Ideen
die Angst
nichts Gescheites zu sagen und zu schreiben
vielleicht
die Angst vor der Stille
vielleicht hätte sie uns
mehr zu sagen
als die Worte

was macht mich weit
die Stille

Stefan Wenger-Ledermann *1985. Als Jugendlicher hat er die Lust und Leidenschaft des Tagebuchschreibens entdeckt. Mit den Jahren kamen lyrische Texte, Gebete und Kurzgeschichten hinzu. 2021 gab er sich einen Ruck und damit seiner grossen Leidenschaft Raum: er besuchte den Lehrgang «Literarisches Schreiben» an der SAL in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter, die er an zwei Wochentagen betreut. 2013-2021 Tätigkeit als Gemeindepfarrer (ref.). Ab 2023 tätig als Klinikseelsorger sowie Weiterbildung in Seelsorge.

Corina Heizmann «Schaukelstuhl»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Letzten Sommer wollte ich meinen Schaukelstuhl anmalen, Zitronengelb. Stundenlang bin ich durch den Heimwerkerladen gelaufen auf der Suche nach dem richtigen Farbton. Ein helles, frisches Gelb, einen Hauch vor der Grenze zum Grünstich, hell aber nicht grell. Ein sommerliches Statement Piece für meinen Balkon, auf dem ich kluge Bücher über Kapitalismus lesen und frische Ingwerlimonade trinken würde, deren Rezept ich auf dem Pinterest-Profil einer übermotivierten Agglo-Mutter gefunden hatte.
Es ist nun zum zweiten Mal wieder August und der Schaukelstuhl steht immer noch in der Ecke meines Lagerzimmers. Das dritte Zimmer meiner Wohnung, in das ich alles hineinstelle, von dem ich nicht weiss, wohin damit.
Manchmal leg ich mich dazu und schau, wie die Staubpartikel in den Sonnenstrahlen fliegen.
Er ist hellblau, begraben unter halbdreckigen Kleidern und einer Daunendecke, die ich seit deinem Auszug waschen will.
Ich sehe dich, wie du in ihm sitzt und Martin Suter liest. Der hält sich selbst für so geil, hast du kopfschüttelnd gesagt und weitergelesen. Du sahst unfassbar gut aus im Profil.
Seit du weg bist, habe ich kein einziges Buch mehr gelesen. Geschrieben habe ich auch nicht, nur hie und da ein bisschen Liebeskummer in mein Notizbuch gerotzt. Ich bin einfach liegengeblieben, habe mich eingelagert und warte darauf, bis zu zurückkommst und mich abstaubst.
Unterdessen ist die Klematis auf meinem Balkon vertrocknet, eine Pandemie ist aus- und die US-Demokratie zusammengebrochen. Die Bänder in meinem rechten Fuss sind gerissen, der Italiener um die Ecke mit dem Sprachfehler und der guten Salami-Pizza ging Konkurs und unter mir sind neue Nachbarn eingezogen. Sie kiffen noch mehr als du. Der Rauch zieht durch mein schräg gestelltes Schlafzimmerfenster in die Wohnung und kriecht bis ins Lagerzimmer. Ich atme ein und der Schaukelstuhl beginnt leicht zu wippen.

Die Abende sind mittlerweile so warm und endlos, dass die Kiffer bis elf Uhr draussen sitzen. Gegen zwölf, wenn endlich alles still ist und es nur noch nach feuchter Sommernacht riecht, setze ich mich auf den Balkon, rauche eine deiner Zigaretten und drücke sie auf meinem Oberschenkel aus.
Meine Beine sind Januar-Weiss, obwohl Hochsommer ist.
Ich hab den Moment dieses Jahr erneut verpasst, um ein erstes Mal ins Schwimmbad zu gehen. Diese kurze Zeitspanne, in der die Körper noch alle blass und unsicher sind, sich die Leute erst wieder an ihr entblösstes Fleisch gewöhnen müssen, man noch nicht so auffällt mit den Rasierpickeln in der Bikinizone und den Armen vor dem Bauch. Die Grauzone, die man jedes Jahr überwinden muss, bis man ein bisschen braun ist und sich so oft nackt und eklig gefühlt hat, dass ein gewisser Gewöhnungseffekt stattgefunden hat.
So, dass man das kühle Wasser auf der Haut endlich geniessen kann, wenn auch nur für ein paar Sekunden am Abend kurz vor Badischluss.

Der Frühsommer ist an mir vorbeigezischt wie ein Intercity an einem Provinzbahnhof. Und jetzt liegen sie alle mit Bikiniabdruck auf ihren farbigen Hamamtüchern im Gras, essen Wassermelone mit Fetakäse und radeln nach dem Schwimmen mit ihren pastellfarbenen Rädern zum Apérol-Spritz in die Riminibar. Dort reden sie dann darüber, in welchem Supermarkt es die besten vegetarischen Grillwürste gibt und ob der Mann heutzutage immer noch derjenige sein soll, der den Heiratsantrag macht.
Ich rauche in die Nacht und brenne mir für jeden Gedanken an dich ein kleines Loch ins Fleisch.
Ich würde dir gerne schreiben und dich fragen, ob du deine hässlichen Jesus-Sandalen noch trägst. Du solltest den Verkäufer verklagen, habe ich dir gesagt, als du mir das ergonomische Fussbett präsentiert hast und es hat mir direkt ein bisschen Leid getan, als ich deinen Blick gesehen habe. Sowas trägt man halt beim Wandern, hast du geantwortet und ich hab mich sofort in dich verliebt. Dein totales Desinteresse an deinem Aussehen und die damit verbundene Selbstsicherheit machte dich so abscheulich attraktiv, ich könnte immer noch im Strahl kotzen und hoffe, dass wenigstens ein paar der Mädels nicht über die Jesussandalen hinwegschauen können und du gerade alleine im Bett liegst und nach Pornos suchst mit Frauen die mir ähneln. Ich hoffe generell, dass du mindestens so einsam bist wie ich, obwohl ich mir das am Ausmass dieses bodenlosen Lochs in mir schwer vorstellen kann. Ich weiss nicht wieso, aber es kommt mir vor, als ob immer ich diejenige bin, die mehr leidet. In mir zerbricht bei jeder Trennung noch etwas Übergeordnetes, ein Krug, mit dem du gar nicht in Berührung gekommen bist aber der sich durch deine Anwesenheit Scherbe für Scherbe wieder zusammengeleimt hat. Und umso krachender wieder in sich zusammengefallen ist, nachdem du plötzlich weg warst.

Einmal, da stand ich schon an der Kasse im Heimwerkerladen, als dein Name aufblinkte. Rapsgelb, Dottergelb und Verkehrsgelb lagen im Einkaufskorb, Zitronengelb war aus. Nur eine übergewichtige Kurzhaarmutter und ihre zwei Orchideen trennten mich vom Zahlungsvorgang. Wie auf Kommando liess ich alles stehen, lief aus dem Laden und hielt dich an meine Wange.
Dann ging ich nach Hause, legte mich ins Bett und stand zwei Tage nicht mehr auf.
Unterdessen sitze ich wieder, auf dem Balkon, und google nach Gelbtönen. Ich hab eine Pintrest-Pinnwand mit zitronengelben Stühlen und eine weitere für passende Kissen erstellt. Um das Limmonadenrezept zu perfektionieren habe ich mir stundenlang Youtube-Videos mit schönen Frauen mit Beeachwaves angeschaut, die in flatternden Sommerkleidern in weissen Küchen Zitronen in Scheiben schneiden. Ich stelle mir vor, wie du im Schaukelstuhl neben der blühenden Klematis sitzt und dir eine dieser Youtube-Frauen Limonade bringt. Ich drücke die Zigarette aus.
Du lächelst sie an und siehst unfassbar gut aus im Profil.

Corina Heinzmann, 1990 in Zürich geboren, arbeitet als Journalistin und schreibt beruflich fürs Hören. Während der Arbeit steht sie am Mikrofon, privat läuft sie hunderte Kilometer mit dem Rucksack durch Europa. Sie verlässt das Haus nie ohne Notizbuch und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Corina Heinzmann lebt in Zürich, liebt Hunde und hasst Deadlines. Sie ist fasziniert von menschlichen Abgründen und liest bei einem neuen Buch zuerst den letzten Satz.

Pascal Witschi «wie das ewige Meer»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

«Nach mir wird ein Nächster kommen, der dich lieben wird wie seinen Sohn, und er wird von Neuem Licht entzünden, von Neuem Gottes Wort verkünden», schmatzte der Vater mit Pomadelippen vorne auf dem Podium des Saales. Das Echo klatschte durch das Kirchenschiff, verklebte beide Ohren Adams, der den Vater von unten in den Schatten stellte. Ihm in den verloschenen Greisenaugen leuchtete, den Geruch verbrannter Erde in der Nase und erleuchtet durch vier kolossale Kirchenfenster, vier farbgewaltige Bleiglasheilige, deren komplexes Spiel von Farben auf dem fremdländischen Teint kurzerhand verloren ging.

«Ich brauch kein austauschbares Wort von einem austauschbaren Gott aus dem Munde eines austauschbaren Vaters! Ich brauch allein mich selber!», bellte er, im Rücken das Foyer, zu dem die Tür noch offen stand. Es zog. Hinter dem Vater wurden deshalb just in diesem Augenblick mehrere dutzend Kerzen ausgeblasen. Er versuchte noch, seinen Sohn zurückzuhalten, doch. Es zog. Den Jungen schon nach draussen.

Adam schlug sich vorwärts, abwärts durch die Stadt, aus deren Stadtverwaltung das Volk von rechten Männern auf den Pflasterstein erbrochen wurde. Bürokratenblässe in der Trauermiene, die Jacke auf den gesenkten Schultern ordentlich zurechtgeklopft und die Kragen stramm wie jedermann, von Adam abgesehen, das schwarze Schaf im weissen Strom des Kollektivs. Ein wild bemähntes Tier, das durch die zurechtgestutzte Herde wütete, den Kopf noch über Wasser und richtiggehend leidend, weil ihm alles viel zu grell war. Ihm war, als würde ihn die Stadt verbrennen, ihm jede Pore einzeln, jedes Pigment gewaltsam aus dem Körper brechen.

Er rettete sich ins Wäldchen unterhalb der Sandsteinklippen, ziellos über das breite Flussstück unterhalb des Eschenkronenbaldachins, mit zerknirschtem Blick in Richtung Schaum und Strömungen, in denen ihn sein Vater als Kind gefunden hatte. Er lief und fluchte, flüchtete, ohne dass seine Abscheu sich verflüchtigte. Bis er am Fuss der Felswand angelangte, beim Steinbruch, bei dem Quader aus dem gewellten Stein geschnitten worden waren, wie die ungeheuerliche Mutterwunde in der Erde windstill ihn erinnerte.

Auf einmal ging ein Schnarchen durch die Lichtung vor dem Bruch. Unweit seines Standorts entdeckte Adam zusammengekauert ein Mädchen liegen, sicher drei, vier Jahre jünger und nur halb so gross wie er. Ein Struwwelkopf, wie er im Buche stand. Ein schlammverschmierter mit blauen Flecken und roten Striemen an Armen wie auch Beinen. Eine Kragenechse irgendwo, wenn Adam nach dem Poncho ging, dem einen Kleidungsstück, das das Mädchen trug und im Schlaf besabberte. Und das ganz fürchterlich nach Rauch und Feuer stank.

Er war sofort verliebt.

Da wirbelte ihm das Mädchen mir nichts, dir nichts ungestüm entgegen, geröhrter Kampfschrei inklusive, was ihn verzaubert grinsen machte, während sich das Mädchen aus zügellosen Augen im belebten Abgrund seiner fand. Er wich aus, wurde dennoch umgestossen und sah ihm hinterher, weil er sich an Kohlenkriegsbemalung und Astgeweih ergötzte. Zog sich auf der Stelle seine Lederschuhe aus, um die Verfolgung aufzunehmen, wobei er festzustellen hatte, dass er im feuchten Moos gelandet war. Seine Kleidung war schon halb durchnässt. Also begann er noch im Lauf, sich bis auf seine Unterwäsche auszuziehen, was dazu führte, dass er gegen Bäume knallte und durch Nesseln strauchelte. Doch er lachte. Bei jedem Schlag und jedem Beissen lachte er mit weit gebleckten Zähnen.

«Du bist, Brontë!», japste er gezeichnet, als er das Mädchen im Modder dann erwischte. Brontë war, wie er es nannte, und Brontë schaute auf allen Vieren zu ihm um. Fühlte sich herausgefordert und erwiderte sein Spiel. Sie jagten einander durch das Unterholz, kannten keine Hemmung oder Scham, auch nicht, als sie voreinander auf die Wege schifften. Im Gegenteil sogar: Sie gaben alles, um den Strahl des jeweils anderen noch zu toppen. Stoppten ihre Tollerei erst mit Brontë hoch auf Adam’s Brust und ihren Fingern eng um seinen Hals geschnürt. Ausser Atem und mit einem Herzen, das aus seiner Rippenfeste explodieren wollte.

Brontë streckte ihre Zunge aus, auf der sich ein Sammelsurium von Spiegelungen in den Sabberblasen fand. Ein Kaleidoskop von Möglichkeiten, das sie ihm in seinen Rachen spuckte. Er verschlang das Spektrum ganz und streckte ebenfalls die Zunge aus, was ihr bestätigte, wie unfassbar ausgehungert er seit jeher war.

Sie packte seinen Kopf und drehte ihn in einem Ruck beiseite, um ihr Ohr auf seines aufzulegen und zu lauschen. Staunte. Sie konnte klar und deutlich ein Rauschen in der Muschel hören. Es war das erste Mal, dass es sie ans Meer verschlug. Dass sich unter ihren Füssen eine Gischt bemerkbar machte. Ein kaltes Sprudeln in den Zehenzwischenräumen, das sie zum Tanzen animierte.

Pascal Witschi ist ein Schweizer Autor. Der Berner mit Jahrgang 1989 schreibt seit seiner Jugend Prosa wie auch Lyrik und studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich Literarisches Schreiben, ehe er sich der Natur- und Wildnispädagogik zuwandte. Er veröffentlichte zwei illustrierte Gedichtzyklen, namentlich «Gode Graubund» (2019) sowie «Das Märchen von Anao und Aloe» (2020), und arbeitet gegenwärtig an seinem Erstlingsroman.

Dieter Boller «Akzentfrei»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden. Auch diese Zone kam nicht in Frage. Die Ruhestätten würden nächstens aufgehoben. Geräumt, wie es Emmelius’ Kollege ausdrückte. Nach zwanzig Jahren bereits, ganz im Gegensatz zu den Friedhöfen in Calvos Heimat.

***

«In Huelva haben wir Lehmböden. Da räumen sie frühestens nach dreissig, vierzig Jahren», erklärte Calvo. «Hier in Sarnen ist das Gewebe nach zwölf Jahren zersetzt.»
Calvo und Emmelius waren noch nie zusammen mittagessen. Obwohl sie fast täglich miteinander zu tun hatten. Als Emmelius ihn an jenem Freitag anrief und fragte, ob er spontan Lust hätte, mit ihm im Garten der Pfarrei gemeinsam die Pause zu verbringen, war dieser überrascht und erfreut zugleich. Dass Emmelius sich dann im Gespräch sehr interessiert an seiner Arbeit zeigte, geschmeichelt.
«Wie ist das eigentlich, Calvo», fragte Emmelius, als handelte es sich um einen Schnuppertag und ein neugieriger Lehrstellensuchender wollte innert kürzester Zeit alles über diesen Beruf erfahren, «wenn du die Gräber nach zwanzig Jahren erneuerst, findest du da noch alte Knochen?»
«Kommt selten vor. Find’ ich welche, bestatte ich sie unterhalb der neuen Gräben», sagte Calvo und biss ein grosses Stück seines Schinkensandwiches ab.
«Schon verrückt, dein Beruf, wenn man so darüber nachdenkt», meinte Emmelius. «Legst du beim Ausheben der Gräber manchmal auch noch selbst Hand an oder erledigt das unterdessen alles der Bagger?»
«Moderne Technik ist gut. Aber wer das Handwerk nicht mehr beherrscht, ist kein echter Sepulturero», entgegnete Calvo. «Schaufel, Spaten, Schubkarre. Mehr brauchst du nicht.»
«Wie lange dauert so was, ein Grab von Hand auszuheben?»
«Etwa zwei Stunden», antwortete Calvo, «du willst es aber genau wissen.»
«Ich bin ein neugieriger Mensch, Calvo», sagte Emmelius mit einem Schulterzucken und erinnerte sich in diesem Moment an eine seiner ersten Predigten, in der er davon gesprochen hatte, dass Neugierde zuweilen ins Verderben führte.

***

Das Quietschten der über den Ostsektor rollenden Karette schreckte die Amseln auf. Vor dem zweitletzten Grab blieb Emmelius stehen. Andre Wüthrich war vor etwas mehr als einem Jahr gestorben. Seine Frau schon länger. Kinder hatten sie keine. Die winterharte Knospenheide, die Calvo auf den Reihengräbern angepflanzt hatte, war unberührt. Keine Kerzen, Blumen oder Fotos flankierten sie. Emmelius erinnerte sich gut an die Abdankung. Eine Nichte war die einzige Verwandte, die an der Trauerfeier teilgenommen hatte.
Emmelius sah sich um. Blickte gen Himmel. Und setzte den Spaten an.

***

«Hey, Matthäus614, schöne Augen hast du.»
«Guten Abend, Goddess77, danke. Dein Kompliment vermag ich zu erwidern.»
«Oh, ein höflicher Mann. Selten da.»
«Ich gebe mir Mühe. Jeder Mensch verdient es, fein behandelt zu werden.»
«Aha, du sprichst mit allen Frauen hier so.»
«Du bist die erste Frau hier, der ich schreibe.»
«Ja, genau.»
«Du glaubst mir nicht.»
«Hör mal, Matthäus614, du musst mir nichts vormachen. Sei einfach du selbst.»
Würde Gott ihm diese Sünde vergeben, fragte sich Emmelius. Unrein würde sie ihn machen. Sicher. Aber welche Verfehlungen täten das nicht? Hatte er nicht auch schon anderes getan, das ihn zur Beichte gezwungen hatte? Als er zu müde zum Gebet gewesen war. Als sein Vater sich nicht auf ihn hatte verlassen können. Als er über einen Freund geurteilt hatte, nur um von seinen eigenen Schwächen abzulenken.

***

Was hätte er denn sonst tun sollen? Einen Notarzt herbeirufen, der den Tod festgestellt und bei nächster Gelegenheit im Dorf herumerzählt hätte, dass Emmelius seiner Standespflicht nicht nachgekommen sei? Dadurch wäre Aronja auch nicht wieder lebendig geworden. Vielleicht wäre sogar die Polizei vorgefahren und hätte ihm unangenehme Fragen gestellt.
Der Herrgott hatte Aronja in dieser Nacht zu sich genommen. Dass sich dieses Schicksal nicht in ihrem eigenen Bett ereignet hatte, dafür konnte er nichts. Und nun sollte ihm dafür die Suspension drohen? Und sowieso: Wer, wenn nicht er, wäre prädestiniert gewesen, diese wunderbare Frau auf ihrem letzten Weg zu begleiten?
Gleichwohl hörte er diese Stimme. Hast du denn alles vergessen, was du so viele Jahre selbst verkündet hast?

***

«Ich habe so etwas schon lange nicht mehr gemacht», stellte Emmelius klar, nachdem er Aronja hereingebeten hatte. Die einzige Frau, die er jemals allein bei sich zu Hause empfangen hatte und kein Mitglied der Gemeinde war, hiess Nadine. Das war vor vierundzwanzig Jahren. Bevor er bei der Weihe sein Versprechen abgegeben hatte.
«Ich habe mich auf dich gefreut, Emmelius», sagte Aronja.

***

Rund sechzehn Stunden brauchte Emmelius für das Schreiben einer Predigt. Ziemlich genau so viel Zeit blieb ihm an diesem Tag, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie er dieses Geschehnis nach Einbruch der Dunkelheit würde aus dem Diesseits schaffen können. Und dieser Plan glich der Struktur seiner bei der Gemeinde so beliebten Reden: Auch er war stringent, durchdacht und gut recherchiert. Ob er auch so fehlerfrei wie Emmelius’ vorgetragene Texte war, sollte sich weisen.
Emmelius hatte verschiedene Optionen in Betracht gezogen. Die Leiche in einem Gewässer zu versenken, war die erste. Würde sich der Sarnersee für dieses Unterfangen eignen? Gäbe es ein Ufer, an dem er unbeobachtet wäre? Und wie würde er an ein Boot kommen, das er dann schnell mal in die Mitte des Sees manövrieren könnte, um die Tat auszuführen? Auch dünkte ihn die Methode etwas unchristlich. Er beschloss, zu Plan B überzugehen.
Emmelius staunte ob seiner klaren Gedanken. Waren das die eines Dieners oder die eines Frevlers?
Aronja im Wald zu vergraben. Diese Idee verfolgte er etwas länger. Rorwald, Chlisterli, Schattenberg. Er fasste mehrere Gebiete ins Auge. Prüfte auf der Karte deren Zufahrten, um mit seinem Renault möglichst weit in die Tiefe des Gehölzes vordringen zu können und den schweren Sack nicht zu lange über Äste und Tannzapfen schleifen zu müssen.
So berauscht er die vergangene Nacht verbracht hatte, so nüchtern war er nun im Begriff, deren Spuren aus der Welt zu schaffen. Vierundzwanzig Jahre lang hatte er sein Leben in den Dienst Gottes gestellt. Heute war der Tag gekommen, an dem er Gottes uneingeschränkte Liebe einfordern würde.
«Die Spürhunde!», schoss es Emmelius durch den Kopf. Er könnte noch so tief graben. Die würden Aronja früher oder später ausfindig machen. Die Polizei fände unter ihren Fingernägeln seine Hautschuppen. An ihrem Hals seinen Speichel. Auf ihrem Bauch seinen Schweiss.
Als Emmelius genauer über die Hunde nachdachte, hatte er eine Eingebung: Der Friedhof – hier würden die bellenden Polizisten wohl kaum hingeführt. Und wenn doch, würden sie inmitten des olfaktorischen Durcheinanders Hunderter Verstorbener aufheulen und keine verlässlichen Hinweise mehr liefern können.
Emmelius wählte Calvos Nummer.

***

Die fünf Stundenschläge der Pfarrkirche gingen Emmelius durch Mark und Bein. Nächstens würde ihm der Morgen grauen. Und er war noch immer nicht bei Herrn Wüthrich angelangt. Von wegen zwei Stunden. Emmelius war sauer auf Calvo. Und erhöhte die Auswurfkadenz.
Dann kam es, das Geräusch, dem Emmelius so viele Stunden entgegengeschaufelt hatte: Metall auf Pappelholz – so dumpf, wie es nur frühmorgens in zwei Metern Tiefe tönen konnte. Emmelius liess Aronja unter Zuhilfenahme von zwei Stricken langsam ins Loch, sprach eine kurze Grabesrede, in der er ihr Leben, Lieben und Wirken im Laufe ihres letzten Abends würdigte, segnete die Stätte mit Weihwasser und bekreuzigte sich.
Er schüttete die auf der ausgerollten Plane liegende Erde zurück ins Loch. Die Glocken läuteten halb sechs. Emmelius schwang die Schaufel noch etwas zügiger. In der Eile touchierte er den Grabstein. Angstschweiss schoss an den undenklichsten Stellen aus den Poren. Ein Kontrollblick. Aufatmen. Der Marmor schien unversehrt. Emmelius schloss den Graben, setzte die winterharte Knospenheide sorgfältig wieder ein und brachte Karette und Werkzeuge zurück zum Gärtnerhaus.

***

«Mein Onkel», sagte die junge Frau.
«Mein Beileid», sagte Calvo, der gerade dabei war, die Knospenheide auf den Reihengräbern durch Vergissmeinnicht zu ersetzen.
«Er schrieb sich nicht so.»
«Was meinen Sie?», fragte Calvo. «Wie schrieb er sich dann?»
«Ohne Aigu.»
«Ohne Aigu.»
«Sie wissen schon, der Strich auf dem E.»
«Ich verstehe, der Strich auf dem E.»
«Ich glaube nicht, dass Onkel Andre das gefallen würde.»
«Es würde wohl niemandem gefallen, einen Fehler im Namen auf dem eigenen Grabstein stehen zu haben.»
«Einem Lehrer wohl am wenigsten.»
«Lehrer war er also.»
«Können Sie mir sagen, wer diesen Stein hergestellt hat? Ich möchte das gerne korrigieren lassen.»
«Sicher. Die meisten unserer Grabmale werden von …»
«Guten Tag, Frau Wüthrich», unterbrach ihn Emmelius, der die zwei durch die Kirchenfenster beobachtet hatte und zu ihnen gestossen war. «Schön, Sie wiederzusehen.»
«Herr Emmelius, gut, dass ich Sie treffe. Sehen Sie sich das an. Dieser Steinmetz hat ganze Arbeit geleistet.»
Emmelius sah zum Grabmal. Und wieder zurück zu Frau Wüthrich. «Ich verstehe nicht ganz.»
«Das Aigu.», sagte sie.
«Wie bitte?», fragte Emmelius.
«Du weisst schon, der Strich auf dem E», erklärte Kollege Calvo.
«Was ist damit?»
«Das gehört da nicht hin, Herr Emmelius.»
Emmelius verstand.

***

Im Vorgarten standen Dutzende unbearbeiteter Steinblöcke aus Marmor, Granit und Kalkstein. Bereit für neue Tote. Drinnen befanden sich Statuen, Büsten und typografische Arbeiten. Der Raum glich mehr einem Künstleratelier, denn einem Ort, an dem Hinterbliebene respektvoll bei der Auswahl eines passenden Grabsteins begleitetet würden. Aus dem Radio erklangen Jimmie Lighthouse & The Nashville Brothers.
«Calvo! Herr Emmelius! Und Sie sind Frau …?»
«Wüthrich.»
«Rüegg. Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Ich möchte einen Schreibfehler auf einem Grabstein melden.»
«Auf einem Grabmal, das ich entworfen habe?», fragte der Bildhauer.
«Herr Emmelius meinte, Sie seien verantwortlich für den Grabstein meines Onkels, Andre Wüthrich?»
«Andre Wüthrich, ich erinnere mich.»
«Mein Onkel schrieb sich ohne Aigu.»
«Ohne Aigu also.»
«Ein Strich auf dem E, du weisst schon», erklärte Calvo.
«Ich weiss schon, Calvo, danke», sagte Rüegg. «Bei allem Respekt, Frau Wüthrich, es ist unwahrscheinlich, dass ich da spontan und nach eigenem Gutdünken einen Akzent gesetzt habe.»
«Unwahrscheinlich? Ich habe ihn ja mit eigenen Augen gesehen», entgegnete Frau Wüthrich.
«Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Schauen Sie, in der Regel läuft es folgendermassen ab: Ich bekomme einen Auftrag. Einen Namen und zwei Jahreszahlen. Die sind fix. In Stein gemeisselt, wenn Sie mir dieses Wortspiel erlauben. Da habe ich keinen Interpretionsspielraum. Da bin ich nicht Künstler, da bin ich Handwerker.»
«Verstehe», sagte Frau Wüthrich.
«Meinen Umsetzungsvorschlag sende ich anschliessend an die Gemeinde. Das Bestattungsamt prüft meinen Vorschlag. Die Gestaltung, die Zahlen, den Text. Nicht zuletzt deshalb, um zu verhindern, dass mehrere Hinterbliebene unabhängig voneinander einen Grabstein bestellen.»
«Das ergibt Sinn.»
«Bevor ich den Meissel ansetze, bekommt der Auftraggeber die finale Skizze immer auch noch einmal zu Gesicht. Würde da irgendwo ein falscher Accent Aigu reinrutschen, jemand würde das bemerken.»
«Vielleicht passierte der Fehler ja erst später, beim Einmeisseln», brachte Emmelius vor.
«Ich mache keine Fehler», sagte Rüegg.
«Wir alle fehlen mannigfaltig», wandte Emmelius ein.
Frau Wüthrich senkte ihren Blick. Nach einem Moment des allgemeinen Schweigens deutete sie an, die Sache und damit auch ihren Onkel lieber ruhen lassen zu wollen.
Calvo schlug vor, gemeinsam zum Grab zu gehen.

***

Schlicht war er. Klassisch. Entlang des Stichbogens war eine Lilie in den Marmor gemeisselt. Darunter stand der Name des Verstorbenen. In Grossbuchstaben. Mit Accent Aigu.
Professionell pietätvoll legte Rüegg ein Brett auf die Erde, trat nah zum Stein heran und kniete nieder. Er begutachtete den kurzen Strich von links unten nach rechts oben über dem grossen E. Glitt mit seinen hornhäutigen Fingerkuppen über die Furche. Bevor er sich wieder erhob, drehte er sich zu Emmelius, Calvo und Frau Wüthrich, schüttelte den Kopf und sagte: «Der ist nicht von mir.»
«Was meinen Sie damit, der ist nicht von Ihnen?», fragte Emmelius.
«Das ist kein Strich, den ich so setzen würde. Zwar entspricht der Steigungswinkel tatsächlich in etwa demjenigen des Akuts der Antiqua, die ich hier verwendet habe. Und auch die Länge kommt hin. Allerdings verläuft die Breite des Strichs von unten nach oben konstant. Das Zeichen müsste schrifttypischerweise gegen oben hin kräftiger werden.»
«Bitte, Herr Rüegg», entgegnete Emmelius, «ersparen Sie Frau Wüthrich die Fachsimpelei. Wir sind doch alle bei gutem Verstand und erkennen den Akzent in aller Deutlichkeit.»
«Die Regeln der Typographie lassen es ganz einfach nicht zu, einen solchen Strich zu setzen», erklärte Rüegg. «Da Sie mir offensichtlich nicht glauben, komme ich nicht umhin, Ihnen die Situation aus fachlicher Perspektive zu beleuchten.»
«Bitte», sagte Frau Wüthrich.
«Wie Sie sehen, ist die Inschrift keilförmig eingearbeitet. Bei dieser Technik, die ihre Ursprünge übrigens in der Keilschrift der Sumerer hat, wird mit dem Meissel von beiden Balkenseiten schräg in die Tiefe des Steins gearbeitet, bis sich die beiden Schrägen in der Mitte treffen. Sie können sich das wie ein V vorstellen. Dieser klassische Stil ist bei dem vermeintlichen Accent Aigu nicht vorhanden.»
«Das beweist gar nichts.» Emmelius’ Geduld schwand.
«Das beweist, dass hier kein Bildhauer am Werk war. Es könnte sich jemand einen Spass erlaubt haben und mit einem Werkzeug den Strich eingekratzt haben. Das geht bei einem Weichgestein wie Marmor relativ leicht.»
«Wer sollte so etwas tun?», fragte Frau Wüthrich.
«Ich weiss es nicht», fuhr Rüegg fort, «vielleicht ist auch einfach jemand aus Versehen mit einem harten Gegenstand etwas nah an den Stein geraten. Ein Trauernder. Oder ein Gärtner.»
Calvo erschrak. Hatte ihn der gute Rüegg da eben völlig aus dem Nichts zu einem möglichen Schuldigen in dieser Sache gemacht? «Ein Gärtner soll also eher einen Fehler machen als ein Bildhauer?», wehrte er sich.
Calvo sah zu Emmelius. Emmelius zu Frau Wüthrich. Und Frau Wüthrich nur mehr auf das Aigu, das also keines war.
Das Aufheben um sein Geheimnis wurde Emmelius langsam zu gross. Er drängte auf eine Lösung. «Hören Sie, Herr Rüegg, regeln wir die Angelegenheit doch einfach pragmatisch. Wie wäre es, wenn Sie den Fehler einfach behöben?»
Rüegg erklärte, dass man hierfür das Grabmal entfernen und zurück in die Werkstatt transportieren, die gesamte Vorderseite abfräsen, neu schleifen und mit dem Einmeisseln sämtlicher Ziffern, Buchstaben sowie der Lilie von vorne beginnen müsste. Er habe weiss Gott Besseres zu tun als zwei Tage Fronarbeit zu leisten für einen Fehler, den er nicht verantworte.
«Lassen Sie es uns so machen, Herr Rüegg», leitete Emmelius sein Machtwort ein, «Sie bringen das jetzt in Ordnung und die Pfarrei St. Peter und Paul empfiehlt Sie auch in Zukunft gerne wieder weiter.»

***

Der braune Pritschenwagen rollte leise über das Kies und hielt am Fusse des Ostsektors. Rüegg entstieg dem Fahrzeug, zog die Handschuhe an und schwang sich auf die Ladefläche. Er schob die Stechkarre unter den ehemals vierhundert, jetzt nur mehr dreihundertssechzig Kilogramm schweren Gesteinsblock und schob ihn auf die Hubladebühne.
Calvo und Emmelius winkten ihm vom Gärtnerhaus aus zu und eilten herbei. Ersterer, um beim Aufstellen des Grabsteins zu helfen. Letzterer, um nach dem Rechten zu sehen. Rüegg erwiderte den Gruss mit einer minimalen Kopfbewegung.
Der Bildhauer schob die schwere Last über die Anhöhe des Ostsektors und setzte sie hinter Andre Wüthrichs Grab ab.
Gemeinsam mit Calvo hievte Rüegg den Koloss auf den Sockel. Emmelius musste mitansehen, wie der Stein zwar passgenau in der Verankerung einrastete, sich darauf jedoch unversehens nach vorne neigte. Immer weiter. Bis er vollends kippte und Calvos liebevoll gepflanzte Vergissmeinnicht dumpf plattmachte.
Calvo legte seine Hände über den Kopf. Emmelius stand statuenhaft dahinter.
«Was zum Teufel …», stiess es aus Rüegg hervor. «Sakrament! Wie ist das möglich?»
«Was ist da passiert?», fragte Calvo.
«Frag mich ’was Einfacheres!», antwortete Rüegg. «Ich habe das Betonfundament vor zwei Monaten erstellt. Wie immer exakt ein Jahr nach der Bestattung. Alles war bestens. Die Erde hatte sich gesetzt, der Boden war ausreichend verdichtet. Jetzt ist er locker wie direkt nach einer verdammten Beerdigung!»
Emmelius schloss die Augen.
Rüegg trat einen Schritt zurück und sagte: «Ruf die Polizei, Sepulturero.»

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.