Eins ist Schwarm und Schwarm ist eins
Unter den Flossen raue Rampen so steigen
Beigezeiten abertausend Glasaalkinder über ihre Sohlengleiten
Wir haben Oberwasser
Räderschlagend mahlt und wendet
ein Mühlenstein
das Dreistromland
Im Mäanderbecken schwankt der Spiegel
Doppelhelix formt den Turmfischpass
Stromaufwärts Archimedes Kronenhaupt
Kann die Wanderlinge singen hören
Ich halte eine Muschel an mein Ohr
Effervo. Aqua. Laborare.
Mit Laufwasser leise tröpfelnd
Hingetreten Auf was sich an den Stufen staut
Fällt was gesammelt in den Schacht
II. Windfrequenzen
Schlag auf Schlag trifft Uns ein Schatten Schneisen in den Vogelflug
Ein Windmühlband am Hügelrand
Der Kampf beginnt
Grün klagt grün Und nichts wird grüner Strukturelle Festigkeit
Das letzte Opfer ist die Landschaft
Wucht und Unwucht hängt sich an die Rotorblätter Altersmüder Großwindräder Viertel des Jahrhunderts später
Wenn ein Schild bestimmt Neglegere. Vento intermisso.
Unhörbar kommt ein Schall gekrochen
Wir halten fest
An Nichts das bleibt
Alles steht hier nur zur Pacht
III. Lichtvolten
Eins in einer Milliarde
Härchen auf deinem feinen Nacken
Glühwurmenden in der Abendstunde wenn du auf den Schindeln kniest
Der Winkel stimmt
Faltergleich hebt und senkt ein Sonnenwind die neuen Flügel
Der Tag verebbt in kurzen Wellen
Metall zieht sich durch Metall
Du stehst frei Hand auf meinem Giebel
und drehst dem Wetterhahn
eine Zauberformel in sein Ohr
Iridie, Platina, lucescit!
Die Zukunft ist aus Sand gebaut
mit Sonnenhonig prall die blauen Waben
Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Studium der Sinologie und Informatik, arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2012 erschien mit grossem Erfolg ihr Debütroman «Chucks», der 2015 verfilmt wurde. Nach dem Roman «Junge Hunde» (2015) und dem Gedichtband «Parablüh» erschien 2019 ihr erstes Kinderbuch «Zwei dabei» (illustriert von Birgitta Heiskel).
Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.
Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.
Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.
Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.
Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.
Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.
Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.
Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.
aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors
Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.
Erklären konnte ich es mir nicht. Ich nahm es hin, wie das Geräusch unseres Atems, wie das Sirren der Mücken, das Hämmern eines Spechts, das Knirschen unserer Schritte auf dem Weg. Wie die fliegenden Spinnfäden, die Tautropfen auf den Farnen, das honigfarbene Harz der Tannen (das ich nie unterließ zu berühren).
Dieses Licht, das zwischen den Bäumen aufleuchtete, wenn wir lange in den Bergen blieben, tröstlich, ahnungsvoll, wie das Lodern eines Leuchtturms in der Dämmerung. Ein Fixpunkt am Horizont, der die Dunkelheit der Wälder erhöhte.
Auf einer unserer Erkundungen fragte ich meinen Vater, was das für ein Licht war, und warum es immer leuchtete, wenn wir in den Bergen waren.
Vater blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich der dunklen Flanke der Berge zu, die jetzt so abweisend dalagen, kein Umriss einer Tanne war zu sehen, kein Weg. Auf unserer Seite zögerndes, violettes Abendlicht. Er sagte, es sei ganz einfach: Hinter diesen Wäldern sei ein Fluss, an diesem Fluss stünde ein Haus, in diesem Haus säßen zwei Freunde. Sie waren es, sie zündeten ein Licht an, weil sie die Schritte zusammenzählten, die wir am Tag gegangen waren.
Es leuchtete mir augenblicklich ein.
Ein Fluss. Ein Haus. Zwei Freunde, die unsere Schritte zählten.
Ich glaubte lange an diese Geschichte. Irgendwann war sie fort. Wie die mit Kartoffelstärke behandelte Bettwäsche, die mein Bruder und ich übermütig rieben, um sie wieder weich zu machen. Meine Aufpasserdienste, wenn mein Bruder sich mit einem Mädchen traf, und ich ihn danach heimlich ins Haus ließ, sobald ein Steinchen gegen die Fensterscheibe flog. Die aufgeschichteten Matratzen im Zimmer der Großmutter, die aus einer Zeit stammten, da jederzeit Gäste zu erwarten waren, und die in meiner Erinnerung bis zur Decke reichten; nur eine Handbreit bis zum Plafond. Großmutter, die erkannte, aus welchem Brunnen im Dorf wir Wasser geholt hatten, das beste Paprikasch zubereitete, und, wenn sie die Entmutigung ankam, die oberste Matratze nahm, sie auf die Terrasse schleifte und unter freiem Himmel schlief.
Sie warnte uns Brüder, keine Grimassen zu schneiden, das Gesicht bliebe sonst so, und sie sagte auch, wir sollten nicht so viel trinken vor einer Mahlzeit, sonst bekämen wir Frösche im Bauch. Und an diese Frösche glaubte ich ebenso wie an die beiden Freunde.
Schönheit kann sich nicht so gut verbergen wie die Wahrheit, sagte Vater.
Er sagte es, wenn wir durch die Berge streiften, und er sagte es auch, wenn er vor Mutters Bild innehielt, das auf der Kommode neben der Eingangstür stand. Ein helles Gesicht, wellige, glänzende Haare, ein gerader, schmaler Mund. Ich fragte mich, ob er mit ihr auch so wenig gesprochen hatte. Er sehnte sich am Ende jedes Arbeitstags nach der Stille der Berge. Er konnte dem unendlichen Monolog eines Vogels zuhören, und vergessen, dass jemand bei ihm war. Beneidete jeden Fels, jede Pflanze um ihr Schweigen.
Ich bin immer durch die Türen gegangen, die offen standen. Ob es die richtigen waren, weiß ich nicht. Eine Tür führte mich in den Westen. Durch eine Tür kam Julie, und durch eine andere ging sie fort. Manche Türen blieben verschlossen, zu manchen Träumen fand ich den Eingang nicht.
Manche Leute sagten, ich sei klug. Andere, ich sei egoistisch. Wiederum andere hielten mich für zugänglich. Das waren allerdings Freunde. Harro lernte ich auf einer Tagung kennen. Er setzte sich neben mich, sah aus, als bräuchte er ein frisches Hemd und gute vierundzwanzig Stunden Schlaf. Wie sich herausstellte, sah er immer so aus, als hätte er nicht geschlafen, wirres Haar, blasse Haut, Ringe unter den Augen, wasserglasgroß. Dazu die eindringlichste Stimme, tief, kratzig, melodiös, und die Gabe, das, was gesagt wurde, und das, was gesagt werden würde, zusammenzufassen oder vorwegzunehmen, je nachdem.
Die Wahrheit zieht es vor, sich zu verbergen. Vielleicht tut sie uns damit einen Gefallen, vielleicht hält sie uns damit bei Laune. Sie verbirgt sich in Geschichten (auch jene, die man sich selbst gern erzählt), Glaubenssätzen, Anschuldigungen – die man nicht zurücknehmen kann, wie sehr man es auch möchte.
Man meint, man sei ihr als Erwachsener näher denn als Kind. Hexen ziehen aus dem Wald aus, Gespenster aus dem Schrank, Frösche mögen keine Mägen. Karla war lange Zeit mit Anlauf ins Bett gesprungen, aus der fixen Idee heraus, es könne sich jemand darunter versteckten und nach ihren Fesseln greifen. Jona behauptete, er könne sich durchs Schlüsselloch in andere Zimmer stehlen, wenn er Hausarrest hatte.
Zuletzt gehen die Dinge ineinander über, wie in das Aprilabendlicht der Berge getaucht. Hell und Dunkel sind nicht so leicht voneinander zu unterscheiden, das Überflüssige rückt fort.
Ich erinnere mich, wie Vater beim Glockenläuten an den Seilen hochgezogen wurde. Wie Großmutter die Schuhe meines Bruders versteckte, damit er abends nicht aus dem Haus konnte. Wie Polizisten die Luft aus meinen Fahrradreifen ließen und die Ventile mitnahmen, weil ich Julie auf dem Lenker ausgefahren hatte. Wie ich mit Harro an einer Bar saß, wir tranken und sahen einander kaum an. Wie Jona am Flughafen vergaß, sich umzudrehen, und Karla im letzten Moment die Hand zum Abschied hob. Ich spüre, wie lahm die Zunge im Mund lag, weil sie sich in einer anderen Sprachfärbung zurechtfinden musste, und erkenne, dass ich Vater über die Jahre ähnlich geworden bin. Die Sehnsucht nach dem Wald ist groß, dem Gleißen, Glühen, Flimmern, dem Rauschen, Summen, Vibrieren, das es nur in den Bergen gibt.
Leise, weil es nicht mich meint, laut genug, um die Gedanken zu besänftigen.
Ob man mit etwas davonkommt, ist fraglich.
Ich warte noch immer auf das Geräusch des Steinchens an der Fensterscheibe. Großmutter liegt auf der Terrasse und sieht in den Sternenhimmel. Wenn ich die Hand ausstrecke, berührt sie den Plafond. Julie sitzt lachend auf dem Lenker. Karla und Jona verlangen eine Geschichte. Harro füllt unsere Gläser auf. Vater betrachtet die dunkle Seite der Berge und raucht.
Und wenn es Abend wird, hinter den Wäldern, zünden die beiden Freunde ein Licht an und zählen meine Schritte.
Deine auch?
Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.
Eine Auslandschweizerin hat nie frei. In ihrem Kopf vergleicht sie dauernd das Ausland mit der Schweiz. Und die Schweiz mit dem Ausland. Egal, wo sie unterwegs ist, ob in der Schweiz oder im Ausland, immer ist dieser eine Satz mit dabei: Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier. Vor wenigen Tagen war dieser Satz noch in Paris, nun reist er mit mir durch die Schweiz.
Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier.
«Du bist ja nirgends mehr daheim!», bemerkte vor einiger Zeit meine Tante. «Ich bin eben an zwei Orten daheim!», entgegnete ich, etwas vorschnell. Und kam dann ins Grübeln. An zwei Orten daheim fühlt sich vermutlich anders an. Dann würde sich mir das eine Daheim nicht immer entziehen, wenn ich mich ihm nähere und das andere in die Ferne rückt. Aber eigentlich bezog sich die Bemerkung meiner Tante auf den Umstand, dass sich zwischen das Hier und das Dort, zwischen die Schweiz und Frankreich, hin und wieder Arbeitsaufenthalte in Osteuropa schieben. Damals kam ich gerade von einem zweimonatigen Einsatz in Moldawien zurück. Werde ich in Osteuropa gefragt, wo ich daheim bin, dann lautet meine Antwort spontan Paris. Aber nie, wirklich nie, ohne zu präzisieren, dass das richtige Daheim in der Schweiz ist. Daheim A und Daheim B. Das ergibt zwei Daheims. Habe ich ja gesagt.
Meine Berner Freundin redet anders als ich. Sie sagt zum Beispiel «dörthie», dorthier also. «Am Mänti fahre mer of Adubode, dörthie het’s im Momänt aber o no ke Schnee», sagt sie öppe. Oder: «Ke Ahnig, was dörthie los esch.»
Ich habe mich immer lustig gemacht über das Wort «dörthie», denn entweder ist man hier oder dort, dort oder hier. Dorthier war für mich ein Unwort, ein unentschiedenes Wischiwaschi, das weder hier noch dort sein will, sich nicht festlegen mag.
Jetzt klingt das Wort ganz anders. Es ist ein eigentliches Zauberwort. Denn es vereint das Dort mit dem Hier. Dorthier. Ich kann hier sein und gleichzeitig dort. Dorthier. Ich bin nicht mehr hin- und hergerissen zwischen Heimat und Gastland. Dorthier. Das ist, kurz gesagt, der Idealzustand einer Auslandschweizerin. In Gedanken zügle ich meine beiden Daheims ins Dorthier, lasse sie zu einem verschmelzen, und sage in der Sprache meiner Freundin, dass «e dörthie dehei be».
Alexandra von Arx „Ein Hauch Pink“, Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8
Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, lebte acht Jahre in Paris, wo der vorliegende Text entstanden ist. Mitten im Lockdown erschien ihr Romandebüt «Ein Hauch Pink», gefolgt von «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen».
wallen Sie trauen Sie sich über den weg prasseln Sie auf sich selber herunter übergehen Sie sich unterlaufen Sie ihresgleichen beflaggen Sie ihre fersen versohlen Sie sich artig wadeln und schenkeln Sie alles
vertreten Sie sich zergehen Sie sofort und entlassen Ihre anwesenheit auf der stelle unken Sie unken Sie quietschen Sie sich ganz in sich hinein
und siezen Sie sich
blüteln Sie sich voll fliedern Sie den winter zweigen Sie ab blättern Sie sich hin stammeln Sie verlauben Sie verstauben Sie treffen Sie jetzt erst Ihre vorkehrungen fallen Sie hinter sich her und über sich hin
verbarrikadieren Sie sich im vogelbauer zwitschern Sie formeln berechnen Sie seemannslieder zählen Sie geschichten
ziehen Sie sich auseinander zweifeln Sie sich heftig aus quengeln Sie sich zueinander
und siezen Sie sich
feuern Sie sich nieder erden Sie ihr werweißen wassern Sie ihr wasweissich lüften Sie sich auf und davon
dementieren Sie die elemente vierteln und sieben Sie sich durch und durch und siezen Sie sich
kaufen Sie sich ein nichtsichtgerät zweierlei käslochbohrer einen halben aubläser (bei verwunderungen) viele lustwagen und zehbrillen für alle hühneraugen
gähnen Sie ihre gedanken verlegen Sie ihre überlegungen verstauen Sie den verstand beschlafen Sie die vernunft träumen Sie sich munter
und siezen Sie sich
wringen Sie mit sich selbst gehen Sie ein schmeißen Sie sich zusammen knittern Sie sich kreuz und quer falten Sie sich bunt scheinen Sie durch und durch fad fasern Sie sich aus sich selbst heraus legen Sie sich mit sich zusammen oder hängen Sie verkehrt herum
aber siezen Sie sich
kreiden Sie sich jetzt von unten bis oben ein verschreiben Sie sich aber subito satzen Sie sich nun gänzlich ab füllen Sie die wörter und gellen Sie die silben benoten Sie die betonungen und lachen Sie pausen los
spannen Sie sich endlich
verduzen Sie augenblicklich nichten Sie nichten Sie mit und siezen Sie sich
siezen Sie sich gefälligst
siezen Sie sich endlich
Hugo Ramnek «Die Schneekugel», Wieser Verlag, 2020, 120 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-9902937-9-9
Hugo Ramnek, geboren 1960 in Klagenfurt/Celovec, aufgewachsen in Bleiburg/Pliberk, studierte Anglistik und Germanistik in Wien und Dublin und besuchte die Schauspiel-Schule Zürich. Er lebt seit 1989 als Schriftsteller, Gymnasiallehrer und Leseperformer in Zürich. Im Wieser Verlag erschienen: «Der letzte Badegast» (2010), ausgezeichnet mit der Anerkennungsgabe der Stadt Zürich, «Kettenkarussell (2012), nominiert für den Bachmannpreis, «Momentum, Texte zu Bildern von Arno Popotnig» (2013), «Meine Ge-Ge-Generation: Eine Jukebox» (2017) und «Das Letzte von Leopold» (2019), zuletzt «Die Schneekugel. Ein Roman in Erzählungen» (2020).
Wenn die Nacht dann / fällt
sind es gleich Millionen km
im Quadrat
Wie sollen zwei Zeilen / dies alles
durchmessen
mit ihren Zollstöckchen und Vers-
mäßchen
Wer Glück hat / hält
sich an den Rand der Dateien
(in den Dämmerschleifn der Ufer)
hofft dort deine Lippen zu finden (um 5 Uhr morgens)
: die Landmassen des Tags
Wo sonst / lässt sich auf-
tauchen
im ersten Licht sich schütteln
wie ein Hund
: allem Unheil entronnen
Weiter nichts
Ein (Jänner) Tag / der hinausläuft
ins Grau
Wir trinken aus Leichtsinns-
Tassen / ver-
steckn uns hinter Kosenamen
Warum nicht (alles) aufzählen
die vertanen Jahre
all die entglittnen / Möglichkeiten
: und plötzlich alles hergeben wollen
Auf deinen Wangen Granatapfel-
farbn
und im Hecheln der Sekunden
(Liebesschwüre)
: wieder warten auf Schnee
Rien
Wir aßen zu Mittag
aßen zu Abend
Nichts als ein Hinhalten der Stunden
Dann irgendwann / das Zu-
nachten buchstabiern lentement (Silbe für Silbe)
Und dein Kopf in meinem Schoß
: Nichts / nichts
über die Städte zieht Rauch
Flüchtig / wie alles
In die Nacht
Das Versprechen / sich nicht aus den Augen zu verliern
Die Sträucher / die sich ducken im Wind
Und Schnee / der auf Felder fällt
(in glänzende Ackerfurchen)
Weit draußen die Häuser zusammen-
gedrängt
Schritt für Schritt verliern die Bilder
an Farbigkeit
verblassen im milchigen Licht
im Flockengestöber / das übers Hirn
zieht
: doch noch / ist es nicht
Sepp Mall «Schläft ein Lied», Haymon, 2014, 80 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-7099-7142-0
Sepp Mall, geboren am 1955 in Graun/Südtirol, lebt und arbeitet in Meran. Autor, Lehrer und Herausgeber. Schreibt vor allem Lyrik und Romane, ist aber auch als Übersetzer sowie mit Hörspielen und Theaterstücken an die Öffentlichkeit getreten. Diverse Preise und Stipendien, u.a. Meraner Lyrikpreis 1996. Für die Arbeit an dem Gedichtband „Holz und Haut“ (2020) erhielt Sepp Mall das Grosse Literaturstipendium 2017/18 des Landes Tirol.
Im kommenden Herbst erscheint bei Haymon neu: «Holz und Haut» Gedichte.
Winde fegten dich hinweg,
Regenschauer verwischten deine Spuren.
Die Zeit – dieses einsame Meer – riss dich entzwei
und schleppte dich fort
aus dem Fegefeuer meiner Erinnerungen.
Jetzt frag ich mich,
ob es dich überhaupt je gab
oder ob ich dich mir ausdachte
trotzig,
als meine Träume Fleisch wollten,
mein Fleisch nach Liebe schrie – und einem Weg,
als ich zuende träumte
die Einsamkeit des Vogels am frostigen Himmel
und in deinen Augen sah, wie die Sonne aufging.
Rückkehr nach Elena
Meine Heimatstadt, in der ich aufwuchs,
mich verliebte, liebte, in der mein Lachen
wie ein Wasserfall vom Hügel herab über die Plätze rann,
kennt mich nicht mehr.
Stumm geworden ist der schmale Bach,
ein alter Nachbar lächelt von der Todesanzeige,
auch die Eingangstüre vor mir schweigt,
der kleine Balkon, auf dem Efeu rankt.
Wann ist diese Welt nur so verödet,
die noch gestern aus vollem Halse zur Gitarre sang?
Oder ist es nur die Hölle, als Fremder heimzukehren
und Tod lebendig als Erinnerung zu erfahren?
Niemandes Spiegel
Ich möchte niemandes Spiegel sein,
obwohl ich ständig jemandem den Spiegel vorhalte.
Ich möchte kein Wächter von Illusionen sein,
obwohl ich stets die eigenen wahre,
– wenigstens bis sie mich im Korridor erschrecken
und ihren wahren Namen verraten.
Ich möchte nicht der beißende Rauch
über dem fälschlich angezündeten Strohbündel sein,
obwohl meine Fußsohlen angeschmort sind
und ich schon einer Feuertänzerin ähnele.
Ich will auch kein Haustierchen sein –
keine faule Katze, kein Kanarienvogel im Käfig
und kein Fisch in der Aquariumslandschaft.
Doch wenn ich mich einmal nicht erkennen sollte,
dann ist ganz sicher der Spiegel daran schuld.
Meine Mutter
Meine Mutter –
eine mitternächtliche Geige,
die den Mond zum Schlafen bringt.
Meine Mutter –
eine wütende Sense im Sommer,
wenn der Klee seine Blätter entfaltet.
Meine Mutter –
die harte Hand des Lebens,
die mich über knarrende Stege führt.
Meine Mutter –
eine Trauerweide über dem Fluss:
ihre Augen laufen aus,
dem Wind hinterher
mit dem geschulterten Bündel Erinnerungen.
Meine Mutter –
eine Begonienblüte,
die ihren Kopf hängen lässt im Herbst,
wenn die Schwalben fortfliegen.
Meine Mutter . . . Wer ist diese Frau?
Ausgedachte Welt
In ihr werde ich dich verstecken,
damit du mir öffnen kannst,
wenn die da draußen
mir blutige Wunden schlägt
wie das zu klein gewordene Schuhwerk
die Füße eines Mädchens, das
partout nicht groß werden will . . .
Eine Linde will ich dir pflanzen,
Jasmin und Flieder,
dir eine Sonne gebären,
eine Quelle dir weinen
in der Abenddämmerung,
wenn der Tag seine eisernen Tore
hinter meinem Rücken zuschlägt,
der Regen seine Metallzapfen
in mein Gesicht bohrt,
wenn mich ganze Scharen ersticken
mit ihrer selbstzufriedenen Ausdünstung
nach Wohlstand und Erfolg,
wenn ich mich frage,
ob ich noch ich bin
und du noch auf mich wartest
in meiner ausgedachten Welt
in der ich dich unbedingt
eines Tages verstecken will,
damit du mir in Erinnerung rufst,
dass es mich noch gibt.
(alle Gedichte aus «Niemandes Spiegel»)
Evelina Jecker Lambreva «Niemandes Spiegel» Gedichte (bulgarisch-deutsch), Übersetzung aus dem Bulgarischen von Evelina Jecker Lambreva und Thomas Frahm. Chora Verlag, 2015, 156 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-929634-65-5
Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband „Niemandes Spiegel“ sowie der Erzählband „Unerwartet“ vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: „Vaters Land“ (2014) und „Nicht mehr“ (2016), «Entscheidung» (2020)
J’ai perdu une balle de golf le printemps dernier et serais très heureux si vous acceptiez de m’aider à la retrouver. Elle a disparu à proximité des collines de Fra Mauro où nous avions aluni en février dernier. Mon ami Edgar D. Mitchell qui faisait quelques pas en ma compagnie ne m’a pas été d’un grand secours et c’est pourquoi je me tourne aujourd’hui vers vous. Ce n’est pas simplement une question sentimentale. Certes, j’avais promis à mon père de faire un petit geste pour lui, grand pour l’histoire de notre noble sport. Mais l’administration de la NASA me réclame cette balle – à tort puisque je l’ai achetée moi-même chez Britroy, un commerce fort avenant situé sur Lexington Avenue. Vous connaissez l’esprit étriqué de nos fonctionnaires, impossible de les raisonner, d’autant plus que la presse s’acharne sur le coût de notre mission. La Nation devrait être heureuse que nous soyons revenus sains et saufs malgré les nombreuses pannes auxquelles, comme nos prédécesseurs, nous avons dû faire face. On m’a déjà demandé le club bricolé pour l’occasion, mais j’ai souhaité faire don de mon fer 6 à des amis véritablement connaisseurs (rassurez-vous, pas à ces Ecossais de la Royal & Ancient Golf Club de Saint Andrews qui soutiennent que j’ai fauté en négligeant de ratisser le sol lunaire après mon coup).
Récupérer cette balle me ravirait et me consolerait des railleries dont je fais l’objet depuis mon retour. Il est vrai que mon premier tir n’est pas parti à des miles et des miles. Mais avez-vous déjà essayé de slicer hors de l’atmosphère? Même que, empêtré dans ma combinaison, j’ai failli m’étaler dans le sable. Ai-je mérité pour autant d’être traité de Bibendum jouant au croquet? Que les hommes sont injustes…
Merci par avance pour votre précieux soutien.
Sincèrement,
Votre dévoué Alan B. Shepard
Chef du Bureau des astronautes
23 décembre 1971
ps : J’offre une bonne récompense.
TS, 2007, rév. 2020
Thomas Sandoz «Ruhe sanft», übersetzt von Yves Raeber, die Brotsuppe, 136 Seiten, CHF 25.00 und Euro 22.00, ISBN 978-3-03867-010-0
Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance« (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).
Die Übersetzung von »Même en terre« ist unter dem Titel «Ruhe sanft» im verlag die brotsuppe erschienen. Übersetzt hat Yves Raeber.
Manchmal zähle ich die Sekunden, wenn ich abends oder schon in der Nacht an meinem Haus vorbeifahre und mich etwas weiterzieht, immer weiter.
Ich höre mir die Nachrichten an. Bei einer Spezialeinheit hat es mehrere Tote gegeben, während sie einen Schutzzaun errichtet hat. Und Europa droht bereits die nächste Flüchtlingswelle.
Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre selbst irgendwo im Süden geboren, hätte Kenntnis vom Wohlstand, von der Meinungsfreiheit, von der Menschlichkeit dort drüben. Ich kann es mir aber nicht vorstellen, nicht wirklich. Ich sage zu mir selbst, dass es schon okay ist, unterwegs zu sein, ohne ein Ziel zu haben. Meine Stimme klingt wie ein kalter Niederschlag.
Mein Beruf: Leitender Angestellter in einer Softwarefirma. Dass ich zweiundvierzig bin, merkt man nur an dem nach oben gerutschten Haaransatz. Ich habe noch genug schwarze Haare, um die grauen auszugleichen. Seit einem Jahr bin ich geschieden, Vater einer fünfjährigen Tochter. Jedes zweite Wochenende verbringen wir Zeit miteinander.
Meine Tochter wirkt älter, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ihre samtdunklen Augen, die sie von mir hat, schauen an mir vorbei.
Hast du mich nicht lieb?
Diese Frage macht mich perplex. Ich?, entgegne ich energisch. Ich? Doch! Natürlich!
Aber du bist nie da.
Ich darf dich nicht mehr so oft sehen. Es ist mir nicht erlaubt.
Du weinst, sagt sie erstaunt.
Weil ich dich vermisse.
Wenn du mich lieb hast, kannst du mich auch sehen. Das ist nicht so einfach, ach, das ist viel schwieriger, als du denkst.
Ich beobachte sie, wie sie leise, katzenhaft, biegsam, aber mit sturem Ausdruck im Gesicht vom Sitz klettert und dabei auf die Lippen beißt. Das hat sie von ihr, nicht von mir. Sie implodiert, wenn sie wütend ist; ich explodiere, denke ich und will lieber etwas sagen, als zu vergleichen, aber alles dreht sich aus der Verankerung und fliegt weg. Warum bringe ich alles zum Explodieren? Verzweifelt lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Bis bald, ja?
Das Lächeln misslingt mir. Kinderaugen sind das Flutlicht in die eigene Seele. Ich kann nicht anders und starte den Motor, ohne sie noch einmal anzusehen.
Welcher Moment war der Anfang vom Ende? Die Frage ist nicht zu beantworten; ich habe sie mir schon oft gestellt. Ich erinnere mich an Ladungen mit Vorwürfen, die wir über uns schütteten, oft an den Samstagen nach den gemeinsamen Einkäufen. Noemi weinte auf dem Rücksitz, und wir knüpften nahtlos an den letzten Streit an, beluden den neuen Streit mit neuen Vorwürfen und vergaßen auch die alten Vorwürfe nicht.
Stau im Gotthardtunnel – unser letzter Urlaub im Tessin ein Leerlauf, keine Chance, woanders hinzusehen als geradeaus. Plötzlich hing dieses Schweigen zwischen unseren Lippen.
Du hattest den Mut, es auszusprechen. Zwischen uns, hast du mit vertränten Augen gesagt, zwischen uns, da ist doch nichts mehr. Ich wollte schreien. Bitte weine nicht; wir haben das nur durchgespielt! Aber wir rückten uns nicht mehr zurecht und bäumten uns nicht mehr auf, um die Streitigkeiten durchzustehen wie unsere Großväter und Großmütter, nicht mal unserer Tochter zuliebe.
Wäre es anders gekommen, wenn wir uns für ein zweites Kind entschieden hätten?, hast du gefragt.
Ich weiß nicht, habe ich geantwortet. Vielleicht. Viele Paare versuchen, ihrer Beziehung damit neuen Auftrieb zu geben, eine neue Gemeinsamkeit zu erzeugen. Doch nutzen tut es im Endeffekt wenig.
Das Gespräch ist leise gewesen. Mit letzter Kraft haben beide den anderen nochmals wahrgenommen.
Grundsätzlich mag ich dich noch immer, aber da liegt nicht das Problem – war es das Letzte, was du gesagt hast? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich mochte es, wie du barfuß durch unsere Zimmer liefst, als begingest du gerade einen unberührten Fleck Natur. Die vielen Dinge, die du während unserer Zeit gesagt hast, sind verschwunden; es sind Bilder, die ich ab und an antreffe, an den verschiedensten Orten, von einem unsichtbaren Pinsel in mein Unterwegssein gemalt – doch immer unschärfer, verwaschener, ausgebleichter. Ich konzentriere mich auf das Lenken, die Straße runter und die nächste, Straße um Straße, und dann unser Haus, in dem noch einige deiner Sachen hängen. Begleitet von einem leisen Schwindelgefühl rolle ich mit dem Familienauto daran vorbei. Ich zähle die Sekunden. Dann zögere ich und wende. Und fahre wieder zurück.
In letzter Zeit träume ich nachts oft dasselbe, manchmal auch am Tag, wenn ich wach bin und doch in einem schwebenden Zustand durch die Gegend fahre.
Ich stehe in einem Raum. Er hat weder eine Tür noch Fenster; es ist dunkel. Aber meine Augen gewöhnen sich allmählich daran. Der Raum ist eng. Gezwungenermaßen muss ich den Blick auf etwas richten, das vor mir auf dem nackten Boden liegt. Mal hebt es sich leicht. Dann ist es höhenlos, wie ein Fleck, ein Schatten, etwas Dunkles; ich höre es atmen. Ich will weg, weg aus dieser Enge, habe Angst. Panik überfällt mich, dass ich meinen Fluchtimpulsen nicht nachgeben kann und für immer eingeschlossen bin.
Doch, und jetzt kommt das Seltsame, fühle ich auch etwas Warmes. Tief drinnen in dieser Angst ist etwas, das sich um mich sorgt; es weint um mich. Meine Irritation hält für Sekundenbruchteile an.
Dann ist die Angst wieder da. Ich wache schwitzend auf, oder ein Auto hupt mir ins Gesicht; mit letzter Kraft reiße ich das Steuer herum, und der Lichtkegel schluckt wieder die Fahrbahn. Mein Auto rollt weiter. Die Welt dreht sich weiter. Die Nachrichten gehen weiter. Ich tippe flüchtig den Schalter seitlich am Lenkrad an, worauf die Radiostimme verstummt. Kann ich noch lieben? Nach den Zeitangaben der Scheidungsbücher sollte ich allmählich über die Trennung hinweg sein, sonst falle ich aus der Statistik.
Ich betrete die Bar, die ich einmal pro Woche aufsuche. Über dem Tresen laufen die letzten Sekunden der Abendnachrichten. Danach eine weitere Ausgabe von Nur der Überlebenswille zählt. Die verbliebenen Kandidaten müssen sich, geschwächt von Hunger und Schlafabstinenz, in die Tiefe einer Schlucht abseilen. Die Frau neben mir – wie ich auf einem Barhocker – gibt sich unbeteiligt. Sie simst auf ihrem Handy. Es scheint eine längere Botschaft zu sein. Sie trägt einen sorgfältigen Haarschnitt, braun, schulterlang, die Augen leicht geschminkt. Sie bewegt sich anmutig. Wie üblich habe ich die Krawatte gelockert, meine Haare in die Stirn gedrückt, nicht nach hinten geklatscht wie früher. Es geht nicht lange und wir sind in ein Gespräch verwickelt.
Nach dem zweiten Drink fragt sie: Warum heiraten Leute?
Aus Leidenschaft?, frage ich zurück. Nein. Um einen Zeugen für ihr Leben zu haben. Es gibt Milliarden von Menschen. Aber was bedeutet das Leben eines Einzelnen? In einer Ehe verspricht man, alles miteinander zu teilen, die guten Dinge, die schlechten, die banalen. Einfach alles, jeden Tag. Man sagt: Dein Leben wird nicht spurlos vorübergehen, weil ich es beachte. Dein Leben wird nicht ohne Zeuge sein, weil ich dein Zeuge sein werde.
Diese Dinge, die sie da sagt. Ich falle in ein mir fremdes Grübeln. Ich habe wieder diesen Gedanken wegzufahren, hinaus aus allem – und bin selbst überrascht, als ich sie frage. Sie streicht sich die Haare aus der Stirn. Dazu lacht sie. Sind Sie ein Künstler oder so etwas? Sie sehen zwar nicht so aus, aber Ihre Augen sind groß, wie aufgerissen, als sähen Sie Dinge, für die Menschen wie ich keine Zeit haben.
Ich lache ebenfalls, es klingt hohl. Also, wie denken Sie darüber?
Aber wir kennen uns ja erst seit heute Abend. Sie kennen mich bereits, sage ich forsch. Sie blickt mich überrascht an.
Alles, was Sie wissen müssen, sitzt hier bei Ihnen.
Sie kitzelt ihr Sektglas mit dem Zeigefinger, lässt ihren Blick eine Weile durch die spärlich gefüllte Bar gleiten und schaut mir dann direkt in die Augen. Wie Teenager auf der Flucht vor dem Erwachsenwerden?
Ja.
Unsicher flüstert sie zurück: Also gut, sagen Sie es noch mal.
Ich nicke devot. Wer hat in unserem Alter noch die Tollkühnheit, alles stehen zu lassen und dem Drang nach Freiheit zu folgen?
Sie sind doch kein Serienmörder?
Darauf lache ich wieder hohl.
Als ich sie durch ihr Viertel fahre, regnet es leicht. Sie erklärt mir, wo ich halten soll. Ich schaue ihr nach, wie sie im Haus verschwindet, rauche dabei eine Zigarette. Als die Glut den Filter erreicht, blicke ich noch einmal in den Rückspiegel. Ohne auf sie zu warten, starte ich den Motor und gebe Gas. Plötzlich schlägt etwas auf den Kofferraum. Ich sehe sie rennen. Sie rennt hinter mir her und fuchtelt mit den Armen. Ich würge den Motor ab und halte aus einem Impuls heraus, den ich bei mir nicht kenne, schützend die Hände vor mein Gesicht. Beobachte durch die Finger hindurch zuerst im Rück-, dann im Seitenspiegel, wie sie wütend um den Wagen herumkommt. Warum fahren Sie einfach weg? Wollen Sie mich demütigen? Steigen Sie ein, entgegne ich leise. Meine Hände zittern, als ich wieder ans Lenkrad greife, mein Herz schlägt noch eine ganze Weile schnell. Seit wir an meinem Haus vorbeigefahren sind, zähle ich heimlich die Sekunden. Kurz vor Minute zwei höre ich auf. Wir fahren schweigend Richtung Peripherie, bald auf der Straße, auf der Autos über die Grenze nach Deutschland gelangen. Schwacher Regen fällt.
Sie durchbrechen in Windeseile Schranken, und wenn es darauf ankommt, flüchten Sie. Weshalb machen Sie das? Ich schaue vorsichtig zu ihr. Ihre Wangen glühen. Alles glüht an ihr. Ich hätte sie gerne umarmt, während sie noch immer außer sich ist. Ich kenne Sie überhaupt nicht – und trotzdem fahre ich mit Ihnen weg. Ich … ich kenne mich ja selbst nicht mehr!
Schweigen. Regen fällt. Was ist eigentlich Ihr Problem? Sie blickt auf die Regentropfen, die der Scheibenwischer nach links und rechts verschiebt.
Ich überlege. Räuspere mich. Ich fahre herum, wissen Sie – nach der Arbeit. Abend für Abend. Ohne Ziel. Fahre und fahre, und alles fliegt dennoch aus der Verankerung. Sie runzelt die Stirn, sodass eine ernste Falte zwischen ihren Brauen entsteht. Mit ruhiger, entschiedener Stimme sagt sie: Irgendwann bauen Sie wieder ein neues Heim auf. Das ist so was wie ein Kreislauf.
Ich schüttle kurz den Kopf. Ich erzähle von meinem Traum mit dem engen Zimmer ohne Fenster, ohne Tür. Erzähle von meiner Angst, eingesperrt zu sein, ohne Fluchtmöglichkeiten – und von diesem dunklen Fleck. Weil sie sich dazu nicht äußert, schalte ich das Radio ein. Nachrichten über einen Familienvater, der seine Familie ausgelöscht hat. Nach einer Weile höre ich ein Räuspern, und eine Stimme neben mir sagt: Sie wissen also nicht, wohin wir fahren.
Vielleicht nach Utopia, bin ich um etwas Aufheiterung bemüht. Vor einer Ampel lehne ich mich zu ihr hinüber. Mit gefällt Ihre Kette. Ist das Ihr Name – Rose?
Sie blickt mich lange an. Das Licht in ihren Augen rieselt in warmen, zuckenden Wellen durch meinen Körper. Ich lächle gequält. Zoll Otterbach – nur noch zwei Kilometer, höre ich mich sagen. Mit einer Stimme, als bestellte ich einen Hotdog mit Senf.
Wir fahren den Grenzkanal entlang, in dem in früheren Zeiten sommers noch gebadet werden konnte.
Der Regen hat nachgelassen, haucht sie. Können Sie bitte anhalten?
Hier, so knapp vor der Grenze?
Ich fahre ein Stück waldeinwärts und, auf ihren Befehl hin, noch etwas tiefer hinein. Ihre Augen funkeln wild. Nicht schauen! Und nicht wieder wegfahren!
Ich sehe, wie sie sich bei der dritten Baumreihe abseits des Waldweges in die Luft setzt, den Rücken an einen Stamm gelehnt. Ein ovaler Mond legt fahl und stumm sein Licht in die Bäume, ehe er endgültig von einer Wolkenschicht verdeckt wird. Ich denke an den Traum, an den engen fenster- und türlosen Raum. Vor mir liegt etwas am Boden, das um mich weint.
Für einen Moment kommt mir alles sinnlos vor. Aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich nicke fröhlich, als sie zusteigt, und rede mir ein, dass ich ihr vorsichtiges Lächeln mag, hinter dem noch so viel verborgen zu liegen scheint. So könnte Noemi in ein paar Jahren sein – ein verrückter Gedanke.
Bereit zur Weiterflucht?, sage ich mit gut gelaunter Stimme. Der Bordcomputer bringt uns direkt ins Paradies!
Ich wende das Raumschiff in einer satten Linksschlaufe und presche durch den dunklen Wald. Die Bäume auf beiden Seiten des Weges rücken enger zusammen, bilden einen schmalen, tückischen Korridor, aber ich schaffe es, uns sicher hindurchzusteuern.
Halt! So halte doch!
Sie duzt mich in ihrer plötzlichen Aufgeregtheit. Dem spitzen Schrei, den sie ausgestoßen hat, folgt das Bremsen der Räder, das Absterben des Motors. Irgendwo aus dem Geäst flattern ein paar Federkörper. Dann ist es still.
Sehen Sie es auch?, zischt sie. Schalten Sie die Scheinwerfer wieder ein! Da, sehen Sie?
Ja, jetzt sehe ich es auch. Vielleicht ein Reh, ein Hund. Ich versuche, meinen Blick zu schärfen. Sehe es langsam aus dem Unterholz auf den Weg vor uns kriechen. Gut zehn Meter entfernt, schätze ich.
An der Stelle, wo sie meinen Arm umgreift, wird es warm, doch ich habe jetzt für derartige Empfindungen keine Zeit.
Ich schaue vorsichtshalber in den Rückspiegel; hinter meinem Gesicht ist es stockdunkel.
Du meine Güte, ein Mensch. Sehen Sie doch. Es ist ein Mensch!
Ihre Nägel haben sich in meinen Oberarm gegraben. Ich rolle im Schritttempo näher heran.
Es ist ein Mensch!, wiederholt sie ständig. Ja, aber sehen sie sein Gesicht?, unterbreche ich sie schließlich. Nein.
Eben.
Was eben?
Ich schalte die Scheinwerfer wieder aus, um es zu demonstrieren.
Du meine Güte. Ein Flüchtling. Einer von denen. Weshalb liegt er da am Boden?
Dem geht es nicht gut.
Das sehe ich selbst. Er bewegt sich ja kaum! Wer macht so was?
Die Armee, die Polizei, die Grenzwächter, sage ich trocken. Das ist Ihre Vermutung. Vielleicht hat es unter den Flüchtlingen eine Rangelei gegeben.
Ich merke, wie ich schlagartig müde werde, und schalte die Scheinwerfer wieder ein.
Er lebt noch. Er kriecht. Das ist mir alles zu viel. Wir sollten schon lange von hier weg sein!
Ich schlucke leer. Meinen Sie? Ich weiß plötzlich nicht mehr.
Ihr Gesicht glänzt verbittert. Ich dachte, Sie seien stark. Nur geschwächt von einer gescheiterten Ehe, aber im Grunde genommen stark.
Sie sagt noch weitere Dinge, die mich nicht mehr erreichen. Ich höre sie zwar, aber ich bin unfähig zu antworten. Ich bin in den letzten Minuten bewegungslos geworden. Als hätte mich eine höhere Macht in diese Situation eingeschweißt. Der Flüchtling ist nochmals ein Stück näher auf uns zugekrochen.
Das ist mein Traum, höre ich mich sagen. Davon habe ich geträumt.
Rose starrt mich unentwegt an. Ich spüre ihren vernichtenden Blick auf mir. Ich werde plötzlich ganz ruhig. Ich schalte die Scheinwerfer endgültig aus und starre in die Dunkelheit. Rose, will ich sagen. Jetzt wird alles gut. Ich bin mir selber fremd geworden.
Sie schlägt die Wagentür zu. Ihre Panik hat etwas Gespenstisches. Nach Hause, nach Hause – hält sich das Echo ihrer Stimme noch eine Weile an den Herbstblättern fest, die über meinem Kopf sanft im Wind rauschen. Rose wankt um das Auto Richtung Hauptstraße, ihre Augen finden in der Dunkelheit keinen Halt. Ihr ist offenbar nicht in den Sinn gekommen, die Taschenlampen-App auf ihrem Handy zu benutzen. Der Gedanke, ebenfalls im Dunkeln loszugehen, fühlt sich immer richtiger an.
Ich bin inzwischen auch ausgestiegen. Schritt für Schritt berührt mich meine eigene Angst. Ich stöhne leise und bleibe stehen. Ich wage mich erst weiter vor, als ein leises Atmen um Aufmerksamkeit ringt.
Ich sehe panisch aufgerissene Augen. Hallo?, will ich sagen und bücke mich runter. Der dunkle Fleck versucht, die Krawatte, die lose an meinem Hals pendelt, zu fassen und greift dabei immer wieder ins Leere. Ich fange diese Bewegungen mit meiner Hand ab, als ertastete ich etwas, das tief in mir erklingt und mir lange Zeit verborgen war, vielleicht von mir selbst einst verbannt. Ich kann die andere Haut riechen, als ich meinen Körper auf den feuchten Waldboden lege, und spüre das Blut an meiner Wange.
Ich flüstere: Ist es nicht so, dass wir alle an denselben Ort wollen? Und in die Wunde, die neben mir zittert, drücke ich wie ein kleines Kind mein ganzes Gesicht, sauge gierig daran und dehne mich hinaus ins Grenzenlose.
(Erzählung aus «Fliehende Lichter», Erzählungen, Kommode Verlag, 2017)
Lu Bonauer «Fliehende Lichter», Erzählungen, Kommode Verlag, 2017, 208 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-9524626-3-8
Lu Bonauer, geboren 1973 in Basel, schreibt Prosa und Lyrik. Seine Texte sind in mehreren Anthologien erschienen und wurden bei diversen Wettbewerben ausgezeichnet, unter anderem war er Gewinner des Schreibwettbewerbs OpenNet der Solothurner Literaturtage und des Monatstextes März 2002 des Literaturhaus Zürich. 2008 und 2016 erhielt er jeweils für die Romanprojekte Herzschlag hinter Stein und OLI’s God einen Förderpreis des Fachausschuss Literatur BS/BL. Lu Bonauer erhielt im Frühjahr 2019 einen Werkbeitrag von der Kulturstiftung Pro Helvetia.
»Würden Sie mich bitte in Ruhe lassen. Das Fenster, bleiben Sie vom Fenster weg, ich will die Weite vor mir haben, die Wüste und die Windräder. Nach dem Rechten wollen Sie sehen? Hören Sie, es ist mir egal, wie Ihre Direktiven lauten, ich werde an der Erfüllung der meinen gemessen. Man muss, um die Zukunft freizulegen, Tonnen von Schutt beiseiteräumen, den die zerbröselnde Geschichte hinterlassen hat. Man muss tausend Sätze schreiben, um sich dem einen zu nähern, der ungeschrieben bleibt. Man muss Beharrlichkeit an den Tag legen, Durchhaltevermögen wider jede Vernunft. Man muss, und das ist vielleicht das Schwierigste, Sätze ertragen, die mit man muss beginnen; tatsächlich, wissen Sie, trägt unsere Zeit einen kategorischen Imperativ in sich, der längst überwunden schien. Ich schreibe ja nicht etwa über mein Leben – wie langweilig wäre das! –, sondern um mein Leben, ganz so, wie draußen in der Wüste ein Flüchtling um sein Leben läuft, auf den sie die Jagddrohne loslassen. Der sich, wie im Grunde jeder und jede von uns, verloren weiß im toten Nichts einer toten Landschaft und dennoch rennt, solange er noch kann. Er rennt, ich schreibe. Was ich schreibe, ist bloß ein Beispiel, doch dieses Beispiel muss treffend sein, zutreffend über sich selbst hinaus. So lautet die Vorgabe! Aber suchen wir nicht überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge? Kennen Sie Novalis? Aber was rede ich. Sie verstehen mich ja doch nicht, Sie hören mir nicht einmal zu … Nun gehen Sie schon!«
1 Symptome des Fiebers
Vor meinem Fenster liegt Mitteleuropa, die gehäutete Echse. Am Horizont ragt der Alpenbogen kahl und grau aus der Ebene, entlang des Grates bilden zweihundert Windräder den Rückenkamm des Reptils. Das Grün, von dem Aufzeichnungen und Bilddokumente früherer Jahrhunderte zeugen, haben Hitze, Trockenheit und Einstrahlung längst von den Hängen geschält. Die Wissenschaft hat penibel beschrieben, wie zuerst die feuchtkühlen Buchenwälder, dann die sonnendurchfluteten Eichen- und Föhrenbestände und zuletzt die zähen und hartlaubigen Gebüsche, die dem Wald nachfolgten, verdorrten und durch immer niedrigere, immer kargere, immer widerstandsfähigere Formationen des Bewuchses ersetzt wurden. Bäume und Sträucher sind längst aus dem Landschaftsbild verschwunden, aus den Gedanken und beinahe schon aus dem Wortschatz; ihre letzten natürlichen Vorkommen, hört man, sind wie eine aussterbende Eskimosprache auf winzige Reliktgebiete in den Polarregionen beschränkt. Bei uns, in der einst gemäßigten Zone, haben sich sandig-steinige Wüsten breitgemacht. Nur in den günstigsten Schattenlagen überdauern noch wenige Arten kaum knöchelhoher, unansehnlicher Polsterpflanzen, die sich mit silbrigem Haarflaum vor der Strahlung schützen, einzelne kleinwüchsige, aus den einst eng begrenzten Trockenzonen der Erde stammende Sukkulente und jene grauen, gelben oder rötlichen Krustenflechten, die dem Gestein wie eine vernarbte Haut anliegen und selbst unter experimentellen Laborbedingungen kaum umzubringen sind – alles in allem ein armseliges Häuflein Überlebender ohne jede Ähnlichkeit mit den reichhaltigen Pflanzengesellschaften, die noch vor wenigen Jahrhunderten unsere Breiten bedeckten.
Die Veränderung des Klimas und der Landschaft ist zuletzt in einer Geschwindigkeit vonstattengegangen, mit der die meisten Organismen nicht Schritt halten können. Das Leben wird vor unseren Augen in einer Weise vom Planeten gefegt, vor der die großen Sechs, die bisherigen Aussterbewellen der Erdgeschichte, zu harmlosen Begebenheiten verblassen. Man kann stundenlang auf die Ebene hinausstarren, ohne ein einziges Tier zu sehen. Einmal nur, kurz vor Carinas Tod, flog ein Wüstenrabe vorbei, ankämpfend gegen den böigen Wind; eine fast schon unglaubliche Ausnahmeerscheinung, wie mir Luis versichert hat, der es wissen muss, ist er doch täglich dort draußen unterwegs. Der Wind, der immerzu in Sturmstärke weht, trägt den entblößten Boden in tanzenden Staubwolken ab, bis das Grundgestein zutage tritt. Man kann nicht erkennen, wo das Hitzeflimmern endet und die Schwaden des Feinmaterials beginnen, die überall in der Luft treiben; beides verbindet sich vor dem Auge zu einem Schleier, hinter dem der ferne Alpenkamm zeitweise ganz verschwindet. Die Echse macht sich dem Auge rar. Die Windräder drehen sich dort oben tagein, tagaus unter Volllast.
Auch auf der Sonne, so meldet es der meteorologische Datenspiegel, stürmt es heute vermehrt, begleitet von Zusammenballungen magnetischer Feldlinien strömen Sonnenwinde in den Weltraum und setzen dem Erdmagnetfeld zu. Am Rand der Sonne hat sich, von einer Solarsonde genauestens dokumentiert, zuletzt eine Säule aus heißem Plasma gebildet, die mehr als sieben Erddurchmesser weit ins All ragt. Während Hitze und Strahlung wie unsichtbare Geschoße gegen mein vollisoliertes Fenster prallen, sitze ich hier bei erträglicher Raumtemperatur in meiner Wohnzelle und habe, egal wie, endlich zu schreiben begonnen. Ein wenig stickig ist es allerdings, seit einiger Zeit schon riecht es nach verschmortem Kunststoff; Gerüchte gehen um, die Innenklimatisierung des Humanareals gerate allmählich an ihre Leistungsgrenzen. Immer wieder läuft Personal ein und aus, möglicherweise stehen Arbeiten an der Klimaanlage bevor, oder die Aktivitäten werden nur vorgeschützt und man überwacht mich, versucht mich gezielt zu stören. Vielleicht soll meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Man steht hier ständig unter Leistungskontrolle oder soll es zumindest glauben oder glaubt es von sich aus. Es ist eine paranoide Welt; man zweifelt an seinem Verstand und weiß nicht, wer einen ans Messer liefert, wer wem worüber Bericht erstattet, was inhaltliche Anforderung ist, was Kontrollinstrument und was Ausgeburt der eigenen Neurosen. Man wird irre oder ist es schon – nichts, so heißt es, ist schwerer zu erkennen als der eigene Wahnsinn. Doch gebe ich mich unbeirrt, bleibe, abgesehen von gelegentlichen Wutausbrüchen, auf das Wesentliche konzentriert und lasse meine Aufgabe in ersten Beschreibungen Gestalt annehmen, um sie dann vielleicht zu lösen oder aber, was wahrscheinlicher ist, gerade so sang- und klanglos an ihr zu scheitern, wie wir alle, die wir noch hier sind, an der Überlebensfrage zu scheitern im Begriff sind.
Ich gebe mir Zeit. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, schaue ich hinaus auf die leicht gewellte Ebene des Alpenvorlandes, hinter der die Echse schemenhaft aufragt. Von der einstigen Kulturlandschaft mit ihren Mais- und Getreidefeldern, Blühstreifen, Wäldchen und gehölzgesäumten Bachläufen ist nichts mehr zu sehen, seit die ausufernde Sonne dieses trockenheiße Klima mit sommerlichen Temperaturen von fünfzig bis fünfundfünfzig Grad befeuert. Der Zyklus der Jahreszeiten ist weitgehend zusammengebrochen, die Hitze lässt neuerdings auch im Winterhalbjahr nur noch wenig nach. In der staubigen Weite verfallen die unbewohnten Dörfer, niemand will sich an ihre Namen erinnern. Eines von ihnen kann ich mit freiem Auge, zwei mit dem Fernglas deutlich ausmachen, ein weiteres in der flirrenden Ferne erahnen. In alten Landkarten eingetragene Flurnamen wie Haslau, Grünanger oder Eichkögl haben, abgesehen von ihren Lagekoordinaten in einem abstrakt über die Erdoberfläche gespannten Gitternetz, jeden Wirklichkeitsbezug verloren. Während also draußen alles verglüht und versandet, vegetieren wir in der Enge des Humanareals dahin. Wir sind nur noch wenige, aber wir sind zu viele, um hier ein menschenwürdiges Lebens zu führen. Das ist, so witzelt man, der späte Sinn unseres in Jahrmillionen erworbenen aufrechten Gangs: dass wir wenig Platz brauchen und senkrecht eingeschlichtet werden können in enge Räume. Über Nacht braucht dann alles nur um neunzig Grad geschwenkt zu werden, damit jeder bequem zu liegen kommt.
Die Straßen, die das Humanareal durch doppelte Thermoschleusen verlassen, laufen sternförmig zu den Agrarhallen hinaus. Die riesigen halbtransparenten Gewächshäuser sprenkeln wie Flecken blassgrünen Scharlachs die Landschaft, Symptom des Fiebers, von dem der Planet befallen ist – dabei sind sie noch die vitalsten Orte, an denen es, wenn auch nur unter hohem technischen Aufwand, immerhin wächst und gedeiht. Aus der verstrahlten Landschaft weggesperrt, produzieren hier krumme, niedrigwüchsige Obstbäumchen und dichte Reihen von Gemüsepflanzen streng rationierte Genussmittel, die unsere synthetische, weitgehend geschmacks- und geruchlose Grundnahrung ergänzen. Die Farbe Grün ist, indem sie die spärlichen Reste des Lebens koloriert, zum Symbol der Vergangenheit, der Vergänglichkeit, aber auch des unbeugsamen Überdauerns, ja des Aufbegehrens geworden. Sogar kleine Singvögel, robuste Arten wie Feldsperlinge und Kohlmeisen, werden unter dem Folienhimmel der Agrarhallen durch Schutzprogramme am Leben erhalten, brüten in den dort ausgebrachten Nistkästen und dezimieren die winzigen Pflanzenschädlinge, die Schildläuse, Spinnmilben und Thripse, deren Vermehrung unter den feuchtwarmen Bedingungen, die in den Hallen herrschen, nie ganz auszuschließen, sondern nur einzudämmen ist; die Kunst, sagt Luis, bestehe darin, gerade genügend Pestizide einzusetzen, um eine Massenvermehrung der winzigen Tiere zu unterbinden, und gleichzeitig so wenig, dass die Vögel keinen Schaden nehmen. Ein Fehler und das labile System bricht zusammen – mehr als einmal schon, sagt Luis, habe er hunderte Vogelkadaver aus einer Halle räumen müssen, nachdem man eine aufkommende Schädlingskalamität mit allzu reichlichem Gifteinsatz bekämpft habe.
In den klimatisierten Agrarhallen, vor allem in neu angelegten Hallen nach der ersten Durchfeuchtung des Bodens, kommen mitunter Pflanzen auf, deren Samen schon lange in der Erde geruht haben; sie gelten hier freilich als Unkräuter und werden, je nach dem Ausmaß ihres Auftretens, entweder chemisch bekämpft oder in den Boden zurückgepflügt, aus dem sie gekommen sind. Zuvor aber machen die Botaniker ihre Arbeit, gehen langsam, gesenkten Hauptes über die Flächen und bücken sich hier und da, um die Nachzügler einstigen Lebens zu untersuchen und Proben zu entnehmen, die in unserer Zukunft, falls es eine solche gibt, noch von Nutzen sein könnten; denn Ackerwildkräuter, heißt es, sind in Wahrheit keine Unkräuter, sondern genetische Ressourcen, die keine abwertende Vorsilbe verdient haben. Grün ist die Farbe der Hoffnung und schon heute der Werkstoff der Botaniker, wenn sie durch Gentransfers aus den zählebigsten Wildformen immer genügsamere und gleichzeitig ertragreichere Kulturpflanzen entwickeln, die in den Agrarhallen unter geringstem Wasserverbrauch möglichst rasch zur Erntereife gelangen. Wasser, das liegt bei kaum noch vierzig Millimetern Jahresniederschlag auf der Hand, ist der Schlüsselfaktor der neuen Landwirtschaft, es muss aufwändig hergestellt und sparsam zugeteilt werden. Neben jeder Agrarhalle steht ein Solarfeld mit einem blauen Prozesskubus aus massivem Stahlbeton, in dem Wasserstoff unter Zuführung großer Energiemengen zu Wasser verbrannt wird. Energiemangel ist immerhin nicht unser Problem – die Sonne liefert sie uns im Übermaß. Gelegentlich höre ich aus der Ferne einen dumpfen Knall, wenn bei der Wartung einer Anlage die Regulation der Knallgasflamme vorübergehend entgleist.
[…]
Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).