Elisabeth Wandeler-Deck «Visby, Coda, aus Teil a»

Wo, von hier aus 

gesehen, liegt Gotska Sandön, die Gasse, leer, ohne Mensch nicht wahr, menschenleer, da hin, die Aussicht, sommerweise ein Kunst zu fliehen, so das Licht, jetzt, ein kalter Wind geht, mitten im April, so etwas von klarer Luft, murmelt sie und zieht den Mantel über die dicke Jacke, ich denke mir das so aus, dazu vorbeihüpfende Dohle, das Gras liegt vor. Schnappe mir den Satz, so hingekritzelt, kaum hör ich‘s, reihenweise, die reihenweisen Wetterbezeichnungen, die Zimmer, exzerpiere aus dem Merkheft, den Rosinenkönig liegen lassen, eine Kunst, zu fliehen, was gilt, bleibt offen, wie denn, ich studiere die Fensterverschlüsse, während der Morgen noch anhält, besser ein Foto nehmen, davon, mich überliste, ein Huhn schlachte, um den Affen einzuschüchtern, zu betören mich, ich erinnere nicht, woher ich dies habe, keine Gelegenheit greifbar, leider nicht Ort nicht Zeitpunkt, leider nicht Umstände, ohne Traum schlafloses Erwachen im Traumdrin Rot, eine Ordnung Frau in rotem Kleid, dann so, und konnte nichts dran anknüpfen, döste vorwärts zurück, treffe Anstalten. Bin Gast. Sage lampisteries wie oft ich diese Nacht das Signal der Barriere etc. meines Bruders gedacht, wie er in seinem haitianischen Bad, auf dem WC hockend, in Atemnot, grässlicher Hinfall in den Tod hinein als ob ich ein Foto gesehen hätte davon und die liebe Lovely von ihrem haitianischen Ort her am Telefon mon Christian weinend soll das so stehen bleiben mache erneut Anstalten schaue vielleicht nordwärts möglicherweise in Richtung Gotska Sandön kompasslose Situation eines Flurnamens die Uhr geht gegen Mittag wiederhole lampisteries, j’ai perdu le nord füge mich ein. Auch Angstintarsien. Das helle Blau von Sternhyazinthen, einmal auch Leberblümchen erhascht, kaum war ich an der Sommerwohnung vorbei und wieder in der grösseren Strasse. Auch von hier aus, ein Meer, schwarzblau, sammle Blautöne von Blaumeisen möglicherweise Blåtitt Reminiszenz isländischer Blaumeisenerkundung etc. entspräche im Schwedischen dem Ausdruck Blåmes, so Mirjam später, muss nachsehen, lüfte mein Torkelbett führe meine Errundungen weiter einer Grammatik zu etc. um acht dann das Glockenspiel, das ich heut nicht verpassen etc. und geteilter Satz. 

Das reine Vergnügen

liege im „und“; es werde vom „um zu“ bedroht. Da will eine eine Volontärstelle bei der kühnsten amerikanische Feuilletonredaktion. Wie hatte ich das gemacht. Singe dir mein Schleiflied. Sturmdurchtrieben, kann das gesagt werden, eine Sturmdurchtriebenheit erinnern, Regen, ich und ich rasteten im Donners Brunn und sagten es. Mischte kurzfristiger meinen Himmel. Da kommt Herr Östborn, aber nicht doch. Setze Wetter ein, den Wetterschutz also Regenhut etc. „strahlend blauer Himmel“ wir rufen einander zu in „Wiesen blühen“ weisse Sternhyazinthen, von nahem am Weg besehen sind mancherorts manche doch eher Anemonen, ich bin verblüfft zu zweien je ich und ich eine Jahreszeit erstmals und im Rund gesetzte Steine zur Gasse hin halten das Erdreich. Wir sehen Scilla einzeln in grossen Gruppen, Felder beinah bildend, ein Gedränge von Blau, das blaue Blau. Es war eine Frage an Sten, sage ich zu T. oder M. oder L., die blauen Blumen im Gras, die Rosenstöcke überall an den Häusern, im abgetreppten Garten oberhalb der Kathedrale Domkyrkan Santa Maria erinnere die lateinischen Worte den Gesang das Nachhergehen. Gehe spazieren, gehe Kaffee besorgen etc. Kann den Schatten deines Liederschädels an den Hausmauern nicht verkennen Spatzenschwatzen Dohlengeschrei auch Möwen sehr still ist es hier so, dass ein einzelnes Geräusch interessant etc. Um zwei vor dem Kunsthaus, wo die gelbe Bank steht. Vor Wind schützt die Stadtmauer, die Gartenmauer, hoher Bretterzaun, nichts schützt vor Wind, was das Meer herträgt, trennt Land von Stadt die Mauer trennt ist Rand und wiederum Rand die Mauer dem Land zugehörig, Strand und Land, die weissen Sternhyazinthen habe sich dem geübteren Blick als Anemonen bewiesen, picken Dohlen, keine Korrektur, oben neben oben seitlich das „und“ der Wiederholung, schon jetzt, wieder, Elfengalopp über Grün, genauer anzuschauen, was da aufgeblüht etc. will die Stadtmauer, die Adelsgatan, der Südplatz, die Viertelstunde, die Viertelstunde, das Südtor, die Südmauer, das mittlere Tor, die Ostmauer, die Ringeltaube, die rote Bank, die rote Bank, das Cursorspringen, der Zwischenhalt am Schreibplatz, das Reihen am Bildschirm, ähnlich unsern Buschwindröschen, Foto gemacht, wie geht das vor sich, man empfiehlt als Regenhut einen Sonnenhut, keiner benützt hier Regenhüte, lausche dem Carillon lausche, wie das Spielbrett die Glocken zu Klingen, entzückter Stillstand im Frühwind, grüne Brandung, dann Reihen schwarzblau. Aufgeschäumter Wellengang. Reihe das „und“ um. Ziehe den roten Pullover über. Memoriere den Namen der finnischen Schriftstellerin, suche den Wohnort des estnischen Dichters, dessen Namen ich mir aufschrieb, suche das Haus der gotländischen Klavierlehrerin auf, lese Bäckers-, Musikhandelsbezeichnungen, errate den Sinn von Hinweisen, bitte um einen doppelten Espresso, weise auf ein Kardamomgebäck etc. 

Die Adelsgatan geht 

vom Wallérplats zum Söderport und weiter hinaus geht sie, sie geht in angenehmer Weise lange. Das Musikaliengeschäft öffnet um zwölf, es geht gegen elf, ich sehe die Instrumente, da sind sie, die Gitarren. Was ist nun mit Roubaud, Jacques. Sommers, so Sommer, den Insekten lauschen, oder M. auch Luftiges, auch in Gold das Abbild eines Insekts, dies zu Sjöberg, zu Frederik Sjöberg. Einer liebte Schwebfliegen. Er kennt die Arten. Er lässt die Sätze schweifen. Als ob ein Ich ein Ich repräsentierte. Auch Fragen Grammatik eines Entdeckens. Was tun nun mit Roubauds Tokyo hier im Visby, wenn sein Buch in Affoltern liegt. Eine liebte die Grammatik, in ihrem Fall war es die der finnischen Sprache, eine wunderte sich den schwedischen Namen entlang und sprach sie hübsch englisch nach. Was ist ein Satz hier in Visby. Die wichtigsten Einkaufsstrassen sind die Adelsgatan vom Söderport bis zum Wallérplats und die St. Hansgatan, beide jeweils mit überwiegend kleinen Läden, so ca. erinnere ich mich gelesen zu haben, Kleidung, Kunst, Souvenirs, mit Sportartikeln, mit Cafés, Restaurants, Imbissstuben. Weitere Geschäfte finden sich am Österväg ausserhalb der Stadtmauer. Da gehe ich gleich wieder hin, da gehe ich heute gewiss nicht hin, da muss ich diesen Morgen noch hin, bevor der Regen einsetzt, vermutlich der starke Wind etc. da gehe ich dieser Tage wieder hin, gleich muss ich hinaus und hin, eventuell erlausche sie das Glockenspiel, wenn Mittag ist. Morgens um acht Uhr erlausche sie die Klänge des Glockenspiels. Genau lausche sie auf die Klangreihungen abends zur genau täglichen Abendzeit. Mit den Füssen stimmt etwas. So Farhad Showghi. Ich umgehe die Baustelle, wundre mich über das Treiben der Grammatik, nehme den Weg, der innerhalb der Umfassungsmauer so leicht dahinhinkt. Der kleine Mann mit den freundlichen grünen etc. Augen grüsst heute gern Ich gehe niemandem entgegen, was mir dabei entgeht. Hier geht kaum eine vornübergeneigt. Starker Wind geht jeweils. Was ist mit Nennen. Einer Art Strandläufer den Weg abgeschnitten bzw. mit ihm geschritten unten beim Meer, ich auf den Kieseln, er in der Wiese unter den laublosen Bäumen. Nein, keine Elster, könnte sagen elsterfarbener Strandgänger, so Namen gebildet im Namenlosen meines Unwissens, möglicherweise weiterhin etc. Foto eines ebensolchen Strandläufers gefunden ein Bewohner der Galapagosinseln wie das wie wer wohin etc. Nichts von Scharen und kein Gedränge, vielleicht in eine andere Wagnis eintreten, so sie etc. einer Zeitverfugung mag sein ein Angebot um zu. Man sehe gerne zu, wie sich der Abend ins Meer also das Spektakel des Sonnenuntergangs geniessen, wir genossen, sommers, die Schau des Sonnenuntergangs, von der langen Bank aus, gleich erheben sich alle wieder, und wenden sich vom sonnenleeren Horizont weg, gehen, gehen, sie gehen stadteinwärts. Man denkt sich halt so manches aus für „und“ tiens ferme mon parapluie und ich lege meine Kleider jemandem auf den Esstisch im Ziegen-, also Zeitenflug Herzenserschöpfungen eines Bruders. Die Schafe hier zu Lande zeichnen sich durch ebenmässig graue Wolle aus. 

Setze Wettermethoden 

ein, bei versagendem „um zu“, täglich eine Alltäglichkeit, wir üben. Uns ein? Quatsch. Täglich eine Stunde üben, so geht die Regel, so geht gehen in passenden Schuhen. In zu den Belägen, den Strassenbelägen passenden, für die gesetzten Steine, die breiten und anstehende, für die kleinen Pflastersteine, für die steilen Treppen passenden Schuhen, weicher Auftritt, federnder Schritt des kleinen freundlichen Manns vom Rand einer Welt, ich muss jetzt, muss gleich weg, schlüpfe in die schweren, leichten Winterschuhe, gerade wieder passen sie, mag ein Kirchgang anstehen auf dieser Insel, finde aufspringende beinah schon Kirschblütenknospen, gelingender Wirrwindversuch, aprilisch, stecke mein Notizbuch weg, sie erkunde die Grammatik, so Kersti Juva in ihrem Falle ist es diejenige eines britischen Sprechens im finnischen und woher denn und was der deutschen Sprache die Vorsilben sind der finnischen etc., heute leicht bedeckter Himmel, kaum Wind treibt triftigen Grund. Sie liebe in Grammatiken, so Kersti Juva wiederum, englischen, britischen, finnischen, nachts, und nachts in jedem Fenster ein Nachtlicht scheint und über die Gasse in die gegenüberliegende Wohnung leuchtet. Das Gewürz eines Ortes entstehe im „und“. Einem Lichtstreifen hinterher, wie Flüstern, „das war einmal“. Vor dem Haus weiden zwei Elstern. Ihr Bau aus harten Zweigen zuoberst eher auf als in der Baumkrone schwingt weit aus im steifen Frühlingswind, während beinah unbewegt die kahlen Äste mit ihren kahlen Zweigen etc. 

Setze Wetter 

um in Methode, wie kann das gehen, wollte in den Morgen hinein schlafen. Car, n’est-ce pas, il pleut. Singe mir deinen Schlingsang, kann deinen Fliederschädel vor den Mauerflächen zwischen den hellen Fenstern nicht erkennen. 

Kaum 

etwas. Kaum noch Helle. Verbliebener Schutzraum flüstern, nicht wahr, nichts, beinah nichts, das Flügelschlagen eines Nachtvogels als ein kleines Rauschen vielleicht Lustgärtlein. Kaum Windstille. Die Luft muss, sagt sie, hier sehr rein sein, von Partikeln entblösst. Luft. Ein Flüstern, kaum noch. Früher Morgen, Sonnenaufgang. Morgenanbruch, kaum, vier Uhr noch kaum. Morgenstille, kaum Stille, nichts beinah, ein Nichts von Stille, wie das sagen, so sie dann gegen Mittag am Hafen. Wetter, sagt sie, was hier Wetter ist, „Wetter“ = „väder“, also hier ausgesprochenes Wetter, Inselwetter in Inselsprache, erschreckt sie (oder M. oder Tommy) dieser Nordwind, kalter Frühling, bodennah bloss, dieser Frühling hier, jetzt, blåsippor ruft sie, überzieht die ganzen Böden, wäre es Waldboden, wären es Leberblümchen, eine Ähnlichkeit postuliert zu Leberblümchen, hüpfender Cursor, Kaninchenkot also die Kügelchen, eine militärische Zone zu betreten fotografisch also vor dem Übertreten eines Verbots etc. dann wieder Scharbockskraut, im Gras, unter ähnlichen, behaupte Ahorn, provisorische Baumbenennung, Cursorblödheiten bewirken aleatorisches Buchstabengewimmel, dagegen die Pflanzennamen zu finden versuchen, mannigfaches Fragen, Erraten, Scilla, warum nicht, Primelgemenge, auch die pelzige Anemone, man hätte ein Feuer entfachen können, wäre hier jemand gegangen, sie postuliert alte Zeiten, in alten Zeiten, ein Mittelalter, eine Vorzeit, Vorfelder im Nachhinein, damaliges, ja, jetziges Jetzt, „und“ „um zu“, wir treten die Kiesel in die Brandung, einen, mehrere, in kleinem Rudel sind wir da und da und da, zwecklos, das Wörterbuch jetzt noch zu öffnen, ruft Wikipedia. Denn gewiss ist nur, dass färöische Wort veður von altnordisch veðr „Wetter, Witterung“ stammt. Die weitere Etymologie ist germ. *wedra-, *wedram „Wind, Wetter“; idg. *uedhro- „Witterung, Wetter“. Demnach ist es mit deutsch „Wetter“ urverwandt. So wanderten wir zu viert in Tarkowskijs Steppengelände beim Leuchtturm herum und sahen Fischer im seichten Wasser stillestehen. Einer erwähnte presque rien eine wusste nichts davon wir lauschten. Versuchten uns in Gegenwarten. Einmal fragtest du mich nach dem Sinn von Wetterworten in meinen Schriften, woraus ich eben vortrage die aufblühenden singenden Nordwinde, flatterte mich, also flatternde Stimmbänder mir gaukelte Gegenwart baumelst mich in Ungewissheiten. Doch diesmal habe ich dir neue Orte gefunden, sage ich zu T. oder M. oder L.,  und es ist anderer Frühling, weisst du, d.h. eher wie bei dir in den Bergen, was meinst du, Zeit. Diese hüpfende seufzende Zeit aus Raum geradeaus Fuss um Fuss gesetzt über asphaltierte Steppenhaftigkeit klirrte meinen Schlüsselbund man stellt hier kleine Lampen auf die Simse und Kommödchen hinter die Fenster zur Gasse und lässt sie die ganzen Nächte an. 

tiens ferme 

apropos sonniges Visby. Habe grad gesehen, wie mein springender Cursor wieder einiges anrichtet. So selbstverständlich ist es nicht, in dieser Jahreszeit ein Kaffeelokal geöffnet zu finden, denn vieles ist jetzt geschlossen, auch manche Restaurants sind zu, auch manche Läden, oder sie öffnen nur am Nachmittag, es ist sehr still, die Menschen sprechen leiser als im Sommer. Die Fähre wird jetzt, sieben Uhr 34, abgelegt haben. Die seufzenden Rahen wie sie sich paarten auf dem Wiesengrund die erregten und nachlässigen Strandläufer und dann piepsten horchte der Vogelsprache zu, lange Horchplauderei, stand im Plauderlauschen, freute mich komparatistisch der aufgeblühten Traubenhyazinthen im Schatten schlief etc. Warum nicht das Heulen der Kettensäge, ich erinnere mich dran, wie es aus dem Wald klang, während wir unsre Instrumente im Haus oberhalb Vira. Die andern verschriftlichten Vokalisen? Vögel? Vielleicht 1 Dohle? Bergdohle? Hier in Visby sind viele, jedoch nicht Berg-, Dohlen. Nein, laut nur vor dem Ohr, schreibst du, das muss eine Stechmücke sein. Die andern Buchstabenfolgen falls Vögel, weiss ich sie nicht zu benennen, sage ich zu meinen kaum erwachten Füssen. Hier gibt es Blaumeisen, Amseln, verschiedene Möwen, Elstern, Ringeltauben und auch kleinere Tauben, unseren Stadttauben ähnlich, ein Vogel, fast eine Bachstelze, ein elsternfarbiger Strandläufer dieser Name aus einer Namensversuchung im Unbekannten, ist von mir, sage ich rascher, möchte dich anfassen. Sah die die Waldböden schimmern lilablau von Blåsippar oder ins Rötliche gehende je nach Lichteinfall Leberblümchen, sah auf den Wiesen Flächen mit Scilla, andere mit Blausternen (M.), einer Art Anemonen, die unsern Buschwindröschen ähneln, so T. vet. Tommy möglicherweise in der Stadt erste Bäume mit dicken Knospen. Die Rosen an den Hausmauern sind schon weit mit der Entwicklung ihrer Blätter. Das zum Frühling hier mitten in der Baltischen See erstaunliche Beschreibungslust diesmal, Wollsocken, das ist ein Wettlauf gegen die Zeit Nebensatzablagerungen. Dir vom Grünen zu kosten etc. Wunschtraumhaftigkeiten des Buchstabenspringens was kann ich da Weisssternerblickerin betrachtete Abbildungen also antworte dir rasch als momentane Schwebefliegenbetrachterin die Klangrätsel sind schwierig zuerst dachte ich an eine Hummel, schrieb T. gestern. Stehe an füge mich dir in die Schlange der Wörter. 

 

Elisabeth Wandeler-Deck  (1939) studierte zunächst Architektur. Von 1972 bis 1976 studierte sie Soziologie und Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Nach einer Ausbildung in Gestaltanalyse begann sie mit dem Aufbau einer psychologischen Beratungsstelle für Frauen sowie einer Praxis in Zürich. Als Schriftstellerin pflegte sie nach ersten lyrischen Versuchen Ende der 1960er Jahre die Verbindung von Text und Musik. Sie arbeitete mit Komponisten und improvisierenden Musikern zusammen und realisierte bei Lesungen und Auftritten eigene Konzepte als improvisierende Musikerin (Vorlesestimme, Klavier, Gitarre). Sie war Mitglied der Gruppe Interco, gehört dem Improvisationsquartett bunte hörschlaufen an und beschäftigt sich auf verschiedene Weise mit Instant composing. Ab 1998 arbeitete sie im DamenDramenLabor (DDL) mit und entwickelte diverse Theatertexte. In Zusammenarbeit mit Urs Graf und Alfred Zimmerlin entstand 1993 der Film Die Farbe des Klangs des Bildes der Stadt. Für ihre schriftstellerischen, insbesondere ihre lyrischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Stipendien und wurde mehrfach ausgezeichnet.

NZZ Bücher am Sonntag 31-03-2018
Zwei Monate verbrachte die Zürcher Autorin Elisabeth Wandeler-Deck gegen Ende des Jahres 2007 In Kairo. Jeden Tag ihres Aufenthaltes dokumentierte sie akribisch mit einem Text und einer Fotografie. Bild und Text stehen daher in einem lebendigen Dialog. Die tapfere kleine Edition Howeg hat es nun gewagt, das Projekt, das ursprünglich nur für das Internet gedacht war, in eine Buchform zu bringen – und sogar in eine überaus anmutige: kleine Auflage, Klappenbroschur, Fadenhaftung, alle Exemplare signiert. Der bibliophile Band erscheint rechtzeitig zu 80. Geburtstag der Autorin, die uns auch als improvisierende Musikerin vertraut ist. Wolfgang Malte Fues, der von 1994 bis 2011 als Extraordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Medienwissenschaften an der Universität Basel wirkte, hat ein erhellendes Nachwort zu dem schönen Band beigesteuert.
Gundula Ludwig

Webseite der Autorin

edition taberna kritika

Beitragsfoto © Urs Graf

Tabea Steiner «Sienna Street 55»

Wir hatten für die Reise nach Armenien eine Flugverbindung mit längerem Zwischenstopp in Warschau gewählt, weil sie billiger zu haben war. Ich wusste bis dahin nicht viel mehr über Armenien, als dass die armenische Kirche ihren eigenen Papst hat, dass die Bagdadbahn nur kraft der Zwangsarbeit zahlloser Armenier gebaut werden konnte und dass man die Armenier im Zuge der verschiedentlichen Genozide ohne jede Nahrung in die Wüste getrieben hat, mit der Absicht, sie verhungern zu lassen, auch Kinder.

Wir haben die Sienna Street 55 nicht auf Anhieb gefunden, weil wir vom Hauptbahnhof her zuerst die falsche Richtung eingeschlagen haben. Im Bahnhofsquartier blitzte alle Augenblicke ein Mercedesstern zwischen den hohen gläsernen Neubauten und den breiten Prachtbauten aus Sowjetzeiten auf. Der Stern drehte sich immerzu im Kreis und schleuderte so das Sonnenlicht weit über die Stadt.

Nummer 55 ist ruhig gelegen, gleich neben einer Imbissbude, die sonntags geschlossen ist. Im Hinterhof haben Kinder gespielt, aber das Gittertor war verriegelt. Wir haben gezögert, diese Kinder anzusprechen, bis uns eins der Kleineren bemerkt hat, stehen geblieben und dann davongesprungen ist, um kurz darauf in Begleitung eines grösseren Kindes zurückzukommen. Sie haben uns gemeinsam gemustert, dann haben sie von innen den elektronischen Türöffner betätigt und uns nicht weiter beachtet.
Im Innenhof ist mir zuerst das gerahmte Bild des Papstes aufgefallen, das in einer Wohnung im ersten Stock hing. Dieser Papst, an den ich nur noch im Zusammenhang mit dem Papamobil und seinem einsamen Tod im Fernsehen denken kann, blickte nach draussen, in die Richtung der Imbissbude, die aber hinter einer vielleicht sieben Meter langen und drei Meter hohen Mauer verborgen blieb. Gütig blickte er hinaus auf diesen Platz, mir war, als schaute er aus seinen Gefilden zu uns zurück durch ein Fernglas, das die Zeiten auf einer winzigen Linse zusammenpresst.

Wenige Wochen vor dieser Reise war Claude Lanzmann gestorben, was mich daran erinnert hatte, dass ich Shoah an einem einzigen Tag geschaut hatte, als könnte man all das auf neun Stunden und diese neun Stunden auf einen einzigen Tag komprimieren.
In der letzten Szene des Filmes spricht ein Mann davon, wie er sich durch die Abwasserkanäle in das Warschauer Ghetto geschmuggelt und Botengänge erledigt hatte, hin und her. Nach seinem letzten Botengang hatte er keinen einzigen Menschen mehr angetroffen. Er schildert, wie er alleine in einem Hinterhof gestanden und geglaubt hatte, dass er nun der letzte verbliebene Mensch auf der ganzen Welt sei, zurückgeblieben, weil er alleine in den Untergründen unterwegs gewesen war, während alle anderen aus dem Ghetto abgeholt worden waren.
Jener Mann hatte das Ghetto wieder verlassen und war, auf welchen Wegen auch immer, von Claude Lanzmann aufgespürt worden, dem er schliesslich seine Geschichte der Einsamkeit erzählt hat.

Nachdem 1989 in Berlin die Mauer gefallen war, hatten sich die Amerikaner aufgemacht, um in Warschau an der Sienna Street 55 aus der ehemals kilometerlangen Mauer des Warschauer Ghettos einen Stein zu holen. Auf einer Tafel über der Stelle, wo der Stein herausgebrochen wurde, kann man nachlesen, dass dieser Stein heute im Kriegsmuseum in Washington ausgestellt ist.
Gebracht haben die Amerikaner Imbissbuden, die Fastfood herausreichen in Endlosketten.

Wir sind noch einen Moment vor diesem Mauerrest gestanden, den man auch in Amerika betrachten kann. Dann haben wir den Innenhof verlassen, den Kindern ein Dankeschön zugewinkt. An der Aussenmauer des Gebäudes an der Sienna Street 55 ist ein emailliertes Foto angebracht. Darauf ist eine kleine Schar abgebildet, aufgestellt in Reih und Glied, ausgerüstet mit Waffen, bereit zum Warschauer Aufstand vom 19. April 1943.

Am Gebäude gegenüber prangte hoch oben ein Plakat der Billiglinie Etam. Ein Model, auf eine geradezu aus der Mode gefallene Weise mager, warb für den Konzern mit dem Slogan The french liberté. Scheinwerfer waren angebracht, welche in der Nacht dieses ungeheuer grosse Modeplakat beleuchten; es musste weit über die Stadt sichtbar sein.
Es sind die gleichen Strassen und Gassen, die mit Licht geflutet worden waren, als die Mauer noch mehrere Kilometer lang war und als nach Einbruch der Dunkelheit, zur Nachtsperre, nur vereinzelt magere Gestalten über die Gassen und Plätze im Inneren des verriegelten Mauerrings gehuscht waren.

Wir sind zurückgegangen zum Bahnhof, ein Gebäude, dessen Standort und Stellenwert sich innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts mehrmals verschoben und verändert hat. Diesmal haben wir ihn auf Anhieb gefunden, haben Tickets für die Rückfahrt an den Flughafen gekauft, die Abflughalle erreicht, das Flugzeug bestiegen und sind wenige Stunden später in Jerewan gelandet. In der Dunkelheit der Nacht haben wir armenischen Boden betreten, dieses heisse, kleine, fruchtbare Land.

Tabea Steiner, 1981, studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern und hat sich in ihrer Masterarbeit mit der Wahrnehmung in zeitgenössischer Landschaftslyrik befasst. Sie ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Ihr erster Roman «Balg» erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese.

Webseite der Autorin

Am 25. Oktober 2019 liest Tabea Steiner aus «Balg» im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG. Gallus Frei-Tomic moderiert.

Karl Rühmann «Der alte Wolf»

Der Wolf entdeckte sie jedes Mal, lange bevor sie ihn sahen. Listig sind sie nicht, dachte er. Aber beharrlich.

Der Wald war sein Zuhause, er kannte Pfade, die andere für Dickicht hielten, und er wusste um Höhlen, die einem auch dann verborgen blieben, wenn man dicht davorstand.

Seine Verfolger hatten Hunde, die sich begierig auf jeden verdächtigen Duft stürzten und dann geifernd an ihren kurzen Leinen zerrten. Immer wieder musste der Wolf falsche Spuren legen. Er tat das mit Geschick und Gelassenheit. Aber er spürte deutlich, wie sehr ihn die Flucht ermüdete. Sein Fell wurde schütterer, sein Atem kürzer, seine Beine wurden schwerer.

Er verkroch sich unter die tiefen Äste einer Tanne und sah zu, wie seine Verfolger in die Irre stolperten. Wenn er nach ihnen spähte, brauchten seine Augen länger, um den Unterschied zwischen Jägern und Wanderern auszumachen.

Der Wolf empfand immer weniger Lust, die vertrauten Verstecke zu verlassen und neue zu suchen. Die Erschöpfung kroch an ihm hoch, legte sich auf seinen Rücken und drückte ihn Tag für Tag unerbittlicher auf den weichen Waldboden.

Ich muss weg von hier, sagte er sich. Irgendwohin, wo ich mich nicht mehr verstecken muss. An einen Ort, an dem Güte stärker ist als Niedertracht.

Er streckte sich, heulte ein letztes Mal auf und lief los.

Der Wolf wanderte viele Tage. Er erklomm dicht bewachsene Hänge, rutschte durchs tiefe Laub Böschungen hinab, und wenn ein Fluss sich ihm in den Weg stellte, suchte er nach Untiefen. Er überquerte sie, ohne sich umzusehen.

Der alte Wolf kam an eine Schlucht, ihre Wände fielen steil hinab. Doch er fand für jeden seiner Schritte einen Felsvorsprung, gerade breit genug für seine Pfoten. Unten überließ er sich kurz seiner Erschöpfung. Aber als das Mondlicht durch einen Felsspalt auf ihn fiel, sprang er auf und lief weiter.

Als er an einen großen See kam, hob er die Schnauze und versuchte, das andere Ufer zu erschnuppern. Der Duft war ein blasser Hauch, schwach und fremd, er franste immer wieder aus und seine Fäden verfingen sich im Schilf. Der See muss sehr groß sein, dachte der Wolf.

Dann sprang er.

Seither hat niemand mehr den Wolf gesehen. Manche behaupten, seine Spuren im Tiefschnee entdeckt zu haben. Andere sind sicher, sein Schatten sei in die große Höhle hinter dem Wasserfall gehuscht. Vermutlich ist der Wald dort, wo er schon immer sein wollte: in seiner Geschichte.

(Der Text ist auch ein gleichnamiges Bilderbuch, erschienen im Jungbrunnen Verlag.)

Karl Rühmann verbrachte seine Kindheit in Jugoslawien. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster, unterrichtete Deutsch und Spanisch in Skanderborg in Dänemark, wechselte in die Verlagswelt und arbeitete als Lektor und Lizenzmanager. Seit 2006 lebt er als freier Lektor, Literaturübersetzer und Autor in Zürich. Seine Kinderbücher sind in viele Sprachen übersetzt worden. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» (Rüffer & Rub) erhielt er ein Werkjahr-Stipendium der Stadt Zürich.

Webseite des Autors

Angelika Waldis «Bücher, Bücher – Notizen»

Der Schillerpreis 2019 geht an Angelika Waldis für ihren Roman «Ich komme mit»: Die Autorin erzählt eine ernste Geschichte mit raffinierter Verspieltheit und stupender Leichtigkeit.

27. Oktober 2018

Gestern hatte ich eine Lesung. »Schreiben Sie Ihre Bücher immer in der Gegenwartsform?«, fragte eine Zuhörerin. Oh je, das wusste ich nicht. Jetzt hab ich nachgeschaut: Tatsächlich, fast alles – bis auf die Rückblenden – habe ich im Präsens geschrieben. Weiß nicht warum, es ist nun mal so. Ich hab es mir gar nie sonderlich überlegt. Cäsar hat seinen gallischen Krieg, Joyce seinen Ulysses und Goethe seinen Erlkönig im Präsens angesiedelt. Aber der Großteil der Literatur steckt wahrscheinlich in Perfekt und Präteritum. Ab jetzt will ich beim Lesen mal besser drauf achten. Im Wechselspiel von Perfekt und Präteritum bin ich als schreibende Schweizerin manchmal etwas unsicher. Ein Präteritum gibt es im Schweizerdeutschen nicht. Niemand sagt »Ich ruumte sʼChuchichäschtli uuf.« Habe ich mich darum lieber ans Präsens gehalten? Wohl eher, weil es spontaner, direkter, lebendiger, aufregender daherkommt. »Wer ritt denn so spät durch Nacht und Wind …« Also das würde ja nun gar nicht passen.

18. März 2017

Kann mich nicht entscheiden, worüber ich schreiben soll. Den Wind, der den Bambus fiebrig macht. Den Himmel, der ausschaut wie zu meiner Kindheit, weil er grau ist und man keine Jetstreifen sieht. Den türkischen Präsidenten, der die Todesstrafe wieder einführen will. Die Kontaktliste auf meinem Handy, in der ich manche streichen müsste, weil sie gestorben sind. Die blauen Adern auf meinen Handrücken, die befremdlich dick geworden sind. Das Rufen der beiden Milane, die vielleicht auch dieses Jahr wieder in Sichtweite nisten. Die traurigen Briefe meiner Großmutter, die ein uneheliches Kind gebar und es nicht behalten durfte. Ja, worüber soll ich schreiben. Ich glaube, ich frag die Katz. Sie hat schon immer gewusst, was für die Katz ist und was eben nicht.

27. September 2016

»Hör endlich auf«, sagt die Katz, »so ungemütlich zu tun.« Vier Bücher knallen vor ihr auf den Boden, sie springt auf und setzt sich gleich wieder. »Was machst du da eigentlich«, sagt sie, »auf jeden Fall machst du Staub. Und warum stehst du auf der Leiter und stöhnst?« Ich sage ihr, dass ich Bücher entsorge. »Die Psychologie-Bücher und die Gedichtbände, verstehst du, Katz?« Nein, tut sie nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, warum wir Gedichte überhaupt erst in diese Dinger da reinschreiben und dann zum Lesen wieder hervorholen. »Wir dichten direkt in die Luft«, sagt die Katz. »Das ist viel effektiver.« Sie hat wohl recht. »Bitte, dichte was, Katz!« Sie überlegt und kratzt dann mit der Pfote etwas hinterm Ohr hervor: »Alte Freundin steht auf Leiter und weiß ganz und gar nicht weiter.« Das sei schön, sage ich, besonders die »Freundin«. Und besonders die Zeilenfall- und Interpunktionsangaben mit der Schwanzspitze. »Also«, sagt die Katz, »kommst du jetzt endlich ins Bett?«

31. August 2016

Heute früh war ich schwimmen. Die ersten paar Meter See lagen noch im Schatten, ich schwamm mit selbstverordneter Vorfreude möglichst rasch durchs Kühle hinaus in die Sonne, und dort genoss ich Zug um Zug die wunderbar glitzernde Fläche. So geht’s mir manchmal mit Büchern: Ich mühe mich ab mit ersten Kapiteln und plötzlich bin ich mitten in einer faszinierenden Weite und in einem wunderbaren Licht und kann nicht genug davon bekommen. Weg ist das anfängliche Frösteln, nur noch Lust ist da – und Spannung, weil man so viel Tiefe unter sich weiß. Es kommt auch vor, dass ich das Buch schon nach ein paar Seiten entschlossen zuklappe, weil es für mich zu kalt ist. Dann spritzt immer ein bisschen Beschämung auf.

15. Oktober 2015

»Hast du was Gutes gelesen?«, werde ich oft gefragt. Ja, hab ich. In dem großen Textschwall, den ich regelmäßig durchs Gehirn spüle, muss ja wohl was Gutes dabei sein. Aber wenn ein netter Mensch von mir einen Buchtipp will, bin ich meist hilflos. Ich denke: Das ist zu traurig für seine wacklige Seele. Oder: So viel Schmalz kann er nicht verdauen. Oder: Solche Stille erträgt er nicht. Oder: Ihm fehlt das Gehör für Bosheit. Es reut mich, Wallace Stegner oder Julian Barnes oder Gerbrand Bakker oder Per Petterson zu empfehlen, denn ich möchte nicht, dass jemand deren Bücher enttäuscht aus der Hand legt. Soll der nette Mensch doch selber sehen, wie er sich lesend befriedigt. Ist nicht meine Sache. Na ja, es gibt schon Namen, die ich unbeschwert weitergebe: Tschechow, Maupassant, Mansfield, Maugham – die alten Könner, ganz einfach gut wie Brot.

16. Juli 2015

»Betrachtest du deine Bücher als moralisierend?«, fragt mich ein Freund. »Nein«, sage ich. »Auch nicht im Versteckten?«, fragt der Freund. »Nein«, sage ich. »Ich halte anderen nur den Spiegel vor, mehr nicht.« Später denke ich: Anderen den Spiegel vorhalten ist durchaus ein moralischer Akt. Die Figuren in meinen Büchern sind Spiegel, die Lesenden können sich drin sehen. Können sehen, wie blöd, hässlich, verbohrt sie sind und handeln – ein unangenehmes Bild. Oder wie klug, schön, liebevoll sie sind und handeln – ein angenehmes Bild. Die Bilder implizieren: Sei so! oder Sei anders! Und somit bin ich im Grunde genommen eine Moraltante.

21. Januar 2013

Ich trage heute fünf Bücher in die Bibliothek zurück, es ist keines dabei, das ich gerne behalten möchte, das ich nicht vergessen möchte, es sind gut gemachte Sachen, aber man sieht ihnen das Machen an, und ich möchte beim Lesen das Gemachtwordensein, so gut es geht, vergessen. Wenn ich das kann, erhält das Buch meinen Segen: Geh hinaus in die Welt und verbreite dich und erschüttere die Leute mit deinem erfrischenden Geist und deiner uralten Seele, auf dass diese lachen und weinen, was sie aber nicht können, weil sie keine Zeit dazu haben, denn sie müssen weiterlesen, weiterlesen, weil du so spannend bist, du wunderbares Buch, geh von dannen und verbreite dich fortan.
Ich warte geduldig, bis ich wieder einmal auf so ein Buch treffe.

20. August 2013

Ich habe einen fremden Text überarbeitet, es ist das erste Kapitel eines ersten Buchs eines Freundes. Schau mal rein, hat er gesagt, und das hab ich gemacht. Ich kam mir vor, als sei ich allein in seiner Wohnung, nachdem er mir den Wohnungsschlüssel gegeben und gesagt hätte: Schau mal rein. Ich kam mir vor, als stehe ich in seiner Wohnung vor seinen Bildern und seinen Pantoffeln und seinen Kaffeetassen. Vor seinem Pyjama und seinem Testamentsentwurf und seinem Kopfabdruck auf dem Kissen. So stand ich in seiner Wohnung beziehungsweise in seinem Buch und war gerührt und belustigt und beschämt und verlegen. Und plötzlich überfiel mich die Lust, aufzuräumen, umzustellen, Platz zu machen. Ich verschob Stöße von Wörtern, halbierte Sätze oder warf sie aus dem Fenster, sammelte überflüssige Zeilen ein und schüttelte Fehler aus den Vorhängen oder zerdrückte sie böse. Ich konnte nicht anders. Einfach mal reinschauen, das geht nicht.

1. August 2013

Die Katz ist ein schlaffes Läppchen, liegt draußen im Schatten, die Welt ist gerade eben 32 Grad heiß, heute Abend werden die Feuer brennen, weil Heil dir Helvetia, und der Phlox blüht so blau, blau, blau wie der Enzian. Mein neues Buch hat nun 209 Seiten und fühlt sich gar nicht wohl, weil mein letztes Buch inzwischen erschienen ist und Lob erhält. Ich bin schlechter, sagt nun mein neues Buch, gib mich auf, wirf mich weg, sonst kotz ich dir noch über den Bildschirm. Was macht man da? Du und dein Buch, sagt die Katz, tut doch nicht so blöd, ist doch eh alles egal. Oder glaubt ihr etwa, ihr zwei, wegen euch finge ich an zu lesen? Was draußen knallt, ist eine Rakete, und noch eine. Andernorts knallt’s nicht aus Freudesgründen, in Syrien ist immer noch Krieg, nein, nein, die Schweiz schickt keine Waffen dorthin, sie schickt sie freundlich anderswohin, damit sie ein paar Umwege machen. Das ist etwa wie ein Paket, das man im Sommer losschickt mit dem Vermerk »Erst an Weihnachten öffnen«.

4. August 2013

Bestimmt muss man außerordentlich alt werden, bis einen eine Kritik nicht mehr trifft. Ich bin noch nicht außerordentlich, sondern erst ordentlich alt. Das heißt, ich zucke immer noch zusammen, wenn man mich kritisiert. Würde ich nicht mehr zucken, wäre ich tot. Wie schön ist das, dass ich noch nicht tot bin, dass ich spüre, wie Sonne ins Zimmer fällt, wie Phlox riecht, wie die blöden Tauben gurren. Ja, und da hat nun jemand geschrieben, in meinem neuen Buch gebe es Klischees. Zuck! Klischees sind genau das, was ich nicht fabrizieren möchte. Aber wahrscheinlich würde ich genauso heftig zucken, wenn es in der Kritik hieße, ich schreibe umständlich oder romantisierend oder ungenau oder langatmig oder salopp oder barock oder sonstwie nicht rundum gut. Irgendwas muss eine Kritik ja kritisieren, sonst ist es keine. Also muss ich damit leben zu zucken, solang ich noch zucken kann.

Die Notizen sind erschienen auf der Website www.angelikawaldis.ch unter dem Titel »Tage,Tage« sowie im Buch »Tausend Zeichen«.

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen. Ihr neuster Roman bei Wunderraum ist «Ich komme mit». Er wurde «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2019«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Peter von Felbert

Werner Rohner «Was bleibt»

«Licht im August» William Faulkner

Ich hab das nie verstanden: Sommerbücher. Leicht und luftig. Da hat man endlich mal Zeit am Stück um zu lesen, sich den Büchern ganz auszusetzen, dass sie über einen hereinbrechen, alles umkrempeln; und dann wählt man eines, bei dem man nach jedem halben Satz auf-, und aufs Meer schauen kann und trotzdem den Faden nicht verliert. Oder noch schlimmer, bei dem es gar keine Rolle spielt, ob man mal kurz ein paar Sätze abschweift. Dafür brauche ich doch kein Buch. Dafür reicht das Meer (und wie weit es reicht).
Wenn da aber kein Meer ist. Und trotzdem Zeit. Dann und drum: Licht im Augst. Faulkner! Das rückt einem den Kopf mal wieder zurecht. Weil es alles an sich bindet, das Licht eben, die Landschaft, das Leben und nicht selten den Tod. Und das mit einer Sprache, die mir beim Lesen permanent ein wenig Hühnerhaut verursacht, so fein und gleichzeitig mit einer Wucht, dass kein Gedanke mehr daneben Platz hat. Weil diese Sprache auch mich mit Gewalt an sich bindet. Und Gewalt ist auch im Buch selbst genug. Und kein Trost, kein bisschen; aber da ist mehr Leben drin als – da ist das Leben drin.
(übersetzt von Susanne Höbel und Helmut Frielinghaus)

Maggie Nelson «The Argonauts»

Da ist zuerst mal die Form. Im Amerikanischen läuft das unter Non-Fiction, bloß weil da jemand (nach-)denkt, ohne sich gleich mit der Figurenrede aus der Verantwortung zu stehlen. Und wie Maggie Nelson denkt! Kreuz und queer. Und gleichzeitig an ihrem Leben entlang erzählt, ihrer Beziehung mit Harry, seinem Sohn, wie dann noch ein neues Kind dazu kommt – und was das bedeutet, für die Liebe, für den Sex und eben fürs Denken. Wie sich das alles durch einander und durcheinander verändert. Viel auch über Kunst und Kunstbetrachtung. Über Alltag und Politik und Perversionen. Wie viele Nerven im Anus sich befinden und welche Beziehung wir zum Wort Radikalität finden könnten.
Es ist diese Mischung, welche die Theorie nicht vom Fiktiven trennt, ohne das eine immer gleich allzu offensichtlich das andere erklären zu lassen, die ich so toll fand. Die Spannung, die zwischen den Teilen entsteht. Man kann zuschauen, wie das Nachdenken über etwas gleichzeitig zur Erzählung über den Gegenstand wird. Und wie es Maggie Nelson gelingt, auf endgültige Schlüsse und Zuordnungen zu verzichten und gerade dadurch genau zu bleiben. Und wie emotional all das Denken ist und wie intelligent die Erzählungen vom Alltag. Und nicht selten habe ich mir bei der Lektüre gewünscht, dass mir dieses Buch jemand in der Schule zum Lesen gegeben hätte – ich glaube, es hätte mein Leben und Denken ein klein wenig freier gemacht.
(im Original)

Ben Lerner «10:04»

Immer mal wieder, wenn ich in einem Buch lese und irgendwas nicht stimmt – mit dem Buch oder mir – nehme ich 10:04 von Ben Lerner hervor, schlage irgendwo auf und es passt immer. So ein Buch ist das. Mit einer Geschichte, mit einer Dramaturgie, das auch, aber ich könnte es auch rückwärts lesen und jedes zweite Wort überspringen, irgendwas würde es immer noch in mir auslösen.
Es ist ein Buch, bei dem ich mich ständig frag, wie entscheidet der Autor, was alles dazugehört? Weil irgendwie alles dazu gehört, weil der Erzähler die meiste Zeit irgendwohin abschweift, in Gedanken und Geschichten (auch ein paar Bilder und bereits veröffentlichte Essays gehören dazu), um dann wieder irgendwo aufzutauchen und den Faden der Hauptgeschichte (der Freundschaft zu Alex, die ein Kind von ihm will, ohne unbedingt mit ihm zu schlafen) wiederaufzunehmen.
Und wie das dann auch noch immer etwas über unsere Zeit erzählt und dabei auch noch wirklich witzig ist. Ja, witzig und gleichzeitig ziemlich intelligent, eine Kombination, die ja nicht allzu oft vorkommt. Und ich frage mich, wie oft ich es noch wieder lesen kann, bevor es seine Wirkung auf mich verliert, oder inwieweit sie sich verändern wird. Und wann endlich sein nächstes Buch rauskommt.
(einmal im Original, oft übersetzt von Nikolaus Stingl)

Werner Rohner, geboren 1975 in Cala D’or. 2014 erschien sein Debüt «Das Ende der Schonzeit» bei Lenos. Der Roman wurde mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, war für das beste deutschsprachige Debüt beim Rauriser Literaturpreis nominiert und erschien 2017 auf Französisch unter dem Titel «Fin de Trêve» bei Les Editions de l´Aires.

https://lenos.ch/buecher/das-ende-der-schonzeit

Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht»

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.“ Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. „Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.“ Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: „Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.“

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. „Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben“, blitzt es Nino durch den Kopf. „Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.“

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. „Nehmen Sie Platz“, gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. „Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.“ Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. „Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.“ „Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.“ Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Franco Supino «Wie die alten Römer»

Sie war hübsch, schlank, weiblich und auf den zweiten Blick weniger jung, als er angenommen hatte.
Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen.
Nein.
Darf ich Sie ein ander Mal zu einem Kaffee einladen?

Er hielt sich für einen Mann ohne Plumpheit. Für einen, der so etwas nicht nötig hat. Wenn nicht irgendeinmal alle Frauen, die ihm in Reichweite schienen, vergeben oder verbraucht gewesen wären. Und ein Freund ihn nicht gefragt hätte: Wozu kaufst du eigentlich diese blöden Lotterielose, du weist ja, dass man nie gewinnt.
Ich glaube nicht ans Glück, sagte er sich. Aber an den Zufall. Alles ist Zufall.

Also begann der Glücklose hin und wieder auf gut glück Frauen anzusprechen. Ohne Not. Er war nicht ungern allein und nicht ungern ungebunden. Und er fühlte sich jung.
Das musste auch die schöne Mittvierzigerin spüren. Die sich noch nie von einem Wildfremden auf einen Kaffee hatte einladen lassen. Klar. Dafür hatte er einen Sinn. Sie hatte keinen langweiligen Mann und keine lästigen Kinder zuhause. Sie kam zurecht im Leben, auch ohne ihn.
Auf einen Kaffee?
Er gab ihr seine Nummer und war sich sicher, dass sie sich nicht melden würde.

Bald hatten sie alle Schranken überwunden und wurden ein Paar.
Dass es so gekommen war: Zufall! Glück!
Sie war auch für den erfahrenen Mann aussergewöhnlich. Ihr Berufsweg beispielsweise: Nach dem Abitur Schreinerlehre (weil sie keine Erwartungen als Tochter und Frau mehr erfüllen mochte). Dann Psychiatriepflegerin. Überstürzte Heirat mit einem genialen geisteskranken Fotografen. Vier Jahre Leidenszeit mit tragischem Ende. Flucht. Reisen. Zu Fuss durch Usbekistan allein als Frau. (Das ist ganz anders, als du dir das vorstellst. Was du vielleicht über solche Länder gehört hast. Absolut ungefährlich und vor allem herzlich, menschlich bereichernd). Zurück und unklare berufliche Ambitionen. Meeresbiologie nach zwei Semestern abgebrochen. Dann Jusstudium in Rekordzeit bis zur Promotion. Arbeitete jetzt für eine Menschenrechtsorganisation in Genf. Dass sie an dem Tag in dem Tram sass: Zufall. Sie hatte eine Gastprofessur an der Uni inne, meist fuhr sie am gleichen Tag zurück. Manchmal blieb sie über Nacht in einem Hotel und fuhr erst am Morgen. Die Mutter lebte in einem Pflegeheim ausserhalb der Stadt. Deshalb dachte sie darüber nach, sich hier eine Wohnung zu mieten und zu pendeln.

Sie sahen sich wöchentlich. Manchmal an Wochenenden. Als ihr Lehrauftrag auslief, überraschte sie ihn. Sie hatte für sich eine kleine Wohnung gefunden. Die in Genf behielt sie. Sie hätte auch bei ihm einziehen können, aber das wollte sie nicht.

Er fuhr nie zu ihr. Hatte keinen Sinn. Sie hätte keine Zeit gehabt. Sie war weltweit unterwegs, stark eingebunden. Imponierend. Und dass sie trotzdem immer wieder Zeit für ihn und ihre demente Mutter fand, herfuhr. Sie war ein Juwel. Er hat einfach Glück gehabt. Nicht das Millionenlos-Glück. Das einfache, unerzwingbare Glück.

Sie war auch deshalb schön, weil sie nicht perfekt war. Ihr Busen und ihre Pobacken hingen. Wenig, aber deutlich. Es machte ihn fast verrückt vor Lust.
Er hatte immer schönere Frauen gehabt. Sportlich, durchtrainiert, wie er. Noch nie fühlte er sich körperlich so angezogen.
Er erkannte sich nicht mehr. Er musste sich nicht rechtfertigen. Sie wies ihn nicht zurück. Auch wenn er ein zweites Mal. Ausser einer Spur Ungeduld, wenn es etwas länger dauerte, meinte er nichts wahrzunehmen.
Nicht dass er das Gefühl hatte, es mache ihr Freude, sie brauche das.
Es hätte demütigend führ ihn sein können. Anstrengend. Er war sich gewohnt gewesen, Frauen auf Händen zu tragen, und doch stets das Gefühl vermittelt zu bekommen, sich nicht genug zu bemühen.
Bei ihr war es nicht so. Sie fand etwas in ihm. Irgendetwas, das sie schätzte, brauchte und dass ihn keine Anstrengung kostete. Auch wenn er nicht wusste, was es war. Es war so. Was wollte er mehr? Wozu grübeln? 

Glück macht nicht misstrauisch, das weiss man. Wir passen einfach zusammen, sagte er sich. Glück macht blind und dumm? Von mir aus.

Einmal reiste er zu ihr nach Genf. Er verbrachte während einer UNO-Konferenz einen Tag in ihrer Nähe. Sie stellte ihn als Mitarbeiter vor. Sie nahm ihn zu Meetings mit. Acht zählte er bis am Abend. Es war ein sehr erfolgreicher Tag, bilanzierte sie spätabends. Zur Feier führte sie ihn in ein Sternelokal. Ich habe den ganzen Tag kaum was gegessen, sagte sie. Er schon. An jedem Meeting gab’s Essen und er langte immer zu. Sie liessen sich ein Mehrgang-Menu auftragen. Hummer, Kaviar, Gänseleber, Taubenbrüstchen. Einfach nicht zu viel von den leckeren Brötchen essen, sagte sie, sonst schläfst du schlecht. Und nicht zu viel Wein!
Er schlief misserabel. Er hatte viel zu viel gegessen.
Sie musste am nächsten Tag früh raus. Er wollte nichts Frühstücken. Er sah sie am Tisch sitzen und sich Brötchen schmieren. Ich fahre gleich heim, sagte er.
Vielleicht ein kurzer Spaziergang durch Genf?, schlug sie vor.
Vielleicht. Zum Jet d’eau. Den hat er noch nie gesehen.

Er betrachtete den Jet d’eau. Das Essen des gestrigen Tages lag ihm schwer auf.
Er sah und verstand.
Zufall? Nein.
Glück? Sicher nicht.

Als er zuhause ankam, fuhr er zu ihrer Wohnung und wühlte im Müll. Leer-Packungen von Fertigprodukten, Keksen, Schokolade.
Der Kühlschrank voll. Der Vorratsschrank voll. Der Tiefkühler voll.
Er entdeckte, was er längst wusste.
Bevor sie zu Bett kam, war immer sie immer als letzte im Bad, erinnerte er sich. Er hörte den Strahl plätschern. Das Würgen, wenn er vor die Tür stand. Erinnerte sich, wie er kehrt machte und sich wieder hinlegte. Und hörte, wie sie spülte und spülte.
Dass sie nach jedem Essen, auch auswärts, in der Toilette verschwand. Manchmal auch zwischen den Gängen.
Sie mache sich frisch, liess sie ihn glauben. Sie putze sich die Zähne. 

Er überlegte. Was mache ich jetzt? 

Er habe schon etwas vor, gab er vor, als sie das nächste Mal anrief und herfahren wollte.
Sie schlug vor, zusammen in den Urlaub zu fahren.
Er war einverstanden. Auch, dass sie ihn einlud.
Skiurlaub, eine Woche. Luxushotel mit Wellnessresort. Tolles Frühstück, Mehrgangmenu am Abend. Mittagessen auf der Piste.
Viel frische, kalte Luft. Viel Sex.
Seine Nerven wurden strapaziert.
Er schwieg, wenn sie nach dem Frühstück gleich wieder alles erbrach, was sie zu sich genommen hatte, und dann im Zimmer in einen vom Buffet geschmuggelten Apfel biss.
Eine Provokation?
Sie sah gut aus, sie war lieb, herzlich. Sie machte ihn verrückt.
Ach, dachte er, was soll ich tun? Sie im Klo überraschen? Blossstellen?
Er sah die Fäden im Klo, die der Magensaft hinterlässt, auch wenn sie zweimal spült und die Schüssel fest schrubbt. 

Zuhause nahm er sich vor, sie darauf anzusprechen. Wenn sie das nächste Mal herfuhr. Ganz sicher. Nur schon aus Respekt sich gegenüber. 

Er wolle mehr von ihr erfahren, sagte er.
Wie mehr erfahren?
Alte Fotos anschauen zum Beispiel.
Ok. Sie brachte Alben mit. Sie als Teenager.
Sie lacht auf vielen, hat verfärbte Schneidezähne.
Ja, die Zähne seien ihr Schwachpunkt.
Jetzt sind die Flecken weg. Wie ist das möglich?
Sie habe Magenprobleme. Seit jeher, sicher seit sie 13 ist. Magensaft steige oft in ihre Mundhöhle und greife die Zähne an. Deshalb habe sie sich Kissen auf die Zähne auftragen lassen. Dieser Aufbau helfe, die Zähne zu erhalten, und habe auch gleich noch kosmetische Wirkung. 

So lang geht das schon so?
Er sprach ruhig, ohne eine Spur von Vorwurf. Seit du 13 bist? Du musst zum Arzt, sagte er. Dringend.
Was meinst du? fragte sie.
Was wohl! Ich halte das nicht aus. Verstehst du? Das kann man nicht aushalten.
Du irrst dich. Sie lächelt.
Es ist ihm, als würde sich das nicht zum ersten Mal zu jemandem sagen. Als sei sie gut vorbereitet.
Ich habe dir doch erzählt, dass ich Magenprobleme habe. Von klein auf. Immer, wenn ich esse, habe ich dieses saure Aufstossen. Und dann muss ich ein bisschen was rausgeben. Aber nur wenig. Ich bin deswegen auch schon in ärztlicher Behandlung. Ich bekomme mein Problem zunehmend in den Griff, sagt auch mein Arzt. Glaub‘ mir.

Er hatte einen trockenen Mund.
Und was sind die leeren Packungen in deinem Abfall? Die vollen Vorratsschränke, die überfüllte Tiefkühltruhe? Er sollte etwas trinken. Er sagte nichts. Möchte er ihr glauben?
Es ist nicht, wie du denkst, sagte sie. Lachte auf. Ich brauche keinen Finger in den Rachen zu stecken und schon gar keine Gänsefeder wie die alten Römer. Sie schüttelte den Kopf. Ist das wichtig? Liebst du mich denn nicht mehr?
Er hat immer noch diesen trockenen Mund.
Ist vielleicht besser, sagt sie, wenn du heute Nacht bei dir schläfst.
Sie wird sich Töpfe aufsetzen, Mikrowelle einschalten, sie wird essen zubereiten, kiloweise, schlingen, wieder auswerfen, dachte er auf dem Heimweg. 

Reiche Römer, las er zuhause nach, sollen in ihren Villen eigentliche Vomitorien eingerichtet haben. Archäologische Nachweise fehlen allerdings. Man kann eher davon ausgehen, dass die alten Römer zum absichtlich herbeigeführten Erbrechen die Latrina verwendeten.

Franco Supino, geboren 1965 in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Studium der Germanistik und Romanistik in Zürich und Florenz. Heute lebt er in Solothurn und unterrichtet an der Pädagogischen Fachhochschule. Franco Supino erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Preis für Literatur des Kantons Solothurn 2001.

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Patrick Tschan «Der kubanische Käser»

Das wunderbarliche Leben und Lieben des Noldi Abderhalden

Es war nicht so, dass Noldi Abderhalden in dieser bitterkalten Winternacht im Februar 1620 freiwillig über die eisigen Trampelpfade auf den Chüeboden oberhalb Alt-St. Johanns aufgestiegen wäre, um von dort seinen ganzen Schmerz über dieses verdammte Tal hinwegzuschreien.

Nein. Die Heidi hatte ihn verlassen. Wegen dem Heiri Obderhalden.
Er war so stolz gewesen, dass gerade er die Heidi küssen und mit ihr gehen durfte. Wie ein Pfau war er Hand in Hand mit ihr die Dorfstrasse rauf und runter flaniert, unter den neidischen Blicken der anderen Burschen, die wie er fast täglich wegen der Heidi einen Ständer weggedrückt hatten. Geheiratet hätte er sie,  auf der Stelle – hätte er gekonnt, hätte er gedurft.
Aber, was eh nicht gut ausgehen durfte, war durch den Heiri bereits nach dem zweiten Gang am Ende der Dorfstrasse abgeklemmt worden.
«Komm Heidi», hatte er gerufen, und die Heidi hat die Hand vom Noldi losgelassen, sich beim Heiri untergehakt, sich zu Noldi umgedreht, ihm zugeraunt, der Heiri käme eben draus, im Gegensatz zu ihm, er solle jetzt ja nicht flennen, sondern zum kleinen Babettli gehen, die käme auch noch nicht draus, aber irgendwann kämen sie dann beide draus, und dann käme es schon noch gut für ihn.
Und so krümmte er sich jetzt dort oben auf dem Chüeboden vor Liebesschmerz mit einer Flasche saurem Wein im Kopf, beobachtet von Bär, Wolf und Gämsbock, tobte, schrie, stampfte, weinte und schluchzte so laut, dass sich Bär, Wolf und Gämsbock einig waren, dass nur Menschen sich so saudumm aufführen konnten.
Da er die Heidi doch schon ein gutes Stück weggetrunken hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich ausser Schreien und Toben dort oben wollte, und machte er sich daran, wieder vom Chüeboden hinabzusteigen, bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit und das einsetzende Schneetreiben, wählte im Suff zweimal die falsche Abzweigung, rutschte aus, landete unsanft auf dem Hintern, und da er auf dem blanken Eis nicht mehr hochkam, entschied er sich, in den Spuren der schweren Holzfällerschlitten auf dem Hosenboden ins Tal zu rutschen. Hei, da nahm der Noldi Fahrt auf, zog die Beine an und gab leichte Rücklage, nutzte die Schneewechten als Steilwandkurven, eine Tannenwurzel riss ein Stück Leder aus der Hose und dem Hintern und eine Eule stob aufgeschreckt in das ewig Gründunkle des Tannenwalds. Am Ende der Schussfahrt landete er geradewegs vor den Füssen eines Anwerbers für Reisläufer der von Plantas.
«Ha», rief der Anwerber, «da kommt ja einer vom Chüeboden geflogen. Schau, Trommler, ein stämmiges Exemplar von einem Alt-St. Johanner Sautreiber! He, was meinst du?»
Der Trommler antwortete mit einem kräftigen ‹Terrrräng›.
«Der wäre doch was, um gegen die vermaledeiten Bündner Protestanten, gegen den Jörg Jenatsch und Konsorten zu kämpfen. Was meinst du, Trommler?»
Terrrräng!
«Jörg Schnaps?», lallte Noldi und versuchte aufzustehen.
Der Anwerber drückte ihn zu Boden. Jetzt erst spürte er den stechenden Schmerz in seinem Hintern von all den blauen Flecken, Hautschürfungen und Rissen, die er sich beim wilden Ritt über Steine, Felsvorsprünge, Tannennadeln und -zapfen zugezogen hatte.
«Schnaps?»
«Schnaps!»
«Ja, was würde so ein daher gerutschter Sauhirt denn für Schnaps geben?»
«Kuhhirt!»
«Von mir aus. Also, was gäbe ein Kuhhirt für Schnaps?»
Terrrräng!
«Was würde denn so ein Herr mit Trommler wollen?», lallte Noldi dagegen.
Der Anwerber reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. «Deinen Todesmut.»
Terrrräng!
«Das ist alles?» Noldi versuchte, die helfende Hand abzuschütteln, und fiel dabei fast wieder um.
«Ja.»
Terrrräng!
«Und was, was … also was, was gibt den, den Schnaps?», brabbelte Noldi.
«Dein Kreuz. Hier. Für zehn Jahre.» Der Werber hielt ihm ein Blatt mit grossem Wappen und mächtig geschwungener Schrift unter die Nase, zog eine Feder aus der Umhängetasche und zeigte Noldi die Stelle fürs Kreuz.
Terrrräng!
«Zeig den Schnaps, du, du, du Seelenkrämer …»
«Voilà.» Der Anwerber zeigte auf den Trommler und dieser zog ein kleines Fässchen Schnaps aus seinem Beutel.
Noldi nahm das Fässchen, zog den Zapfen, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und ächzte: «Wuaah!»
«Veltliner.»
Terrräng!
«Gib … du, du Buhler, du.»
«Trommler!»
Der Tambour hob die Trommel hoch, der Anwerber legte das Blatt darauf und fragte Noldi scharf: «Name?»
«Noldi, du, du Leichenfledderer, du.»
«Wie noch?»
«Abderhalden, natürlich, du, du, Schnitter, du …»
Der Werber schrieb den Namen und Vornamen auf das Blatt, drückte die Feder in Noldis Hand, führte sie zur Stelle, wo dieser zu unterschreiben hatte, und machte dort drei Kreuze. Daraufhin nahm Noldi einen zu grossen Schluck Schnaps, prustete die Hälfte wieder hinaus und besudelte das Blatt. Der Trommler schrie «He!», der Werber nahm das Papier und wischte den Schnaps ab, und Noldi, ohne Stütze, fiel hin, krümmte sich, umschlang das Schnapsfässchen und entschied sich, nie mehr aufzustehen und für immer und ewig einzuschlafen.
Terrrräng! Terrrräng!
Er blieb liegen.
Terrrräng! Terrrräng! Terrrräng!
Er tat ein tiefer Seufzer.
«Wache!», befahl der Anwerber. Zwei mit Hellebarden bewaffnete Soldaten traten aus dem Dunkel der Nacht, hoben den Noldi hoch und schleppten ihn in einen Stall, wo sie ihn neben eine Kuh warfen.

Babettli, die das alles von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, stürmte, kaum waren die Soldaten wieder im Dunkel und Anwerber wie Trommler im Wirtshaus verschwunden, die Treppe hinunter, auf die Dorfstrasse und in den Kuhstall, in den sie den Noldi verfrachtet hatten.

Es war ein jämmerliches Bild, das sich ihr bot: ein verdreckter, blutverkrusteter Noldi, der sich an sein Schnapsfässchen klammerte und wirres Zeug stammelte. Die danebenliegende Kuh war so leibarm, dass sie trotz grosser Kälte nicht einmal dampfte.
Erfasst von Mitleid und ihr gänzlich unbekannten anderen Gefühlen legte sie sich eng an Noldis Rücken, begann sein Haar zu streicheln, sein Gesicht, seinen Hals, und irgendwie rutschte ihre Hand unter sein Hemd und von da – sie hatte wirklich keine Ahnung, welcher Teufel sie da ritt – in seine Hose, und da war das Ding, von dem alle sprachen, das sie aber noch nie gesehen, geschweige denn angefasst hatte.
Noldi stöhnte, spürte im Halbtraum etwas in seiner Hose, das sich wie ein Murmeltier anfühlte, weich, pelzig, warm, fettig, und von dem er hoffte, dass es ja nicht zubeissen würde. Irgendwann begann das Murmeli mit ihm zu sprechen, fragte ihn, wie er das finde, er antwortete, es solle weitermachen, aber einfach nicht beissen, es fragte, was er da mit den bewaffneten Männern gemacht habe, Zeugs verkauft, eben, antwortete er, was für Zeugs, er habe seine Todesverachtung verkauft, warum er dies getan habe, er sei halt so todesverachtend unglücklich, warum er denn so unglücklich sei, weil er die Heidi verloren habe.
Da biss das Murmeli dermassen zu, dass der Noldi sofort wieder nüchtern war, wie am Spiess vor Schmerz schrie, die Kuh darob verstört aufschreckte, ihm ein Huf an die Backe donnerte, derweil er noch einen Rockzipfel von dem weinend aus dem Stall stiebenden Babettli im Augenwinkel erhaschte.
Er krümmte sich noch mehr vor Schmerz, Liebeskummer und Suff, trank noch ein paar Schluck und schlief schliesslich ein, träumte von Murmelis und Heidis und Kühen und wurde am anderen Morgen durch einen kräftigen Fusstritt geweckt, in den eisigkalten Dorfbrunnen geschmissen und in die Uniform eines Söldnerregiments der katholischen Truppen der von Planta gesteckt.

Patrick Tschan, geboren 1962, lebt in Allschwil, Schweiz. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Patrick Tschan ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussball-Nationalmannschaft.

Am 27. März, um 19 Uhr, ist Buchtaufe im Literaturhaus Basel. Patrick Tschans neuer Roman «Der kubanische Käser» erscheint bei Zytglogge. Der hier veröffentlichte Text ist der Einstieg in den Roman.

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Urs Faes «Ins Schweigen reden»

Du bist allein im Haus, allein mit dem, was du jetzt ahnst, weißt und nicht annehmen willst: dass du nicht die grosse Liebe seines Lebens gewesen bist, sondern eine andere: Virginie. Oder einfach Ini. Sie und er, damals, und jetzt wieder. Schmerzt dich das?

Liebste Ini… so haben die Briefe angefangen. Das tönt zärtlich, vertraut, innig. Ja, innig ist das richtige Wort. Beeinander aufgehoben. Janek und Ini. Das tönt wie Hero und Leander. Des Meeres und der Liebe Wellen. Vom Winde verweht. Der grosse Gatsby. Janek und Ini. Wie die grossen Liebesgeschichten in der Literatur. Im Film.

Nicht grübeln. 

Eliane und Dorit kommen wieder. Sie lassen dich nicht im Stich. 

Jetzt bist du allein. In der Stille. In Gedanken. Im Schmerz. Das musst du mit dir austragen. Das nimmt dir keiner ab. Auch Eliane nicht.

Und Jakov?

Wo mag er sein? Auch allein? In einem Zimmer, das er nicht kennt? Ohne Worte für das, was ist. Fremd die Gesichter, die um ihn sind, die er nicht mehr erkennt. Irgend jemand könnte ihn besuchen, und er würde lachen, wie er immer Besuchern entgegengelacht hatte, freundlich, zuvorkommend, herzlich, ein zärtlicher Händedruck, eine sanfte Umarmung, ein gutes Wort. Jakov hatte für jeden ein gutes Wort, er war ein herzlicher Mensch, mit einem zärtlichen Blick auf die Menschen, auch auf dich. Vergiss das nicht. Wie liebevoll er sein konnte, fürsorglich, einer, der in den Augen der andern las, nicht nur ihre Wünsche, auch ihre Nachdenklichkeiten.

Und was ist mit diesem Kind? Jakovs Kind? Oder das Kind seines Vaters: Emily Mary Blumental. Ist Jakovs Vater der Vater oder der Grossvater des Kindes? Emily? Der Name ist nie gefallen. 

Du schüttelst dich, als könntest du abschütteln, was da ist, auf dir liegt, dir aufliegt.

Wie kannst du dich an Bilder halten, die nur eure sind, die Reisen, die vielen Reisen? Die Monate an der Baltischen See, Klaipeda, das Kurische Haff, das Ostseebad Cranz, eure Gänge durch die Birkenhaine bis zum Haff, in dem das Wasser im Sommer richtig heiss wurde, ein Dampfbad zwischen den Wanderdünen. Auch ihr habt eine Geschichte, du und Jakov. Aber du bist mit diesen Erinnerungen allein. In Jakov sind sie gelöscht, auch eure erste Begegnung im Rhein-Main-Flughafen. Auch eure Wanderferien im Bergell, das stundenlange Gehen, von Stampa über die Bogenbrücke der Maira und hinauf nach Coltura, zum Palazzo Castelmur. Jakov gefiel das Bild von Augusto Giacometti in San Pietro: Der Morgen der Auferstehung. Er buchstabierte das Wort: Risurrezione. Und er deutete auf das Epitaph unter dem Bild: Johannes und Magdalena. Ein Liebespaar, das aufersteht. Wer liebt, aufersteht. Jakov schien völlig fasziniert von diesem Gedanken und fotografierte das Bild zusammen mit dem Epitaph.

Langsam seid ihr dahingewandert, oft mit dem Blick ins Tal hinunter und hinauf zu den Bergen, den Piz Cam und den Pizzo Cengalo. In den Bergen war Jakov daheim, mountains home, sagte er, als wäre er in den geliebten Bighorn Mountains, wo ihr auf euren Ausritten dem Gros Ventre River gefolgt und hinauf auf die Spitze des Sleeping Indian Berges vorgedrungen seid, und ihr euch verloren habt im Hinunterblicken auf das Tal von Jackson Hole, an die Waipitis gedacht habt, die ihr auf eurer zweiten Reise, zum Schneeschuhfahren auf der Gros Ventre River Ranch, in der Nacht habt vor Hunger heulen hören, dieser unvergessliche Anblick: diese eng aneinander gelehnten Tiere im Schnee. 

Bilder, von denen Jakov nicht mehr spricht, die erdrückt und entrückt sind in ihm, vergessen, vergangen, versunken, in den Schutthalden seines Gehirns. Nur das ganz fern Erinnerte ist ihm noch nah, ein Frauenname, eine grosse Liebe.

Du bist allein mit euren Erinnerungsbildern, mit allem, was ihr gelebt habt: Du und Jakov, Herta und Jan. Das klingt nüchtern, alltäglich praktisch, zwei, die sich verstehen, sich arrangieren. Aber Janek und Ini, das bebt, das rührt an Traum und grosse Gefühle.

Du rufst allein eure Bilder zurück, kein „Weißt du noch, Jakov, die Gabelhorn-Antilopen unter den Laubbäumen im Boysen Park, nah am Ufer des Shoshoni, über dieser kleinen Bucht, in der das Schilf vom Licht angeblitzt wurde, ein heller Schein, gleissend hell…“. 

Nur bei dir ist das von euch Gelebte aufgehoben, euer Lebensbuch.

Ist das schon ein Nachruf? Jakov nachgerufen? Als wäre er schon nicht mehr da? Für dich ist er nicht mehr da, auch wenn er noch da ist. Gelöscht in Jakov, was dich, was euch betrifft, wie auf einem Bildschirm ein Text gelöscht wird, eine Melodie, ein Bild, ein Tastendruck und nichts mehr da, Leere.

Ini ist geblieben, erhalten, bewahrt, wie in Karneol unzerstört, zum unverhofften Wiedersehen, wundersam heil geblieben zwischen Gedächtnisablagerungen und Gehirnschuttverwicklungen, Denkhalden und Müllbergen.

Die Bildfolge Ini ist geblieben, lebt und atmet, weil die Liebe sie erhalten, stark gemacht hat, so stark, dass sie den Jahren trotzt, der Krankheit, dem Vergessen und Verlöschen, unsterblich ist, ewig.

Diese Vergangenheit ist geblieben und Gegenwart geworden. Janek und Ini, eine unsterbliche Liebe, das letzte Refugium eines verlorenen Gedächtnisses. Vielleicht wird sie auch bleiben, wenn Jakovs Gestalt still geworden ist, weil bleibt, was von der Liebe gebildet, getragen, unzerstörbar geworden ist. Weil die Liebe nicht vergeht, nie vergeht, auch  über den Tod hinaus? Ist es das, was uns antreibt, was in uns als Sehnsucht glüht, unstillbar? 

Auch dich hat das angetrieben, und du hast geglaubt, in Jakov diese Nähe gefunden zu haben, all die Jahre hast du das geglaubt. Du hast nicht geahnt, dass sie in ihm schon gefunden und verwahrt war und einen Namen trug: Ini.

Du wischst mit der Hand langsam durch die Luft, als wüsche deine Hand die Nacht, wüsche sie die Welt, wüsche herunter, was trübte, die Aussicht, die Fernsicht, die Rücksicht. Du musst sie waschen, die verwüstete Welt, die unter Schlacken, Ablagerungen siechende Welt da draussen; und die Welt in Jakovs Kopf, in Jakovs Gehirn, in Jakovs Gedächtnis, die wüst ist und fast leer, glanzlos geworden, stumpf, de-mens, von Sinnen, jetzt, erst jetzt verstehst du das Wort.

Du bist allein. Und wer allein ist mit den Erinnerungen und mit der wüsten Welt, der ist wirklich allein. So stehst du in diesem Korridor, so gehst du durch die Räume, greifst nach dem Halte-Tau an der Wand, das Jakov vom Schlafzimmer ins Bad und durch die Räume geleitet hat.
Du musst dich festhalten, dich anklammern am rauen Tau, gegen diesen Sturm, der weht, von einem verlorenen Paradies, von den Erinnerungen her, die dich aus dem Leben mit Jakov umweben und dem, was sie trübt: Janek und Ini. Du gerätst von Sinnen im Sinnen; wonach steht dir noch der Sinn?

Was kannst du dem entgegenstellen, was da weht, stürmt, heult, dich forttreibt?

Bleibt nur die Müdigkeit, und darin ein letzter Aufruhr, ein Dennoch, das schon nicht mehr trotzig, sondern nur noch ein Flügelschlagen ist, Einsicht?

Dieser Vers, den dir Eliane einmal aufgeschrieben hat, eine Frucht ihrer Theaterarbeit, als Trost gemeint, auch in der Bitterkeit: „Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar,/ Schatten, Worte, Wünsche, Taten,/ Die Gedanken nur sind wahr// Und die Liebe, die du fühltest,/ Und das Gute, das du tust;/ Und kein Wachen als im Schlafe,/ Wenn du einst im Grabe ruhst.// Possen! Possen! Andre Bilder/ Werden im Innern wach!“

Lachen über die Possenspiele des Lebens, zum Lächeln finden, zum Lassen, Loslassen, Zulassen, Ablassen?

Und einmal gelassen sein, Gelassenheit finden?

Und darin eingestehen, deine grosse Liebe war nicht, was du dachtest, war weniger, Schatten, ja ein Schatten, unter dem Schatten einer andern?

Und Jakov? Ist er jetzt leicht, zurück in der frühen Liebe, da wieder eingekehrt, darin jetzt gelassen, losgelassen von allem andern, von all dem, was lastet oder lasten könnte? Vom Leben?

Back home? War das nur diese im Kokon verwahrte Liebe?

Und du hast geglaubt, das gelte dem Heimweh nach den Weiten Wyomings, den Wäldern des Teton, dem gewundenen Lauf des Snake River, den kleinen Seen um Boulder Flats. Es hat, ohne dass er es nennen konnte, nur ihr gegolten, Virginie, der frühen, der grossen Liebe, nach der ihn ein Sehnen verzehrte; das war der Heart Lake, in dessen Wasser er getaucht ist und darin weiterschwimmt.

Hast du ihn für den genommen, der er gewesen ist, den versprengten Reiter, einer, der immer ein Reisender gewesen ist, einer, der von irgendwoher kam und nach irgendwohin aufbrach, getrieben von der unbestimmten Hoffnung, es gebe irgendwo eine Ankunft, beschlichen von der Ahnung, keine Ankunft zu finden. Vielleicht war es diese unbestimmte, diese unstillbare Sehnsucht, die ihn antrieb, die ihn reisen liess und nur einen Namen hatte. Vielleicht hat ihn das letztlich auch seine Statistiken schreiben lassen, dieser unbestimmte Leerraum, in dem alles entschwunden schien, in dem es keine Gewissheit gab, in Fülle verfügbar war nur der Mangel, der Mangel an Selbstgewissheit, an Heimat und menschlicher Bedingung in der Welt. Hat ihn dieser Mangel angetrieben, nach den früh erfahrenen Toten, der Mutter, von Virginie, von Ken, vielleicht auch von Emily? Und die immerwährende Angst vor Verlusten, immer neuen Verlusten, auch von dem, was man ist und lebt? 

Du zitterst. Du sagst so oft vielleicht? Vielleicht, weil du so wenig weißt, mit Gewissheit weißt: von Jakov, von dir selbst. Auch du hast Angst. Nichts ist sicher. Nur das Gefährdetsein, auch in der Liebe, die fragile Aussicht, den Alltag halten zu können, wenn überhaupt. Kannst du es noch? Noch weiter? Immer weiter? Gehen. Gehst du noch, oder stehst du?

Du gehst durch die Wohnung; durch die Ratlosigkeit gehst du, deine Ratlosigkeit. Deine Schritte widerhallen, dumpf patschend auf dem Parkett, ein Eichenparkett, hohl klingt das, als wäre alles hohl unter dir, voller Leerräume, mit Geheimnissen und Untaten, voller Archive, die jemand angelegt hat, von deinen Wegen, Schritten, deinen Sehnsüchten, das ist abgelegt in Schachteln und Mappen, du brauchst sie bloss zu öffnen, einzutreten in die Archive, in dir, unter dir, Archive, tief in die Erde hinein, unterkellert ist das alles, immer neue Räume mit Dokumenten, Mappen, Statistiken, die alles enthalten, was dich angeht, die infragestellen, was du empfunden, was du entschieden, was du gesprochen hast. Überall Papiere, Virginie-Papiere, Jakov-Papiere, Eliane- und Dorit-Papiere, alles ist voller Papiere, Buchstaben, Zeichen, Schriftzeichen, Wandzeichen, Menetekel. 

Soviel an Spuren aus einem Leben, soviel an Zeugnissen, Leidenschaften und Leiden, an Glück und Scheitern, an Ahnungen und Vermutungen, und so wenig an Gewissheit, an Klarheit, selbst da, wo Zahlen und Namen und Daten sind, so flüchtig, so undurchschaubar, so dämmerhaft und unzugänglich bleibt, was einer gelebt, du, Jakov, Ini.

Du gehst, und von draussen fällt jetzt das Licht herein, fällt auf den Boden, stumpf, dumpf, wie die Schritte, die du machst, behutsam, ängstlich. Dünn ist die Kruste über diesem Hohlraum unter dir, das Echo verrät es, das ist hohl da unten, du kannst jederzeit einbrechen, durchbrechen wie durch das Eis auf dem See, das voller brüchiger Stellen ist, die nicht tragen, die dich in die Tiefe fallen lassen, in die Archivschächte des Erdachten, mit den Schachteln des Erinnerten, mit den Statistiken deiner Irrtümer, Irrwege und Irrfahrten, mit diesen Papieren, Virginie-Papieren, Jakov-Papieren, mit den Rechnungen, Statistiken, Zahlen, alles ist voller Zahlen, als zählten nur noch die Zahlen.

Dieser Text, den mir Urs Faes freundlicherweise zur Verfügung stellt, ist ein erster Blick in seinen neuen Roman.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Er ist einer der Grossen der Schweizer Literatur. 1983, vor 35 Jahren, erschien sein erster Roman «Webfehler» bei Lenos. 1989 wechselte er zu Suhrkamp und veröffentlicht dort seit 30 Jahren Romane und Erzählungen. 2017 erschien «Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch» in dem er seine Erfahrungen mit einer schweren Krankheit mit der Geschichte seiner Herkunft verwob. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis. Zuletzt erschien in der Insel Bücherei die Erzählung «Raunächte».

«Urs Faes’ Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.«

Rezension von «Raunächte»  auf literaturblatt.ch

Rezension von «Halt auf Verlangen» auf literaturblatt.ch

Urs Faes im Logbuch von Suhrkamp

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ekko von Schwichow

Hansjörg Schertenleib «Der Stich»

Er sitzt allein an einem Tisch im Biergarten und versucht, sich mit der Hitze zu arrangieren. Überzeugt davon, nicht beobachtet zu werden, lehnt er sich auf dem Stuhl zur Seite und legt die rechte Hand auf den Stamm des Baumes, dessen Blätterdach das Abendlicht filtert. Die vernarbte, stellenweise von tiefen Rissen aufgesprengte Rinde des Baumes fühlt sich an wie die Haut eines uralten Tieres, fällt ihm ein. Er riecht an seinen Fingern und denkt seltsamerweise an Rossseich. Greift Wind in die Äste, blitzen Lichtsicheln über die Tische, das Kies, und die Gesichter der Gäste. Rossseich! Was für ein Wort, er hat es lange nicht mehr gedacht. Er reagiert hektisch, ja panisch auf die Wespen, die über den Gastgarten herfallen, nervös auf- und absteigen, hektisch Runden fliegen, Achten, Ellipsen, oder wie schwankende, schwere Transporthubschrauber an seinem Tisch auftauchen und nicht einmal mit wedelnden Händen vom Kurs abzubringen sind. Gelegentlich schliessen sich die Wespen zu Kampfgeschwadern aus vier, fünf Insekten zusammen, die im Verbund anfliegen, vor seinem Gesicht in der Luft stehen bleiben und nur in die Höhe steigen, abdrehen und ein anderes Glas, einen anderen Teller anfliegen, wenn er mit beiden Händen fuchtelt und laut schimpft. Die Gelassenheit, die Wespen nicht zu beachten, geht ihm ab.  Es gibt nicht viele Tiere, die er nicht mag: Schlangen, Aale, abgerichtete Hunde, Wespen.

Von seinem Tisch geht der Blick über ein aufgebocktes Boot hinweg auf einen Kanal, auf dem manchmal, geräuschlos wie in einem Traum, Paddelboote vorbeigleiten. Am Himmelsausschnitt über seinem Kopf jagen Schwalben, das flaschengrüne Wasser des Kanales spiegelt Büsche, Bäume. Ein Junge steht unter einem Baum am Ufer des Kanals und drischt mit einem Stecken auf die Blätter eines herunterhängenden Astes ein, um sie zu zerfetzen. Warum steht er nicht auf und greift ein? Weil er keine Lust hat auf eine Auseinandersetzung mit dem Mann, wohl der Vater des Jungen, der auf der Treppe sitzt, die zum kleinen Bootshafen des Hotels führt, raucht und das Kind stolz anlächelt. Eine Krähe stösst ihre knarzenden Rufe aus, in irgendeinem der Bäume über ihren Köpfen, höhnisch, anklagend, ein Verbündeter im Geäst? Er lebte mehr als zwanzig Jahren in Irland und hat gelernt, Landsleute treffsicher zu erkennen. Um zu wissen, dass das Paar, es sitzt zwei Tische entfernt von ihm, wie er aus der Schweiz stammt, müsste er deshalb gar nicht hören, welche Sprache sie sprechen. Er bräuchte dem Mann also nicht zuzuhören und tut es doch. Wie viele Männer aus seiner alten Heimat sich doch über ihre Zeit im Militär definieren! Das Gesicht des Mannes strahlt, die Episode aus seiner Rekrutenschule, wie viele Jahre mag sie zurückliegen?, macht sein Gesicht frisch, der schön geformte Mund der Frau dagegen wird schmal, wird Strich. Der Mann, er scheint von Satz zu Satz jünger zu werden, erzählt von einer Velofahrt, die seine Kameraden und er in der drittletzten Woche der Ausbildung durchzustehen hatten, hundertachtzig Kilometer auf dem schweren Waffenrad, ohne Licht, ohne Lärm, die dreissig Kilogramm des Sturmgepäcks am Rücken, Rad an Rad über den Julier, ohne den Hintern aus dem Ledersattel zu heben, denn das war streng verboten. Als sie endlich auf der Passhöhe ankommen, befiehlt ihnen der Major, abzusteigen. Der Russe, behauptet er grinsend, hat Nägel gestreut, was die todmüden Rekruten um die herbeigesehnte Talfahrt betrügt, da sie ihre Velos, um den imaginierten Nägel zu entgehen, den langen Weg talab schieben müssen. Der Mann hat sich ins Feuer geredet, das Gesicht der Frau verrät, sie hat die Erinnerung zu oft gehört, um Bewunderung oder wenigstens Interesse zu heucheln. Der Mann räuspert sich, wirft die Stoffserviette auf den Tisch, steht abrupt auf und verschwindet mit steifem Gang in der Gaststube. Die Welt, sie ist ein Jammertal, denkt er und sieht die Rekruten vor sich, die die Phantasie ihres Majors verfluchen und sich doch danach richten, indem sie verstohlen nach Nägeln Ausschau halten. Die Hitze, die wie eine Glocke über dem Spreewald steht, zwänge meine früheren irischen Nachbaren in die Knie, weiss er, und greift nach der Serviette, um sich den Schweiss von den Unterarmen zu wischen. Dass sich eine Wespe in der Serviette verbirgt, begreift er erst, als er damit über die linke Ellbeuge streicht: es ist mehr als vierzig Jahre her, seit er das letzte Mal von einer Wespe gestochen worden ist; der jähe Schmerz schlägt die Brücke in seine Jugend. Der Stich brennt wie Feuer, wird zündrot, schwillt aber bloss leicht an. Ist er allergisch? Er zerdrückt die Wespe mit der Serviette, beugt den Arm, auf, zu, auf zu, bemüht, ruhig zu atmen und auf keinen Fall in Panik zu geraten. Die Frau am Nebentisch sieht ihn aufmerksam an und gibt seinen Blick erst frei, als er beruhigend lächelt und den Kopf schüttelt. Damals hat er jedenfalls nicht allergisch auf den Stich reagiert; er war barfuss über die Wiese hinter dem Elternhaus seiner Mutter im Salzkammergut gegangen, in der, von Vogelschnäbeln malträtiert, von Wespen umschwirrt, Birnen lagen, und mit dem linken Fuss auf eine Wespe getreten. Er hatte über die Wiese gehen wollen, um Helga zu küssen, das erste Mal überhaupt ein Mädchen zu küssen, Helga, das Nachbarmädchen, das im Dämmerlicht des Schopfes auf ihn wartete, in dem sein Onkel nach Schichtende in der Saline Liebes- und Jagdszenen in Knöpfe und Gürtelschnallen aus Hirschgeweihen schnitt. Helga, das Mädchen, das bellend und abgehackt lachte, als amüsiere es sich über etwas, das überhaupt nicht lustig war, Helga, das Mädchen, das seinen gestochenen Fuss massierte, bevor sie ihm beibrachte, wie man küsst, richtig küsst, auch wenn man sich nicht liebt, Helga, die mit 22 Jahren unter den Zug ging, hundert Meter vom Bahnhof in Bad Ischl entfernt, Helga mit den Sommersprossen und den dicken gelben Zöpfen, nach denen er griff wie nach Seilen, weil sie ihm den Halt gaben, den er sonst nirgends fand. Er hat den süssen Moderduft der faulenden, gärenden Birnen in der Nase, den der Wind nachts in sein Schlafzimmerchen unter dem Dach trug, das er mit seiner Schwester teilte, spürt den damaligen Stich in der Fusssohle brennen, während er den Stich in der Armbeuge, den er eben erhalten hat, massiert. Er glaubt, Helgas Lippen zu spüren, beschliesst, ein weiteres Glas von dem Grauen Burgunder zu trinken und schliesst die Augen, um in der Vergangenheit zu weilen, bis der Kellner an seinen Tisch tritt.

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Rezension mit Interview von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch

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