Bert Strebe «Von dir, von mir»

Für dich

 

du bist den ganzen weiten weg gekommen
mit deinen seidigen wörtern und der erde an den sohlen
und mit der eisenbewehrten scherbe
die du in deiner linken herzkammer verwahrst

ich habe ein kissen gefüllt mit gras und blüten
und die schafwolldecke liegt bereit

der wind zerrt an der stadt doch das muss uns nicht kümmern
lass dein fieber einfach auf dem esstisch liegen

ich wärme deine füße du trägst meinen ring

***

 

Für jeden einzelnen Tag

 

es gab keinen anfang und es gibt kein ende 

du hast mich angeschaut und meine hand berührt 
ich habe wasser geholt für dich
wir haben geatmet 
wie am tag zuvor

und es war wie zuvor bloß eine winzigkeit leichter
und seitdem ist das so an jedem einzelnen tag

du gehst deinen weg und ich gehe meinen
und keiner von uns geht vom anderen fort

***

 

Für unsere Eltern

 

zwischen den müttern liegen fast fünfzehn jahre
zwischen den vätern zwei tagesreisen

sie haben unsere knochen gefügt und uns die augen gefärbt 

sie haben uns unser alleinsein zugeteilt

und alles was das alleinsein heilt

jeden morgen noch vor der dämmerung
beugen sie sich über uns

dann gehen sie und trösten den traurigen tod
dass er sanft wird und schwebend wie schnee

***

 

Für unsere Kinder 

 

wir haben federn unter ihre herzen gelegt
und ihnen felsen an die füße gebunden

wir haben ihre adern einzeln ausgewaschen
und jede träne für sie vorgeweint

wir wollten sie nicht beschweren

aber wir haben es getan und sie sind gewachsen

sie haben in unserem atem geschlafen 
so lange bis es ihr eigener war

wenn sie die augen schließen sind wir da

***

Für Scott

 

er hat sich nach den ersten drei nächten 
sein ganzes weh aus dem fell geschüttelt 
und hat es unter dem fußboden vergraben

von da an hat er mein weh getragen 
und ein stück von deinem

und als ich nicht bei mir war war er bei mir
und als du nicht bei dir warst war er in deinen träumen

wäre er nicht da wäre ich nicht mehr da
und du wärst hinter den rippen wund

***

 

Für die Engel und die Frierenden

 

dies ist für die die millionenmal zuhören mussten
für die die von ferne gedichte geschickt haben
für die die balsam in den nachtwind gemischt 
und rote streifen an die wolken geklebt haben
dies ist für die engel 

und die die schwiegen und ihre kalten arme verschränkten
die bekommen ein lächeln 

dies ist für die die da waren wo ich nicht war

dies ist für die die da waren wo du nicht warst

***

 

Für den Bussard, der am Morgen des 25. Juli 2015 auf der umgestürzten Eiche im Warper Wald sass und sitzen blieb

 

ich hätte ihn beinahe berühren können

aus seinen augen rieselte ruhe 
auf blatt und halm und borke und mich

einmal hob er die gelbe kralle 
da muss er die angst erwischt haben 

dann zog er sich plötzlich luft unter die schwingen
und die federn vibrierten und der wald fiel in schweigen

doch er faltete die flügel und legte sie zurück
und sagte deinen namen und sagte dass er bei mir bleibt

***

 

Für mich

 

dass ich immer blumen auf den tisch stelle 
dass ich eine kerze anzünde zum essen
dass ich das kreuz mit dem brotmesser schlage
dass ich das licht durch den tag wandern sehe
dass ich das leben achte 
auch meins
das habe ich von dir gelernt

und dass ich nicht mehr traurig bin
von mir

***

 

Für uns

 

komm wir gehen ein stück und schweigen

dann gehen wir noch ein stück und schweigen wieder

dann reden wir dann biete ich dir meinen arm 
und etwas später stehen wir 
und halten uns 

dann ziehen die wolken und von diesem moment an
wohnt die sonne in dir in mir

jetzt können wir schlafen und wieder wach werden
und tanzen und zu hause sein

***

Bert Strebe, geboren 1958 in Hunteburg, zu Hause in Hannover. Jahrzehntelang Redakteur, vor allem bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Erster Gedichtband 1999 bei Eric van der Wal, seitdem literarische Veröffentlichungen in unregelmässigen Abständen. Aufsätze, Reportagen, Porträts für die Zeitung.

René Frauchiger «Gespräche und Geschichten»

Die Gabel

Er schneidet sein cordon bleu, sie stellt das Weinglas wieder auf den Tisch. «Weisst du, Mari, ich weiss eigentlich gar nicht mehr, wie du aussiehst», sagt er. «Ich sehe dich da und sehe dich auch nicht. Wenn ich auf deine Wangen sehe, denke ich immer nur, ich sehe wieder die gebleichten Küchenwände unserer ersten Wohnung im Schangnau, als ich Möbel ausgeliefert habe für den Steffen. Am Abend sind wir am Küchentisch gesessen und unter der Lampe hat alles dieselbe Farbe gehabt. Deine Wangen hatten den matten Schimmer, wie die Wand hinter dir. Und diesen Schimmer sehe ich jetzt noch auf deinen Wangen, da kann man nichts machen. Und deine Augen, das sind die Augen vom Sean. Das sind Kinderaugen für mich. Sie sagen mir immer, wie er hat Landschaftsmahler werden wollen und du stolz auf ihn gewesen bist und ich nur gemeint habe, dass man damit kein Geld verdiene, auch wenn er Talent habe, was ich nicht beurteilen könne. Dabei haben mich die Augen vom Sean zuerst an deine Augen erinnert und nun ist es umgekehrt. Und bei deiner Stirn ist der Huttwiler Wald, wo wir uns immer gestritten haben, das Moos an den Bäumen, wo du deine Stirn daraufgelegt hast und immer, wenn ich gedacht habe, dass du weinst und ich dir einen Arm um die Schultern gelegt habe, hast du zu wüten angefangen und mich beschimpft und auf deiner Stirn ist noch etwas Moos gewesen, was du nicht weggemacht hast. Und bei deinen Haaren sehe ich wieder die Scheiben meines Alten VWs, die innen sich beschlagen haben im Winter, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, weil deine Eltern mich dich nicht besuchen lassen wollten und wir uns draussen getroffen haben, auch im Winter und deine Haare sind über die Scheibe geglitten und feucht geworden und du hast dich geekelt vor dem feuchten Haar, dass ich dich nicht mehr habe berühren dürfen an dem Abend. Aber wenn ich deine Lippen ansehe, dann sehe ich auch meine Wohnung in Aarwangen, wo du nie gewesen bist, den Velourteppich der Wohnung, ich weiss nicht weshalb. Damals als wir uns getrennt haben für zwei Jahre und du mit diesem Basler zusammen warst. Da bin ich oft auf diesem Velourteppich geschlafen, weil mir das Bett zu leer gewesen ist und mein Gesicht ist am Morgen wund gewesen von diesem Teppich. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich deine Lippen ansehen. So ist das: Bei den Wangen die Küchenwände in Schangnau und bei den Augen die Augen von Sean und bei der Stirn das Moos im Huttwiler Wald und bei den Haaren die feuchten Scheiben vom VW und bei den Lippen der Velourteppich. Eigentlich ist es nur dein Hals, an dem ich nichts sehe, als deinen Hals, den ich immer gern geküsst habe und der mir schon aufgefallen ist, als du mich nicht beachtet hast und ich neben dir gesessen bin und mich nicht getraut habe dich anzusprechen.»

Im Oltner Restaurant lächelt sie, streicht kurz über seinen Handrücken und nimmt wieder ihr Besteck auf. Sie bemerkt wie er erneut auf ihre Wangen sieht, auf ihre Stirn, ihre Augen, ihre Haare, auf ihren Hals, und sie schiebt ein Stück des cordon bleus an den Tellerrand, sticht mit der Gabel hinein. Sie mag kein cordon bleu und bestellt es immer nur, weil er es mag und sie ihm sagen kann, dass sie satt sei und ob er nicht den Rest noch möge. Sie nimmt mit dem Messer den heruntergelaufenen Käse auf und streicht ihn auf das Stück Fleisch an der Gabel.

 

Wunderschön

Matthias Hauser ist blind, doch seit seiner Kindheit fotografiert er jedes Ereignis, welches ihm wichtig scheint, lässt die Fotos entwickeln und klebt sie in ein Album. Bilder des ersten Schultags, der ersten Liebe, der Reise nach Marokko. Auch wenn er nicht sehen kann, meint Matthias Hauser, so sehe doch die Kamera für ihn und nichts ginge verloren. Trotzdem hat er seine Bilder noch keinem Menschen gezeigt, aus Angst, es könnte nicht das darauf sein, was er sich vorstellt. Als Matthias Lisa kennenlernt, sie sich verlieben und bald heiraten wollen, holt er an einem Abend ein erstes Mal sein Album hervor. Lange und schweigend blättert Lisa durch die Bilder, bis sie zu ihm sagt, sie seien wunderschön.

 

Kurz vor Olten

«Hey Peter, ja, ich bin’s … stör ich dich? Nein, ich bin im ZUG. … Gut … nein, kein Stress.»
Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Ein dicker Mann schläft mit offenem Mund.
«Hab vorhin auf dem Perron gewartet, und mir überlegt: wie lange ist es her, seit ich eigentlich mit jemandem geredet hab. Wirklich, also so richtig geredet … man spricht viel, wenn der Tag lang ist, aber nicht richtig … Was ich sagen wollte, Peter … In der letzten Zeit kommt es mir vor, als wär ich … wär ich allein. Ich weiss, das klingt komisch, wenn jemand wie ich das sagt. Ich habe ja nie Mühe auf Menschen zuzugehen, da kenn ich nichts, und bei meinem Beruf, da lernt man immer neue Leute kennen und in Langenthal kennt mich die halbe Stadt und … und die Vereine und die Projekte. Aber weisst du, Peter, ich … Ich fand das komisch, als ich mir das überlegt hab und ich hab mir gedacht: das müsse etwas Anderes sein, allein … das kannst du bei jemandem wie mir nicht sagen, nein, so etwas wie das Burn-out vom Lüthi, das … Aber es kommt mir vor, als versteht mich niemand. Als wüsste gar niemand, wer ich bin. Dann dachte ich, es seien die Frauen. Und wenn jemand bis vierzig keine gefunden hat, dann findet er keine. Dass es dieses Alleine-Sein ist. Die Bettkälte. Und ich gebe zu, dass es nicht leicht war, aber heute, wenn man sich an das Leben so gewöhnt hat, da will man auch nicht noch eine Frau. Ehrlich, da … Da gibt es die, die sind glücklich mit einer Frau und die, die sind unglücklich mit einer Frau. Und da gibt es die, die sind glücklich ohne Frau und die anderen sind unglücklich ohne Frau. Da gibt es immer beides. Aber wenn ich mich etwas frage, dann warum ich eigentlich keine Frau hab; wenn ich doch so gut mit den Leuten kann. Und es ist mir auch nie schwergefallen, eine Frau anzusprechen und ich hab mit so mancher etwas gehabt, ich hab sie gar nicht mehr gezählt. Das sage ich nicht zum Prahlen, Peter, du weisst das. Aber ich will dich gar nicht so lange aufhalten, und dich vollquatschen, Peter, nein, um was es … Aber es ist genau das. Das hab ich mich gefragt. Warum ist da trotzdem nie etwas Richtiges daraus geworden. Und ich denk mir auch, dass ich vielleicht schon eine spannende Person bin und viel erlebt habe und viel mache, aber wenn man mich kennt und wirklich kennt, dann ist es halt vorbei. Ich weiss nicht, ob ich jemand bin, mit dem man länger etwas zu tun haben will. Ich bin ein komischer Mensch, und rede viel und mache viel, und das macht mich auch interessant und deshalb kann ich auch gut mit Menschen. Aber das ist dann auch alles. Aber ja, Peter, ich muss aussteigen. War schön mit dir zu sprechen, hab das mal gebraucht. Sorry, jetzt, dass ich dich so vollgequatscht hab. Ist wahrscheinlich einfach eine Laune und morgen ist es wieder vorbei. Ja, man sieht sich. Du, am Donnerstag, dann ist ja die Opel-Messe in Burgdorf. So, ich muss. Tschüss, Peter, tschüss.»
Er steht auf. Ohne aufzulegen, schiebt er das Mobil-Telefon wieder in die Tasche. An der Türe wartet er mit drei Männern und einer Frau. Er hat Peter nicht angerufen.
Der Zug hält, er steigt aus. Als er sich umdreht, sieht er hinter den Fenstern die Passagiere des Regionalzuges nach Olten. Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Es war ein langer Tag.

 

Intensivkurs Französisch

Nachdem die Lehrerin nach der letzten Stunde des Französischkurses sie zu einem Kaffee eingeladen hat, kommen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam aus dem Restaurant. Michael Ledermann geht neben einer grossgewachsenen Frau, ohne etwas zu sagen. Er kennt ihren Namen nicht, nur den Nachnamen hat er während den Stunden erfahren. Sie heisst Madame Schleiermacher. Vorhin im Restaurant sprachen sie in einer kleinen Gruppe über Paris. Nun hat sich die Gruppe aufgelöst, einige gehen zu zweit, einige allein. Er neben ihr. Er mag Madame Schleiermacher, wenn auch nur wegen ihrer Art Kugelschreibern nervös auf dem Pult zu drehen. Gerne würde er das Gespräch fortführen, doch es fällt ihm nichts ein. Schade sei es, sei der Kurs bereits vorbei, könnte er sagen. Er hätte viel gelernt. Nett sei es von der Lehrerin, hätte sie sie alle zum Kaffee eingeladen, auch das könnte er sagen. Er sagt nichts. Es wäre zu offensichtlich, dass er nur ein Gespräch anfangen möchte. Er hört vorne die Lehrerin etwas erzählen, das er nur schwer versteht. Es geht um Tulpen. Thomas Ledermann sieht zurück. Er sieht das Restaurant. Die Fenstergläser glänzen in der Sonne. Eines der Fenster ist geöffnet. Sie wohnt in Zürich, hat sie erzählt. Er könnte sie fragen, ob sie von Zürich hierher pendle. Das könnte er. Doch ist zu viel Zeit vergangen. Wenn er sie jetzt etwas fragen würde, würde sie denken, er hätte sich die ganze Zeit überlegt, was er mit ihr sprechen könnte. Es wäre seltsam.

 

Die Leber

Bereits als sie den ersten Bissen der Kalbsleber in den Mund schiebt, merkt sie, dass es ihr nicht schmeckt. Das Fleisch ist schwammig und beinahe sauer. Muriel Amstutz denkt an das Kalb, das man wegen dieser Leber geschlachtet hat, nicht nur geschlachtet, man hat es gehalten, aufgezogen, es hat wegen diesem Stück Fleisch gelebt, und nun schmeckt es ihr nicht, es ekelt sie sogar ab dieser sauren Art von Fleisch. Muriel Amstutz wird still. Es war der jungen Kuh so gegangen, wie ihr selbst. Alle die Erwartungen, die die Menschen an sie hatten – und es waren im Grunde wenige – konnte sie nicht erfüllen. Die Buchhändlerlehre hat sie abgebrochen, letzten Sommer ist ihre langjährige Beziehung auseinandergegangen. Am Ende ihrer Tage würde es wenig geben, was sie richtig gemacht hätte. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr versteht sie dieses Kalb. Und obwohl es ihr noch immer nicht schmeckt, ist sie froh, es bestellt zu haben.

 

Goethe (eine Novelle)

Nachdem der Basler Pharmakonzern Novartis Patrick Huber gekündigt hat, haust dieser jahrelang ausgesteuert erst in Muttenz dann in Pratteln und züchtet in der Küche aus dem Genmaterial eines Fingerknöchels den Klon des längst verstorbenen Weltliteraten Johann Wolfgang von Goethe heran. Huber übergibt den Goethe-Klon, den er im umgebauten Backofen bis zum Säuglingsstadium reifen liess, seiner Freundin Flavia Gut, damit sie das Geschöpf wie ihr eigenes Kind aufziehe.
Der Klon erhält den Namen Johann Wolfgang Gut.
Johann überspringt mehrere Klassen, beginnt mit fünfzehn Philosophie, Botanik, Mathematik, englische und deutsche Literatur, Chemie und Physik zu studieren. Seinen ersten Doktortitel erhält er noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Johann Wolfgang legt sich nicht auf ein Gebiet fest, seine Studien treiben ihn in alle Richtungen. In einem Zeitungsbericht wird er als letzter Universalgelehrter betitelt, bald fällt das Adjektiv: „olympisch.“
Ein brillanter Mensch jedoch auch ein umgänglicher Gesellschafter, ein ästhetischer Wanderer, ein engagierter Politiker und Redner, so sieht man ihn. Johann Wolfgang Gut ist der Mensch der Menschen.
An einem zweiten Dezember, Johann Wolfgang Gut ist vierundzwanzig Jahre alt, schlägt er die Einleitung zu Goethes Farbenlehre auf, die ein Freund ihm anempfohlen hat, obwohl er selbst sie für überholt hält. Er beginnt zu lesen. Johann Wolfgang erkennt in Goethe einen Seelenverwandten. Am nächsten Montag lässt er sich drei Biographien zukommen, eine Woche später kauft er Goethes Werke in hundertdreiundvierzig Bänden. Johann verlässt das Haus nicht mehr, wandert, politisiert, schreibt nicht mehr, Johann hält keine Reden, beantwortet keine Mails, keine Anrufe nimmt er entgegen. Johann Wolfgang Gut liest Goethe. 
Jahre vergehen, zusehends verarmt Johann; er zieht nach Pratteln in die Wohnung seines Paten und geheimen Schöpfers Patrick Huber, der mittlerweile eine Professur für Genetik erhalten hat. Johann Wolfgang schläft in der Küche, die überstellt ist von Goethe-Bänden und Kommentaren. Im Alter von zweiunddreissig Jahren stirbt der Goethe-Klon Johann Wolfgang Gut an einem Magengeschwür.
Während er am Küchenboden liegt, schmiegt sich eine Katze an seinen Kopf. „Gewiss weiss ich, Bützi“, sagt er keuchend zum Tier, „ich hätte mehr tun müssen als lesen. Aber jetzt … was mich jetzt plagt, ist nicht, das Neue, das ich nicht gesucht habe, die Taten, die ich nicht vollbracht habe, sondern die Seiten dort auf dem Pult, bei denen ich noch nicht weiss, was darin steht.“ Die Katze leckt ihre Tatzen.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchiger, geboren 1981 in Madiswil, ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, sowie Gründer und Mitherausgeber vom Literaturmagazin «Das Narr» (seit 2011). Heute leitet René Frauchiger den Bereich Werkstätten des Aargauer Literaturhauses und lebt in Basel. Im September 2019 erschien sein erster Roman: «Riesen sind nur grosse Menschen» im homunculus-Verlag, 2022 folgte «Ameisen fällt das Sprechen schwer» bei Knapp.

Webseite des Autors

Markus Kirchhofer «Das Planetenrührwerk»

Jürg blickt stur durch die Windschutzscheibe. «Du bist sauer wie ein Naturjoghurt», sagte ich zu ihm, wenn er als Kind zornig war. Das brachte ihn noch mehr in Rage. Eigentlich habe ich einen guten Draht zu ihm. Einen immer besseren in den letzten Jahren. Obwohl wir uns nicht häufig sehen. Obwohl er was ganz anderes macht als ich. Obwohl er neun Jahre jünger ist als ich. Aber die werden gefühlt immer weniger. Jürg ist fast gleich alt wie Beatriz. Und ich fühle mich ebenso jung wie sie. 

Wenigstens bleibt mir heute die Schaukäserei erspart. Früher gab’s keinen Familienausflug ins Voralpental ohne Schaukäserei. Im Restaurant vertilgten wir Vermicelles mit Meringues. Danach ging’s in den Shop, wo wir allerlei Käsesorten, Quark und Honig kauften. Neulich besuchte ich die Schaukäserei mit Beatriz’ Familie. Unter Anleitung stellten wir selber Frischkäse her. In Herzform, ganz nach dem Geschmack der Brasilianer. Am meisten beeindruckte sie aber der grosse Käsefertiger. Auch ich sehe sein glänzendes Kupfer, wenn ich an unsere Käserei denke. 

Der Fertiger war rund und riesig. Darin ein weisser See. Vater erwärmte die Kuhmilch und brachte sie mit magischen Beigaben zum Eindicken: Labenzyme aus Kälbermägen und Milchsäurebakterien. 

Dann bestückte Vater sein Planetenrührwerk. Er hängte Harfen daran und legte den Schalter um. Die Käseharfen begannen sich im Fertiger zu drehen und einander zu umkreisen. Zwei nebeneinander in der Mitte, die dritte aussen, dem Chromstahlring entlang. Die Harfen tanzten durch die eingedickte Milch, beschwingt und kraftvoll. Umeinander herum und durcheinander hindurch. Scheinbar chaotisch, aber ohne je zu kollidieren. Auf mysteriösen Umlaufbahnen, die ich zu ergründen suchte. Die Saiten zerschnitten die eingedickte Milch in immer kleinere, körnige Bruchstücke. «Je kleiner die Käsekörner, desto härter wird der Käse», belehrte mich Vater. Zum Rühren der Bruchmasse ersetzte Vater die Harfen durch Schaufeln. An den Fertigerrand montierte er Strombrecher. Unsichtbar am Grund wühlten die Schaufeln gegen die Schwerkraft der Käsemasse. Die Brecher bewirkten Querströmungen und körnige Wirbel. Vaters Planetenrührwerk bewegte Milchstrassensysteme. Am Fertiger beobachtete ich sie, hypnotisiert.

***

MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch (2020)

Die Weltbevölkerung wächst, noch im 21. Jahrhundert werden mehr als zehn Milliarden Menschen die Erde bewohnen. Die Menschen brauchen mehr Platz, andere Lebewesen werden weggedrückt, täglich sterben Tierarten aus. Wie geht der Mensch, wie gehen Kunstschaffende mit dieser Konstellation um?

***

MEHR UND WENIGER führt Medienkunst, Lyrik, Fakten zur Bevölkerungsentwicklung und zu ausgestorbenen Tierarten zusammen. Beim Starten der App befindet man sich in einer urbanen, futuristisch anmutenden Stadtlandschaft, die permanent neu generiert wird. Mit dem eigenen Handy oder Tablet als Flugsteuerung bewegt man sich spielerisch durch eine Metropole aus Bild, Text und Architektur – fliegen durch ein dreidimensionales Buch. 
Nähere Infos zur App und Gratis-Download auf Android-Geräte unter MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch – Marc Lee
Konzept: Markus Kirchhofer und Marc Lee, Realisierung: Marc Lee (CH),Gedichte (50 Haiku) von Markus Kirchhofer. Übersetzungen: Erin Palombi (US) ins Englische, Valentin Decoppet (CH) ins Französische, Sound: Shervin Saremi (IR),VR Entwicklung: Antonio Zea (PY), Florian Faion (DE) und Marc Lee (CH)

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Drei der Gedichte von Markus Kirchhofer:

der kiesweg ums haus
ist meine stratosphäre
my home is my earth

 

über den rücken
der eidechse aus beton
fahren lastwagen

 

verhüllt unterwegs
in frachtcontainern und tanks
früchte der erde

 

Markus Kirchhofer «Das Palnetenrührwerk», Knapp, Illustrationen Maurizio Pinarello, 2022, 89 Seiten, CHF 24.80, ISBN 978-3-906311-97-5

Markus Kirchhofer, geboren 1963, lebt mit seiner Frau in Oberkulm/AG. Seit 2013 ist er freier Autor, zuvor war er Lehrer und Erwachsenenbildner. In den letzten zwei Jahren erarbeitete er die App «MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch» (mit Medienkünstler Marc Lee, 2020), eine Graphic Novel (mit Zeichner Reto Gloor, 2021), ein Musiktheater (mit Musiker Christoph Baumann, Videodesigner Kevin Graber und Regisseur Nils Torpus, 2021) und den Roman «Das Planetenrührwerk» (2022). Markus Kirchhofers literarische Arbeit wurde mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet, zuletzt von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. 

Webseite des Autors

Andreas H. Drescher «Mein alter Schwarzfernseher», ein Ausschnitt

 

WEICHE THEMEN

Sonnenaufgang. Das Zicklein nähert sich der Stadt über die A9 und bricht sich schließlich selbst eine Ausfahrt durch Leitplanken und Birkenschonung. Mit Vorbedacht schweift es in weitläufigen Mäandern, um den Grad seiner Verheer-ungen noch großflächiger zu gestalten. Von den Laubenkolonien zwischen A9 und dem Bahndamm bleibt so nur Schreberschredder übrig. Dabei absolviert es all das nur zum Warmwerden. Sein Ziel ist ein anderes. Punkt dreizehn Uhr wird das klar. Da bewegt es sich in gerader Linie auf den größten städtischen Uhrmacher zu und verwandelt auf dem Weg Schlachthof und Käserei in staubquirlenden Schutt. Der Uhrmacher hört keinen Ton davon. Er hält seinen Mittagsschlaf.


Die ganze Uhrmacherfamilie wird nicht wach vom herannahenden Dröhnen, obwohl ihr die Unruhen aus allen Weckern springen und die Kuckucke aus ihren Kuckucksuhren das Haus aus allen Fenstern verlassen. Dabei schnarcht jeder einzeln nicht einmal besonders laut. Je einzeln flappen ihnen lediglich die Lippen ein wenig beim Ausatmen. Gemeinsam allerdings schnarchen sie ohrenbetäubend: der Uhrmacher auf der Schlafcouch, der Großvater am Katheder und seine 
sieben Enkel auf den Schulbänken. Das Zicklein blinzelt nun zum Fenster dieses Klassenraumes hinein und überfliegt des Großvaters archimedisches Gekritzel: eine Inspiration. Sodann dreht es sich angelegentlich um, steckt sein Köpfchen in den Fluss und fängt gewaltig an zu saufen. Zugleich aber hebt es das Schwänzchen und füllt das Haus der Schlafenden vom Keller an durch seinen Schornstein auf. 


Ein druckvoller Pumpstrahl. Bald schon sieht man die Uhrmacherfamilie vor den Fenstern aller Stockwerke treiben und unter den großen Augen her die Lippen stimmlos zu einem entsetzten: „Helft uns!“ formen, zu einem „Aber so helft uns doch!“ Die Nachbarn aber sind beschäftigt. Sie haben, als sie sehen, dass auch nicht ein Tröpfchen Flusswasser in ihre Richtung sickert, die Fernsehsessel vors Fenster gerückt und nehmen ihr Abendbrot ruhig vor den hilflosen Zuckungen der Uhrmacher-Familie ein. Nur der Großvater hat sich genug Geistesgegenwart bewahrt. Er arbeitet sich durch die umhertreibenden Möbel zu seiner Schiefer-tafel vor, wischt alles Archimedische mit einem Strich seines Jackett-Ärmels aus und schreibt in großen Buchstaben: „Eine Million Belohnung. Randalierendes
 Zicklein zum Abschuss freigegeben.“ Kaum ist das erledigt, schwimmt er zu seinem Katheder zurück, macht es sich dort wieder bequem und atmet, nach einem allerletzten Bleistiftspitzen, tief ein, um sich das Sterben einfacher zu machen. 


Der Einzige, der sich von dieser Bekanntmachung angesprochen fühlt, ist ein 
Bäckerjunge aus der Nachbarschaft, der hin und wieder mit den Söhnen des Optikers in den Fluss gepinkelt hat. Er klemmt sich in der Backstube eine Packung feinen Mehls und ein Nudelholz unter den Arm und läuft hinunter zum Fluss. Hier hat das Zicklein das Haus des Uhrmachers eben bis zum Schornstein angefüllt und hebt den Kopf, um einmal tief einzuatmen. Im gleichen Augenblick wirft der Bäckerjunge die Packung Mehl in die Luft und stäubt es mit einem beidhändigen Schlag mit dem Nudelholz dem Zicklein gerade vor die Nüstern. Fast erstickt es daran, meckert jedoch zwischen den Niesattacken: „Hilf mir! Aber so hilf mir doch!“ Statt einer Antwort zeigt der Bäckerjunge in Richtung des Glasportals, hinter dem der Optiker und seine Familie inzwischen in Embryonalstellung
treiben. Keuchend kriecht das Zicklein darauf zu, niest die Lichtschranke auf und kühlt das Mehl in Mund und Nase mit dem Fluss, der ihm nun wieder entgegenströmt. Diesmal aber ersäuft es daran, weil ihm der Bäckerjunge auf den Schwanz getreten ist. Die Nachbarn sehen im Frühstücksfernsehen, wie die Kuckucke in den Laden des Uhrmachers zurückkehren, wo der Bäckerjunge im Wasserschaden steht und etwas auf die Tafel des Großvaters kritzelt. Es dauert aber das ganze Frühstück über, bis die Kreide in der Morgensonne getrocknet ist. Erst jetzt können sie entziffern: „Die Uhren sind umgestellt worden!“ Zu spät begreifen sie, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. So hat das Zicklein noch im Tod alle sieben Söhne des Uhrmachers wiedergeboren und diese Sieben haben bis zum Morgengrauen nicht allein ihre Bäckerlehre absolviert, sondern ihnen außerdem all ihre verlorenen und gesprungenen Unruhen in die Frühstücksbrötchen gebacken.



DER SPÄTE ZWIST

Die hundertjährigen Zimmermädchen waren für die ganze Bettenburg zuständig. Aber ihre Enkelin, die Hotelfachfrau, hatte sie nicht richtig eingeteilt. Denn die eine schüttelte ihre Plumeaus nun schon seit neunundneunzig Jahren mit Seeblick aus, während die andere sich dabei mit einem Blick ins Binnenland begnügen musste. So begannen die Zwillinginnen einander zu hassen und nahmen ohne Absprache mit ihrer Enkelin am Animationsprogramm teil. Die eine als Krustenbrot-, die andere als Granny-Smith-Granny, weil die eine Backwaren, die andere Obst aus ihren Decken schüttelte. Auf beiden Gebäudeseiten kamen so Hotelgäste zu Schaden. Doch obwohl nur die Tochter eines Straßenbauers und die eines Grobschmiedes ernsthafte Verletzungen davontrugen, wurden die Hotelfachfrau und ihre Großmütter fristlos entlassen. Vergeblich suchten sie an der Küste eine neue Anstellung. Doch auch im Binnenland hat es keine der Alten mehr geschafft, einen Baum oder einen Backofen erneut zum Sprechen zu bewegen.





GEFRIERBRAND

Schon in der Berufsschule genoss sie den ganzen Respekt ihrer Klassenkameraden. Vom Augenblick ihres ersten Erscheinens an. Ihrer sargförmigen Brille wegen, die sie selbst geschreinert hatte. Noch nie hatte ein Mädchen mit so geschickten Händen Bestatterin werden wollen. Ihr Meister hatte ihr zu Anfang nicht viel zugetraut. Doch gleich im ersten Lehrjahr zeigte sie so viel Kunstfertigkeit und Ausdauer als Leichenwäscherin, dass er schon im zweiten persönlich ihre Unterweisung übernahm. Ein Jahr, das sie mit dieser Brille abschloss. Die brachte ihre eisgrauen Augen nun derart vorteilhaft zur Geltung, dass es bald keinen Kunden mehr gab, der davon nicht zum lebenslangen Thanato-Erotiker geworden wäre.


Es hieß, sie habe das Talent von ihrer Mutter geerbt. Einer Frau von so grandioser Hässlichkeit, dass jeder Galan, den sie mit sich zu beglücken suchte, bei ihren unanständigen Anstandsbesuchen mit einem männlich-kühnen Sprung aus dem Fenster floh. Ganz gleich, um welches Stockwerk es sich handelte. Der Vater der Bestatterin hatte dem Himmel sei Dank jedoch nur in der dritten Etage gewohnt und war aus diesem Grund nicht vollständig zerschmettert worden. Die dritte 
Etage ist bekanntlich die der Querschnittslähmungen. Es wird für immer das Geheimnis ihrer Mutter bleiben, wie sie ihren Traummann steif bekam, als sie sich noch in dem Maulbeerbaum, der ihn abgefangen hatte, isishaft auf ihn setzte.


Das Kind wurde von der Alten verwöhnt wie weiland Aschenputtel. Dies war das Ideal ihrer Erziehung: Das Mädchen schlief in einem Taubenschlag. Sein erster vollständiger Satz war folglich: „Ruckedigu!“ So war ihre Kindheit akustisch eingefasst in dies halb daunene, halb quietschende Geflatter. Neun Jahre lang hatten die Tauben versucht, sie in ein ausgiebigeres Gespräch zu verwickeln, doch das Mädchen blieb verstockt. „Ruckedigu!“ Neun Jahre war sie alt, als der Mann vom Jugendamt sie fand: von Taubendreck geteert, von Daunen gefedert und in 
ein so gründliches Schweigen eingefasst, dass von einer regulären Einschulung nicht mehr die Rede sein konnte. So kaufte man ihr von Staats wegen die Lehrstelle bei diesem Bestatter, der selbst als ebenso rechtschaffen wie wortkarg galt.

Wie schon erwähnt, stellte sich die Kleine bereits mit zwölf Jahren derart verständig an, dass ihr Meister bald Vertrauen zu ihr fasste. Und das so sehr, dass er schließlich nur noch mit ihr die lockere Erde über den Särgen festtrampelte, während die Gemeinde den Kirchhof verließ. Wer sich von den Nachzüglern, durch das dumpfe, rhythmische Tönen aufmerksam gemacht, noch einmal umwandte und die beiden, bis zu den Nasenspitzen aus dem neuen Grab ragend, in dieser merkwürdigen Polka begriffen sah, drehte sich sofort wieder um, wurde jedoch bis ins hohe Alter hinein von dem Traum heimgesucht, selbst in diesem trampolinierten Sarg zu liegen. Der Traum wurde zum Gesellenbrief des Mädchens. 


Um diese Zeit herum fand man auch ihre Mutter. Sie hatte, vollständig ausgeweidet und perfekt geschminkt, seit drei Jahren vorm Spiegel einer Eisdiele gesessen und sich, über einen nie endenden Maulbeer-Shake hinweg, selbst fortwährend ins hohle Auge geblickt. Wie immer hatten alle an ihr vorbeigeschaut: die Gäste, die Bedienungen, selbst die Putzfrauen. Erst, als die Matriarchin des Familienbetriebs höchstselbst aus Neapel anreiste, weil der Verzehr von Tisch neun nun 
schon so lange zu wünschen übrigließ und die Mumifizierte, kurzsichtig wie sie war, ohne viel Federlesens anstibbte, zerfiel die prompt zu Staub. Die Zugluft durch die Gäste, die zu allen Ausgängen hinausdrängten, ließ sie so restlos verwehen, dass nicht einmal das kleinste Körnchen für einen DNA-Test übrigblieb.



 

REISE NACH JERUSALEM

Seit der Fuhrpark der Bundeswehr zur Deckung der Flugschulden des Verteidigungsministers versteigert worden ist, finden die Truppentransporte ausschließlich per Bahn statt. Ich bedaure das sehr, denn ich schätze dieses Fortbewegungsmittel außerordentlich. Besonders durch die Hooligans, die ihre Sozialstunden seit Neuestem bei den Pionieren ableisten dürfen, ist an die ruhige, distinguierte Art des Reisens, wie ich sie gewohnt war, nicht mehr zu denken. Nicht einmal meiner Anregung, die Eingänge zur Ersten Klasse durch Wachen abzuriegeln, oblag das Management der Bahn. So brachen denn auch vor dreizehn Tagen wieder Horden von Randalierern durch den nächtlichen Zug, verschütteten Sambuca und hörten selbst dann nicht auf, ihn vom Boden zu lecken, als dieser glatzköpfige Fettwanst … Ich bitte um Verzeihung: Als dieser übergewichtige Kahlkopf auf die Idee kam, ihn anzuzünden. Anna war dieser Geruch nach Grill selbstverständlich nicht zuzumuten, deshalb wies ich den Diener an, unsere Abteiltür zu schließen. 

Bedauerlicherweise machte das den Kahlkopf auf uns aufmerksam. Besonders auf Anna. Dumpf stierend ließ er sich auf einen der Klappsitze im Gang fallen und versank, ebenso somnambul wie impertinent, wie entrückt in ihrem Anblick. Es half nur wenig, dass der Diener sich zwischen die beiden schob. Sein Gesicht an der Scheibe platt drückend, fand der Dicke immer wieder einen Winkel, um hereinzugaffen. Nicht einmal, als ich Anna anbot, den Platz mit ihr zu tauschen, gab er Ruhe. Ebenfalls nicht, als wir mehrmals hin und her tauschten. Im Gegenteil: Mit einem Mal fanden wir den übergewichtigen Herrn sogar im Abteil vor, wo er versuchte, seine erstaunlich großen Hände in Annas Muff unterzubringen. 


Ich erhob mich, um Protest anzumelden, doch das hochgerissene Knie des Kahlkopfes ließ mich in Embryonalstellung zusammenfahren. So hatte ich kein Ohr für die beiden Schläge. Nicht für den klingenden. Und nicht für den dumpfen. 
Doch als sich meine edleren Teile wieder erholt hatten, sah ich den schweren Herrn zu meinem Erstaunen reglos zu meinen Füßen liegen und Anna in lebhaftem, wenn auch flüsterndem Gespräch mit dem Diener. Ihr Haar war ein wenig in Unordnung geraten. Gerade öffnete ich den Mund, um sie darauf aufmerksam

zu machen, als sie mich in einem Ton, der zu meinem Bedauern keinerlei Notiz von meinen zahlreichen Blessuren nahm, aufforderte: „Komm jetzt! Pack an!“ 


Ein wenig konsterniert, aber doch hilfsbereit, bemühte ich mich nun mit den beiden, den unhandlichen Körper durch das geöffnete Fenster zu bugsieren. Allein: Unsere Anstrengungen waren vergeblich. Der vorspringende Bauch des auskühlenden Kahlkopfes ließ ihn immer wieder zu uns hereinprallen. Im Gang brachen inzwischen, nun immer stärker vom Sambuca belebt, erneut die Hooligans vorbei, scheinbar auf der Suche nach ihrem Anführer. Zum Glück hatte der Diener, wenn auch ohne jede Aufforderung, die Vorhänge unseres Abteils geschlossen. 


Anna überzeugte uns nun mit dürren Worten davon, den Dicken in einem unserer frisch aufgeschüttelten Betten zu deponieren und uns selbst aufs Dach des Zuges zu verfügen. Gesagt, getan. Kaum hatten wir Anna an ihren unvergleichlichen Fesseln in die Höhe geschoben, als sie den Diener auch schon mit beherztem 
Griff zu sich heraufzog. Dann diese kleine Ungeschicklichkeit meinerseits, die sich jedoch bald als sehr vorteilhaft erweisen sollte: Während die beiden mich aus 
dem Fenster zogen, verhakte sich mein linker Fuß an dessen Griff, sodass ich es, 
freilich ohne dies beabsichtigt zu haben, fast zur Gänze schloss. Zudem stellte mein Schuh, der mir, als mich die beiden mit einem kräftigen Ruck aufs Dach beförderten, entglitt und zur Abteiltür kollerte, die Hooligans, die ihren Anführer schließlich in Annas Bett wiederfanden, vor ein schier unlösbares Rätsel. Den ganzen Zug durchsuchten sie nach dem Besitzer dieses Schuhs. Der Gedanke, einen Blick aufs Dach zu werfen, kam ihnen, aufgrund der Lage des Schuhs, nicht. 


Dem Diener, der die Geistesgegenwart besessen hatte, sich beim Angriff auf Annas Muff der leeren Sambuca-Flasche zu bemächtigen und damit einen so glücklichen Schlag gegen das Genick des Glatzkopfes zu tun, dass er dort irgendetwas Lebenswichtiges verschob oder durchtrennte, ohne dass auch nur eine Wunde zu sehen war, sagte ich auf der Stelle eine angemessene Gehaltsaufbesserung zu. 
Unser Plan war, uns beim Halt im nächsten Bahnhof in die Arme des frisch privatisierten (also motivierten) Bundesgrenzschutzes zu werfen und ihn um Beistand gegen die trunkene Horde anzurufen. Ein ausgesprochen aussichtsreicher Plan, wenn wir ihn auch bedauerlicherweise noch nicht haben ausführen können.


Seit dreizehn Tagen hat der Zug nämlich nun nicht mehr angehalten. Ein Truppentransport eben. Wir hätten es wissen müssen. Gut, dass Anna vorgestern auf den Gedanken kam, unsere regennassen Kleider gegen den Durst auszuwringen. Ich selbst beobachte trotz meines furchtbar frierenden Fußes – über den mir den beiden gegenüber selbstverständlich auch nicht ein einziges Wort über die Lippen kommt – noch immer aufmerksam den nächtlichen Himmel. Ich schweige eisern. Obwohl das Ziel unserer Reise inzwischen, besonders in sternenklaren Nächten, deutlich auszumachen ist. Denn inzwischen bewegen sich bereits in der neunten Nacht Teile des Hindukusch als frische Asteroiden in Richtung Hardthöhe. 


 

Andreas H. Drescher, 1962 in Griesborn/Saar geboren, studiert Germanistik, Politik und Philosophie in Köln und lebt als freier Autor und Künstler in Saarlouis. 2016 erscheint sein erster Erzählungsband „Die Rückkehr meines linken Armes“ in der EDITION ABEL. Der Roman „Kohlenhund“ erscheint 2018. Mit „Schaumschwimmerin“ legt Drescher den Nachfolge-Roman zu „Kohlenhund“ vor.

Heike Puderbach, 1966 geboren in Saarlouis, 1985 Abitur,1986-91 Auslandsaufenthalte in Paris und Norwich, 1991 Studium der Bildhauerei, Hochschule der Bildenden Künste Saarbrücken, 1992-97 Studium Produktdesign, HBK Saarbrücken, seit 1998 Freiberuflerin in den Bereichen Bildende Kunst, Design, Grafik, Inneneinrichtung, 1999 saarländischer Staatspreis für Produktdesign, 1999 Atelier in Paris, Ausstellungen in Montparnasse, 2017 Designerin bei Villeroy und Boch

Anna Pieger «Waldrausch»

Prä-Positionen

unter Fichten, Föhren, Kiefern, Tannen,
Buchen
wohnt das Dunkel
schäle ich mich aus meiner Haut
schuppe
lege Schicht um Schicht ab
bis ich nackt dastehe
weich, zu verletzlich


zwischen Ahornschösslingen
wächst Klee
zupfe ein Blättchen ab
stecke es zwischen die Lippen
die Zunge schaudert
rolle mich über den Teppich
aus fleischigem Grün
hier findet mich keiner


lehne mich an den rauen Stamm
der Erle
die Sonnenstrahlen suchen
den Grund
blinzle
Sonnenflecken streichen über die helle Hälfte
meines Gesichts
Tränen laufen stumm
tropfen auf frühjahrsmüde Winterlinge





Aufstieg

die Fingerkuppen versuchen
sich in den Sandstein zu bohren
was so rieselt
muss doch nachgeben
Einbuchtungen ertasten
unter den Fingernägeln Monde aus Sand
krümelig, schmirgelnd
kein Halt
rutsche
kratze vergebens Spuren in die Erde
schlittere
Brombeerranke klammert sich an Hand
falle
falle
der Kopf landet zwischen Veilchen und Efeu
schliesse die Augen
um mit dem Schmerz allein zu sein


neben meinem Auge eine
Waldameise gross
ihre Glieder wirken unverbunden
sie arbeitet
ich bleibe liegen
aus dem Laub
das spröde knistert
wachsen Buchenschösslinge
wie zwei dunkelgrüne Fächer
bliebe ich liegen
sie trieben aus meinen Arterien
bis pelzige Blätter aus ihnen sprössen


ziselierte Gräser
gebleicht vom Sommerregen
spielen in einem kleinen Wind
zerfranste Cirruswolken
auf reinzuwaschendem Blau
eine Ahnung von Regen
steigt


rapple mich hoch
streiche mir die Laubpartikel aus dem Haar
betaste die dumpfe Beule
und schreite voran
stolpere über Wurzeln
am Boden ausgebreitet
wie die Finger von Greisen
knochig
verknorpelt, von staubigem Grau
mit erstaunlich festem Griff


finde ein Mohnkronenblatt
dahingeweht
auf Kalkstein
berge es gebückt
in meine Finger
seidig
leuchtet es
schwebt auf der Handinnenfläche
streiche so oft über das Fahnenrot bis
es bricht

Anna Pieger, geboren 1981 in München, studierte an der Universität Basel Kunstgeschichte und Philosophie. Ihr literarisches Schaffen umfasst Prosa und Lyrik. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Basel und ist als Co-Leiterin einer Sekundarschulbibliothek sowie als Redakteurin für das Gesellschaftsmagazin ERNST tätig. 

Agnes Weber «Der längste Gang»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Dienstag, 4. Dezember 1979

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf. Aus der Küche das klatschende Geräusch einer Ohrfeige, sonst kein Laut. Erstarrt sitzen wir da.
„Er hat Rita geschlagen“, bricht es aus mir heraus.
Mein Herz klopft wie verrückt. Wie in Trance stehe ich auf, schiebe den Stuhl von mir weg: „Ich schaue mal nach.“

In der Küche sitzt Rita still und bleich auf einem Hocker, ein hässlicher roter Abdruck auf der einen Wange. Der grosse, kräftige, sicher zehn Jahre ältere Mann erhebt die Hand, gleich wird er wieder zuschlagen.
„Stopp, so geht das nicht.“
Ich nehme Rita an der Hand und ziehe sie aus der Küche. Zu ihm sage ich:
„Geh, sonst rufe ich die Polizei.“
Der Mann lacht höhnisch, sein Gesicht ist blanke Wut, aus jeder Pore seines Körpers atmet Gewalt. Er folgt uns in die Stube wo Mary wie gelähmt am Stuhl klebt. Er versucht, Rita in die Küche zurück zu zerren:
„Du Schlampe, du sagst mir jetzt, wo du gestern Abend warst, oder ich schlage dich nieder.“ „Halt“, sage ich, und greife zum Telefon an der Wand.
Der Mann ist schneller, zieht am Kabel, das Telefon ist tot.

Bebend vor Angst führe ich Mary und Rita rasch aus dem Esszimmer, an ihm vorbei. Er ist einen Moment lang überrascht, dann wird er wieder ausfällig:
„Das geht euch alles gar nichts an, ich bringe euch um, ihr verdammten Weiber!“
Zwischen Stube und Wohnungstüre liegt ein Gang. Es ist der längste Gang, den ich je gesehen habe. Er erstreckt sich von hier aus bis fast in die Unendlichkeit. Der Mann wird sich an uns vorbei vor die Türe stellen, den Schlüssel drehen und abziehen, das grosse Küchenmesser holen und uns einzeln abschlachten, denke ich. Ich weiss nicht wie, aber es gelingt mir, die Wohnungstüre zu öffnen. Schnell raus, alle drei.

Kaum sind wir draussen, sieht der Mann rot, kommt angerannt wie ein wilder Stier. Er packt mich und stösst mich die Holztreppe hinunter, dann Mary, zuletzt Rita. Ein Riesenlärm, Schreie. Aus drei Wohnungen im Erdgeschoss stürmt je ein Paar heraus. Ich sage:
„Rufen Sie bitte die Polizei.“
Eine Frau geht los. Die anderen Frauen stellen sich vor Mary, Rita und mich, schützen uns. Die Männer packen den Mann zu dritt, versuchen ihn zu beruhigen. Es gelingt nicht. Ein wüstes Gerangel. Der Täter scheint Bärenkräfte zu haben. Kaum zu glauben, was jetzt geschieht: Er reisst sich los, nimmt Anlauf, wirft sich wie ein Irrer auf die Haustüre, deren obere Hälfte verglast ist, hechtet durch das splitternde Fenster und landet blutend im eiskalten Wasser des Brunnens vor der Haustüre. Die Polizei kommt gerade rechtzeitig. Zu dritt spedieren sie den tobenden Mann in den Kastenwagen. Dann protokollieren sie den Tathergang.

Mit der Zeit kehrt Ruhe ein im Haus. Rita sagt beim Abschied vor der Haustür unter wiederholten Schluchzern:
„Es tut mir so leid, dass ihr das erleben musstet! Armin ist mein Ex. Er hat noch nicht verstanden, dass es aus ist.“
Wir versuchen sie zu trösten. Dabei nehme ich wahr wie sich Rita schämt: für Armin und dass sie mit ihm zusammen war, vor den Nachbarn und über die Geschichten, die über sie, die Lehrerin, eine Respektsperson, im Dorf zirkulieren werden. Und sie hat Angst, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist.

Es ist spät geworden. Der Appetit ist uns längst vergangen. Mary bringt mich nach Baden, bevor sie zu sich nach Wettingen weiterfährt. Wir beide, zum ersten Mal im Leben mit einer so gewalttätigen und gefährlichen Situation konfrontiert, sind aufgewühlt, können das Geschehene immer noch kaum fassen, Mary sagt zu mir:
„Du warst so mutig, liebe Bianca“.
„Weisst du, ich war ausser mir vor Angst, aber ich konnte nicht anders. Ich mache viel Sport und dachte, das sei hilfreich, aber weit gefehlt, ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Wir haben grosses Glück gehabt. Als wir aus der Wohnung traten, wusste ich, dass wir es geschafft haben.“
„Ja, aber wie er uns mir nichts dir nichts die Treppe hinunter geworfen hat, das war der helle Wahnsinn. Zum Glück ist nichts passiert.“

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. ‚Das Fest’ ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Stefan Wenger-Ledermann «was engt mich ein – was macht mich weit»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

I Erde / Schöpfung
was engt mich ein
was macht mich weit
ein stiller See
einsamer Grat
auch bei Regen
kleiner Frosch
Weinbergschnecke
Moos und Gras
der Duft
von Leben

II Innenraum
es engt mich ein
ein dunkler Traum
ein enger Raum
manch Schuldgefühl
und innerlich Gewühl
mal Kindsgeschrei
und ausgeleerter Brei
dann tiefe Trauer
Herzensmauer

III Der Wald
es macht mich weit
der Wald
mit Erdenduft
mit Schattenbäumen
und Geborgenheit
mit Grün
und Gelb
und Rot
viel Braun
und Raum

IV Der Weg
wenn ich zu lange stille steh
und nicht mehr geh
dann wird mir eng
es engt mich ein
der Krieg von ferne
der Mächtigen Gelärme
und wenn ich nichts mehr lerne

V Reim und Wein
was macht mich weit
ein Blick
ein Klang
ein Bild
ein Kuss
Gesang
ein Wort
ein Reim
ein Satz
ein edler Wein

VI Politik
es engt mich ein
das Kapital
und macht mich weit
der Traum
von einer andren Welt
es engt mich ein
rechtskonservativ
und primitiv
es macht mich weit
das Denken
progressiv
und weit
und warm
und arm
im Blick
ein Mensch als Gegenüber

VII Das Wort
ein stiller Ort
an dem ich schreiben kann
der Holztisch im Speisewagen
ein Platz am Fluss
die Notiz
zwischen Kochkellen
Wäscheklammern
und Kindern

VIII Angst und Stille
es engt mich ein die Angst
vorm leeren Blatt
vorm Fehlen der Ideen
die Angst
nichts Gescheites zu sagen und zu schreiben
vielleicht
die Angst vor der Stille
vielleicht hätte sie uns
mehr zu sagen
als die Worte

was macht mich weit
die Stille

Stefan Wenger-Ledermann *1985. Als Jugendlicher hat er die Lust und Leidenschaft des Tagebuchschreibens entdeckt. Mit den Jahren kamen lyrische Texte, Gebete und Kurzgeschichten hinzu. 2021 gab er sich einen Ruck und damit seiner grossen Leidenschaft Raum: er besuchte den Lehrgang «Literarisches Schreiben» an der SAL in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter, die er an zwei Wochentagen betreut. 2013-2021 Tätigkeit als Gemeindepfarrer (ref.). Ab 2023 tätig als Klinikseelsorger sowie Weiterbildung in Seelsorge.

Corina Heizmann «Schaukelstuhl»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Letzten Sommer wollte ich meinen Schaukelstuhl anmalen, Zitronengelb. Stundenlang bin ich durch den Heimwerkerladen gelaufen auf der Suche nach dem richtigen Farbton. Ein helles, frisches Gelb, einen Hauch vor der Grenze zum Grünstich, hell aber nicht grell. Ein sommerliches Statement Piece für meinen Balkon, auf dem ich kluge Bücher über Kapitalismus lesen und frische Ingwerlimonade trinken würde, deren Rezept ich auf dem Pinterest-Profil einer übermotivierten Agglo-Mutter gefunden hatte.
Es ist nun zum zweiten Mal wieder August und der Schaukelstuhl steht immer noch in der Ecke meines Lagerzimmers. Das dritte Zimmer meiner Wohnung, in das ich alles hineinstelle, von dem ich nicht weiss, wohin damit.
Manchmal leg ich mich dazu und schau, wie die Staubpartikel in den Sonnenstrahlen fliegen.
Er ist hellblau, begraben unter halbdreckigen Kleidern und einer Daunendecke, die ich seit deinem Auszug waschen will.
Ich sehe dich, wie du in ihm sitzt und Martin Suter liest. Der hält sich selbst für so geil, hast du kopfschüttelnd gesagt und weitergelesen. Du sahst unfassbar gut aus im Profil.
Seit du weg bist, habe ich kein einziges Buch mehr gelesen. Geschrieben habe ich auch nicht, nur hie und da ein bisschen Liebeskummer in mein Notizbuch gerotzt. Ich bin einfach liegengeblieben, habe mich eingelagert und warte darauf, bis zu zurückkommst und mich abstaubst.
Unterdessen ist die Klematis auf meinem Balkon vertrocknet, eine Pandemie ist aus- und die US-Demokratie zusammengebrochen. Die Bänder in meinem rechten Fuss sind gerissen, der Italiener um die Ecke mit dem Sprachfehler und der guten Salami-Pizza ging Konkurs und unter mir sind neue Nachbarn eingezogen. Sie kiffen noch mehr als du. Der Rauch zieht durch mein schräg gestelltes Schlafzimmerfenster in die Wohnung und kriecht bis ins Lagerzimmer. Ich atme ein und der Schaukelstuhl beginnt leicht zu wippen.

Die Abende sind mittlerweile so warm und endlos, dass die Kiffer bis elf Uhr draussen sitzen. Gegen zwölf, wenn endlich alles still ist und es nur noch nach feuchter Sommernacht riecht, setze ich mich auf den Balkon, rauche eine deiner Zigaretten und drücke sie auf meinem Oberschenkel aus.
Meine Beine sind Januar-Weiss, obwohl Hochsommer ist.
Ich hab den Moment dieses Jahr erneut verpasst, um ein erstes Mal ins Schwimmbad zu gehen. Diese kurze Zeitspanne, in der die Körper noch alle blass und unsicher sind, sich die Leute erst wieder an ihr entblösstes Fleisch gewöhnen müssen, man noch nicht so auffällt mit den Rasierpickeln in der Bikinizone und den Armen vor dem Bauch. Die Grauzone, die man jedes Jahr überwinden muss, bis man ein bisschen braun ist und sich so oft nackt und eklig gefühlt hat, dass ein gewisser Gewöhnungseffekt stattgefunden hat.
So, dass man das kühle Wasser auf der Haut endlich geniessen kann, wenn auch nur für ein paar Sekunden am Abend kurz vor Badischluss.

Der Frühsommer ist an mir vorbeigezischt wie ein Intercity an einem Provinzbahnhof. Und jetzt liegen sie alle mit Bikiniabdruck auf ihren farbigen Hamamtüchern im Gras, essen Wassermelone mit Fetakäse und radeln nach dem Schwimmen mit ihren pastellfarbenen Rädern zum Apérol-Spritz in die Riminibar. Dort reden sie dann darüber, in welchem Supermarkt es die besten vegetarischen Grillwürste gibt und ob der Mann heutzutage immer noch derjenige sein soll, der den Heiratsantrag macht.
Ich rauche in die Nacht und brenne mir für jeden Gedanken an dich ein kleines Loch ins Fleisch.
Ich würde dir gerne schreiben und dich fragen, ob du deine hässlichen Jesus-Sandalen noch trägst. Du solltest den Verkäufer verklagen, habe ich dir gesagt, als du mir das ergonomische Fussbett präsentiert hast und es hat mir direkt ein bisschen Leid getan, als ich deinen Blick gesehen habe. Sowas trägt man halt beim Wandern, hast du geantwortet und ich hab mich sofort in dich verliebt. Dein totales Desinteresse an deinem Aussehen und die damit verbundene Selbstsicherheit machte dich so abscheulich attraktiv, ich könnte immer noch im Strahl kotzen und hoffe, dass wenigstens ein paar der Mädels nicht über die Jesussandalen hinwegschauen können und du gerade alleine im Bett liegst und nach Pornos suchst mit Frauen die mir ähneln. Ich hoffe generell, dass du mindestens so einsam bist wie ich, obwohl ich mir das am Ausmass dieses bodenlosen Lochs in mir schwer vorstellen kann. Ich weiss nicht wieso, aber es kommt mir vor, als ob immer ich diejenige bin, die mehr leidet. In mir zerbricht bei jeder Trennung noch etwas Übergeordnetes, ein Krug, mit dem du gar nicht in Berührung gekommen bist aber der sich durch deine Anwesenheit Scherbe für Scherbe wieder zusammengeleimt hat. Und umso krachender wieder in sich zusammengefallen ist, nachdem du plötzlich weg warst.

Einmal, da stand ich schon an der Kasse im Heimwerkerladen, als dein Name aufblinkte. Rapsgelb, Dottergelb und Verkehrsgelb lagen im Einkaufskorb, Zitronengelb war aus. Nur eine übergewichtige Kurzhaarmutter und ihre zwei Orchideen trennten mich vom Zahlungsvorgang. Wie auf Kommando liess ich alles stehen, lief aus dem Laden und hielt dich an meine Wange.
Dann ging ich nach Hause, legte mich ins Bett und stand zwei Tage nicht mehr auf.
Unterdessen sitze ich wieder, auf dem Balkon, und google nach Gelbtönen. Ich hab eine Pintrest-Pinnwand mit zitronengelben Stühlen und eine weitere für passende Kissen erstellt. Um das Limmonadenrezept zu perfektionieren habe ich mir stundenlang Youtube-Videos mit schönen Frauen mit Beeachwaves angeschaut, die in flatternden Sommerkleidern in weissen Küchen Zitronen in Scheiben schneiden. Ich stelle mir vor, wie du im Schaukelstuhl neben der blühenden Klematis sitzt und dir eine dieser Youtube-Frauen Limonade bringt. Ich drücke die Zigarette aus.
Du lächelst sie an und siehst unfassbar gut aus im Profil.

Corina Heinzmann, 1990 in Zürich geboren, arbeitet als Journalistin und schreibt beruflich fürs Hören. Während der Arbeit steht sie am Mikrofon, privat läuft sie hunderte Kilometer mit dem Rucksack durch Europa. Sie verlässt das Haus nie ohne Notizbuch und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Corina Heinzmann lebt in Zürich, liebt Hunde und hasst Deadlines. Sie ist fasziniert von menschlichen Abgründen und liest bei einem neuen Buch zuerst den letzten Satz.

Pascal Witschi «wie das ewige Meer»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

«Nach mir wird ein Nächster kommen, der dich lieben wird wie seinen Sohn, und er wird von Neuem Licht entzünden, von Neuem Gottes Wort verkünden», schmatzte der Vater mit Pomadelippen vorne auf dem Podium des Saales. Das Echo klatschte durch das Kirchenschiff, verklebte beide Ohren Adams, der den Vater von unten in den Schatten stellte. Ihm in den verloschenen Greisenaugen leuchtete, den Geruch verbrannter Erde in der Nase und erleuchtet durch vier kolossale Kirchenfenster, vier farbgewaltige Bleiglasheilige, deren komplexes Spiel von Farben auf dem fremdländischen Teint kurzerhand verloren ging.

«Ich brauch kein austauschbares Wort von einem austauschbaren Gott aus dem Munde eines austauschbaren Vaters! Ich brauch allein mich selber!», bellte er, im Rücken das Foyer, zu dem die Tür noch offen stand. Es zog. Hinter dem Vater wurden deshalb just in diesem Augenblick mehrere dutzend Kerzen ausgeblasen. Er versuchte noch, seinen Sohn zurückzuhalten, doch. Es zog. Den Jungen schon nach draussen.

Adam schlug sich vorwärts, abwärts durch die Stadt, aus deren Stadtverwaltung das Volk von rechten Männern auf den Pflasterstein erbrochen wurde. Bürokratenblässe in der Trauermiene, die Jacke auf den gesenkten Schultern ordentlich zurechtgeklopft und die Kragen stramm wie jedermann, von Adam abgesehen, das schwarze Schaf im weissen Strom des Kollektivs. Ein wild bemähntes Tier, das durch die zurechtgestutzte Herde wütete, den Kopf noch über Wasser und richtiggehend leidend, weil ihm alles viel zu grell war. Ihm war, als würde ihn die Stadt verbrennen, ihm jede Pore einzeln, jedes Pigment gewaltsam aus dem Körper brechen.

Er rettete sich ins Wäldchen unterhalb der Sandsteinklippen, ziellos über das breite Flussstück unterhalb des Eschenkronenbaldachins, mit zerknirschtem Blick in Richtung Schaum und Strömungen, in denen ihn sein Vater als Kind gefunden hatte. Er lief und fluchte, flüchtete, ohne dass seine Abscheu sich verflüchtigte. Bis er am Fuss der Felswand angelangte, beim Steinbruch, bei dem Quader aus dem gewellten Stein geschnitten worden waren, wie die ungeheuerliche Mutterwunde in der Erde windstill ihn erinnerte.

Auf einmal ging ein Schnarchen durch die Lichtung vor dem Bruch. Unweit seines Standorts entdeckte Adam zusammengekauert ein Mädchen liegen, sicher drei, vier Jahre jünger und nur halb so gross wie er. Ein Struwwelkopf, wie er im Buche stand. Ein schlammverschmierter mit blauen Flecken und roten Striemen an Armen wie auch Beinen. Eine Kragenechse irgendwo, wenn Adam nach dem Poncho ging, dem einen Kleidungsstück, das das Mädchen trug und im Schlaf besabberte. Und das ganz fürchterlich nach Rauch und Feuer stank.

Er war sofort verliebt.

Da wirbelte ihm das Mädchen mir nichts, dir nichts ungestüm entgegen, geröhrter Kampfschrei inklusive, was ihn verzaubert grinsen machte, während sich das Mädchen aus zügellosen Augen im belebten Abgrund seiner fand. Er wich aus, wurde dennoch umgestossen und sah ihm hinterher, weil er sich an Kohlenkriegsbemalung und Astgeweih ergötzte. Zog sich auf der Stelle seine Lederschuhe aus, um die Verfolgung aufzunehmen, wobei er festzustellen hatte, dass er im feuchten Moos gelandet war. Seine Kleidung war schon halb durchnässt. Also begann er noch im Lauf, sich bis auf seine Unterwäsche auszuziehen, was dazu führte, dass er gegen Bäume knallte und durch Nesseln strauchelte. Doch er lachte. Bei jedem Schlag und jedem Beissen lachte er mit weit gebleckten Zähnen.

«Du bist, Brontë!», japste er gezeichnet, als er das Mädchen im Modder dann erwischte. Brontë war, wie er es nannte, und Brontë schaute auf allen Vieren zu ihm um. Fühlte sich herausgefordert und erwiderte sein Spiel. Sie jagten einander durch das Unterholz, kannten keine Hemmung oder Scham, auch nicht, als sie voreinander auf die Wege schifften. Im Gegenteil sogar: Sie gaben alles, um den Strahl des jeweils anderen noch zu toppen. Stoppten ihre Tollerei erst mit Brontë hoch auf Adam’s Brust und ihren Fingern eng um seinen Hals geschnürt. Ausser Atem und mit einem Herzen, das aus seiner Rippenfeste explodieren wollte.

Brontë streckte ihre Zunge aus, auf der sich ein Sammelsurium von Spiegelungen in den Sabberblasen fand. Ein Kaleidoskop von Möglichkeiten, das sie ihm in seinen Rachen spuckte. Er verschlang das Spektrum ganz und streckte ebenfalls die Zunge aus, was ihr bestätigte, wie unfassbar ausgehungert er seit jeher war.

Sie packte seinen Kopf und drehte ihn in einem Ruck beiseite, um ihr Ohr auf seines aufzulegen und zu lauschen. Staunte. Sie konnte klar und deutlich ein Rauschen in der Muschel hören. Es war das erste Mal, dass es sie ans Meer verschlug. Dass sich unter ihren Füssen eine Gischt bemerkbar machte. Ein kaltes Sprudeln in den Zehenzwischenräumen, das sie zum Tanzen animierte.

Pascal Witschi ist ein Schweizer Autor. Der Berner mit Jahrgang 1989 schreibt seit seiner Jugend Prosa wie auch Lyrik und studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich Literarisches Schreiben, ehe er sich der Natur- und Wildnispädagogik zuwandte. Er veröffentlichte zwei illustrierte Gedichtzyklen, namentlich «Gode Graubund» (2019) sowie «Das Märchen von Anao und Aloe» (2020), und arbeitet gegenwärtig an seinem Erstlingsroman.

Dieter Boller «Akzentfrei»

Ein Text aus dem AutorInnen-Kollektiv, das am 4. Dezember 2022 im Literaturhaus Thurgau liest.

 

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden. Auch diese Zone kam nicht in Frage. Die Ruhestätten würden nächstens aufgehoben. Geräumt, wie es Emmelius’ Kollege ausdrückte. Nach zwanzig Jahren bereits, ganz im Gegensatz zu den Friedhöfen in Calvos Heimat.

***

«In Huelva haben wir Lehmböden. Da räumen sie frühestens nach dreissig, vierzig Jahren», erklärte Calvo. «Hier in Sarnen ist das Gewebe nach zwölf Jahren zersetzt.»
Calvo und Emmelius waren noch nie zusammen mittagessen. Obwohl sie fast täglich miteinander zu tun hatten. Als Emmelius ihn an jenem Freitag anrief und fragte, ob er spontan Lust hätte, mit ihm im Garten der Pfarrei gemeinsam die Pause zu verbringen, war dieser überrascht und erfreut zugleich. Dass Emmelius sich dann im Gespräch sehr interessiert an seiner Arbeit zeigte, geschmeichelt.
«Wie ist das eigentlich, Calvo», fragte Emmelius, als handelte es sich um einen Schnuppertag und ein neugieriger Lehrstellensuchender wollte innert kürzester Zeit alles über diesen Beruf erfahren, «wenn du die Gräber nach zwanzig Jahren erneuerst, findest du da noch alte Knochen?»
«Kommt selten vor. Find’ ich welche, bestatte ich sie unterhalb der neuen Gräben», sagte Calvo und biss ein grosses Stück seines Schinkensandwiches ab.
«Schon verrückt, dein Beruf, wenn man so darüber nachdenkt», meinte Emmelius. «Legst du beim Ausheben der Gräber manchmal auch noch selbst Hand an oder erledigt das unterdessen alles der Bagger?»
«Moderne Technik ist gut. Aber wer das Handwerk nicht mehr beherrscht, ist kein echter Sepulturero», entgegnete Calvo. «Schaufel, Spaten, Schubkarre. Mehr brauchst du nicht.»
«Wie lange dauert so was, ein Grab von Hand auszuheben?»
«Etwa zwei Stunden», antwortete Calvo, «du willst es aber genau wissen.»
«Ich bin ein neugieriger Mensch, Calvo», sagte Emmelius mit einem Schulterzucken und erinnerte sich in diesem Moment an eine seiner ersten Predigten, in der er davon gesprochen hatte, dass Neugierde zuweilen ins Verderben führte.

***

Das Quietschten der über den Ostsektor rollenden Karette schreckte die Amseln auf. Vor dem zweitletzten Grab blieb Emmelius stehen. Andre Wüthrich war vor etwas mehr als einem Jahr gestorben. Seine Frau schon länger. Kinder hatten sie keine. Die winterharte Knospenheide, die Calvo auf den Reihengräbern angepflanzt hatte, war unberührt. Keine Kerzen, Blumen oder Fotos flankierten sie. Emmelius erinnerte sich gut an die Abdankung. Eine Nichte war die einzige Verwandte, die an der Trauerfeier teilgenommen hatte.
Emmelius sah sich um. Blickte gen Himmel. Und setzte den Spaten an.

***

«Hey, Matthäus614, schöne Augen hast du.»
«Guten Abend, Goddess77, danke. Dein Kompliment vermag ich zu erwidern.»
«Oh, ein höflicher Mann. Selten da.»
«Ich gebe mir Mühe. Jeder Mensch verdient es, fein behandelt zu werden.»
«Aha, du sprichst mit allen Frauen hier so.»
«Du bist die erste Frau hier, der ich schreibe.»
«Ja, genau.»
«Du glaubst mir nicht.»
«Hör mal, Matthäus614, du musst mir nichts vormachen. Sei einfach du selbst.»
Würde Gott ihm diese Sünde vergeben, fragte sich Emmelius. Unrein würde sie ihn machen. Sicher. Aber welche Verfehlungen täten das nicht? Hatte er nicht auch schon anderes getan, das ihn zur Beichte gezwungen hatte? Als er zu müde zum Gebet gewesen war. Als sein Vater sich nicht auf ihn hatte verlassen können. Als er über einen Freund geurteilt hatte, nur um von seinen eigenen Schwächen abzulenken.

***

Was hätte er denn sonst tun sollen? Einen Notarzt herbeirufen, der den Tod festgestellt und bei nächster Gelegenheit im Dorf herumerzählt hätte, dass Emmelius seiner Standespflicht nicht nachgekommen sei? Dadurch wäre Aronja auch nicht wieder lebendig geworden. Vielleicht wäre sogar die Polizei vorgefahren und hätte ihm unangenehme Fragen gestellt.
Der Herrgott hatte Aronja in dieser Nacht zu sich genommen. Dass sich dieses Schicksal nicht in ihrem eigenen Bett ereignet hatte, dafür konnte er nichts. Und nun sollte ihm dafür die Suspension drohen? Und sowieso: Wer, wenn nicht er, wäre prädestiniert gewesen, diese wunderbare Frau auf ihrem letzten Weg zu begleiten?
Gleichwohl hörte er diese Stimme. Hast du denn alles vergessen, was du so viele Jahre selbst verkündet hast?

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«Ich habe so etwas schon lange nicht mehr gemacht», stellte Emmelius klar, nachdem er Aronja hereingebeten hatte. Die einzige Frau, die er jemals allein bei sich zu Hause empfangen hatte und kein Mitglied der Gemeinde war, hiess Nadine. Das war vor vierundzwanzig Jahren. Bevor er bei der Weihe sein Versprechen abgegeben hatte.
«Ich habe mich auf dich gefreut, Emmelius», sagte Aronja.

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Rund sechzehn Stunden brauchte Emmelius für das Schreiben einer Predigt. Ziemlich genau so viel Zeit blieb ihm an diesem Tag, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie er dieses Geschehnis nach Einbruch der Dunkelheit würde aus dem Diesseits schaffen können. Und dieser Plan glich der Struktur seiner bei der Gemeinde so beliebten Reden: Auch er war stringent, durchdacht und gut recherchiert. Ob er auch so fehlerfrei wie Emmelius’ vorgetragene Texte war, sollte sich weisen.
Emmelius hatte verschiedene Optionen in Betracht gezogen. Die Leiche in einem Gewässer zu versenken, war die erste. Würde sich der Sarnersee für dieses Unterfangen eignen? Gäbe es ein Ufer, an dem er unbeobachtet wäre? Und wie würde er an ein Boot kommen, das er dann schnell mal in die Mitte des Sees manövrieren könnte, um die Tat auszuführen? Auch dünkte ihn die Methode etwas unchristlich. Er beschloss, zu Plan B überzugehen.
Emmelius staunte ob seiner klaren Gedanken. Waren das die eines Dieners oder die eines Frevlers?
Aronja im Wald zu vergraben. Diese Idee verfolgte er etwas länger. Rorwald, Chlisterli, Schattenberg. Er fasste mehrere Gebiete ins Auge. Prüfte auf der Karte deren Zufahrten, um mit seinem Renault möglichst weit in die Tiefe des Gehölzes vordringen zu können und den schweren Sack nicht zu lange über Äste und Tannzapfen schleifen zu müssen.
So berauscht er die vergangene Nacht verbracht hatte, so nüchtern war er nun im Begriff, deren Spuren aus der Welt zu schaffen. Vierundzwanzig Jahre lang hatte er sein Leben in den Dienst Gottes gestellt. Heute war der Tag gekommen, an dem er Gottes uneingeschränkte Liebe einfordern würde.
«Die Spürhunde!», schoss es Emmelius durch den Kopf. Er könnte noch so tief graben. Die würden Aronja früher oder später ausfindig machen. Die Polizei fände unter ihren Fingernägeln seine Hautschuppen. An ihrem Hals seinen Speichel. Auf ihrem Bauch seinen Schweiss.
Als Emmelius genauer über die Hunde nachdachte, hatte er eine Eingebung: Der Friedhof – hier würden die bellenden Polizisten wohl kaum hingeführt. Und wenn doch, würden sie inmitten des olfaktorischen Durcheinanders Hunderter Verstorbener aufheulen und keine verlässlichen Hinweise mehr liefern können.
Emmelius wählte Calvos Nummer.

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Die fünf Stundenschläge der Pfarrkirche gingen Emmelius durch Mark und Bein. Nächstens würde ihm der Morgen grauen. Und er war noch immer nicht bei Herrn Wüthrich angelangt. Von wegen zwei Stunden. Emmelius war sauer auf Calvo. Und erhöhte die Auswurfkadenz.
Dann kam es, das Geräusch, dem Emmelius so viele Stunden entgegengeschaufelt hatte: Metall auf Pappelholz – so dumpf, wie es nur frühmorgens in zwei Metern Tiefe tönen konnte. Emmelius liess Aronja unter Zuhilfenahme von zwei Stricken langsam ins Loch, sprach eine kurze Grabesrede, in der er ihr Leben, Lieben und Wirken im Laufe ihres letzten Abends würdigte, segnete die Stätte mit Weihwasser und bekreuzigte sich.
Er schüttete die auf der ausgerollten Plane liegende Erde zurück ins Loch. Die Glocken läuteten halb sechs. Emmelius schwang die Schaufel noch etwas zügiger. In der Eile touchierte er den Grabstein. Angstschweiss schoss an den undenklichsten Stellen aus den Poren. Ein Kontrollblick. Aufatmen. Der Marmor schien unversehrt. Emmelius schloss den Graben, setzte die winterharte Knospenheide sorgfältig wieder ein und brachte Karette und Werkzeuge zurück zum Gärtnerhaus.

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«Mein Onkel», sagte die junge Frau.
«Mein Beileid», sagte Calvo, der gerade dabei war, die Knospenheide auf den Reihengräbern durch Vergissmeinnicht zu ersetzen.
«Er schrieb sich nicht so.»
«Was meinen Sie?», fragte Calvo. «Wie schrieb er sich dann?»
«Ohne Aigu.»
«Ohne Aigu.»
«Sie wissen schon, der Strich auf dem E.»
«Ich verstehe, der Strich auf dem E.»
«Ich glaube nicht, dass Onkel Andre das gefallen würde.»
«Es würde wohl niemandem gefallen, einen Fehler im Namen auf dem eigenen Grabstein stehen zu haben.»
«Einem Lehrer wohl am wenigsten.»
«Lehrer war er also.»
«Können Sie mir sagen, wer diesen Stein hergestellt hat? Ich möchte das gerne korrigieren lassen.»
«Sicher. Die meisten unserer Grabmale werden von …»
«Guten Tag, Frau Wüthrich», unterbrach ihn Emmelius, der die zwei durch die Kirchenfenster beobachtet hatte und zu ihnen gestossen war. «Schön, Sie wiederzusehen.»
«Herr Emmelius, gut, dass ich Sie treffe. Sehen Sie sich das an. Dieser Steinmetz hat ganze Arbeit geleistet.»
Emmelius sah zum Grabmal. Und wieder zurück zu Frau Wüthrich. «Ich verstehe nicht ganz.»
«Das Aigu.», sagte sie.
«Wie bitte?», fragte Emmelius.
«Du weisst schon, der Strich auf dem E», erklärte Kollege Calvo.
«Was ist damit?»
«Das gehört da nicht hin, Herr Emmelius.»
Emmelius verstand.

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Im Vorgarten standen Dutzende unbearbeiteter Steinblöcke aus Marmor, Granit und Kalkstein. Bereit für neue Tote. Drinnen befanden sich Statuen, Büsten und typografische Arbeiten. Der Raum glich mehr einem Künstleratelier, denn einem Ort, an dem Hinterbliebene respektvoll bei der Auswahl eines passenden Grabsteins begleitetet würden. Aus dem Radio erklangen Jimmie Lighthouse & The Nashville Brothers.
«Calvo! Herr Emmelius! Und Sie sind Frau …?»
«Wüthrich.»
«Rüegg. Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Ich möchte einen Schreibfehler auf einem Grabstein melden.»
«Auf einem Grabmal, das ich entworfen habe?», fragte der Bildhauer.
«Herr Emmelius meinte, Sie seien verantwortlich für den Grabstein meines Onkels, Andre Wüthrich?»
«Andre Wüthrich, ich erinnere mich.»
«Mein Onkel schrieb sich ohne Aigu.»
«Ohne Aigu also.»
«Ein Strich auf dem E, du weisst schon», erklärte Calvo.
«Ich weiss schon, Calvo, danke», sagte Rüegg. «Bei allem Respekt, Frau Wüthrich, es ist unwahrscheinlich, dass ich da spontan und nach eigenem Gutdünken einen Akzent gesetzt habe.»
«Unwahrscheinlich? Ich habe ihn ja mit eigenen Augen gesehen», entgegnete Frau Wüthrich.
«Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Schauen Sie, in der Regel läuft es folgendermassen ab: Ich bekomme einen Auftrag. Einen Namen und zwei Jahreszahlen. Die sind fix. In Stein gemeisselt, wenn Sie mir dieses Wortspiel erlauben. Da habe ich keinen Interpretionsspielraum. Da bin ich nicht Künstler, da bin ich Handwerker.»
«Verstehe», sagte Frau Wüthrich.
«Meinen Umsetzungsvorschlag sende ich anschliessend an die Gemeinde. Das Bestattungsamt prüft meinen Vorschlag. Die Gestaltung, die Zahlen, den Text. Nicht zuletzt deshalb, um zu verhindern, dass mehrere Hinterbliebene unabhängig voneinander einen Grabstein bestellen.»
«Das ergibt Sinn.»
«Bevor ich den Meissel ansetze, bekommt der Auftraggeber die finale Skizze immer auch noch einmal zu Gesicht. Würde da irgendwo ein falscher Accent Aigu reinrutschen, jemand würde das bemerken.»
«Vielleicht passierte der Fehler ja erst später, beim Einmeisseln», brachte Emmelius vor.
«Ich mache keine Fehler», sagte Rüegg.
«Wir alle fehlen mannigfaltig», wandte Emmelius ein.
Frau Wüthrich senkte ihren Blick. Nach einem Moment des allgemeinen Schweigens deutete sie an, die Sache und damit auch ihren Onkel lieber ruhen lassen zu wollen.
Calvo schlug vor, gemeinsam zum Grab zu gehen.

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Schlicht war er. Klassisch. Entlang des Stichbogens war eine Lilie in den Marmor gemeisselt. Darunter stand der Name des Verstorbenen. In Grossbuchstaben. Mit Accent Aigu.
Professionell pietätvoll legte Rüegg ein Brett auf die Erde, trat nah zum Stein heran und kniete nieder. Er begutachtete den kurzen Strich von links unten nach rechts oben über dem grossen E. Glitt mit seinen hornhäutigen Fingerkuppen über die Furche. Bevor er sich wieder erhob, drehte er sich zu Emmelius, Calvo und Frau Wüthrich, schüttelte den Kopf und sagte: «Der ist nicht von mir.»
«Was meinen Sie damit, der ist nicht von Ihnen?», fragte Emmelius.
«Das ist kein Strich, den ich so setzen würde. Zwar entspricht der Steigungswinkel tatsächlich in etwa demjenigen des Akuts der Antiqua, die ich hier verwendet habe. Und auch die Länge kommt hin. Allerdings verläuft die Breite des Strichs von unten nach oben konstant. Das Zeichen müsste schrifttypischerweise gegen oben hin kräftiger werden.»
«Bitte, Herr Rüegg», entgegnete Emmelius, «ersparen Sie Frau Wüthrich die Fachsimpelei. Wir sind doch alle bei gutem Verstand und erkennen den Akzent in aller Deutlichkeit.»
«Die Regeln der Typographie lassen es ganz einfach nicht zu, einen solchen Strich zu setzen», erklärte Rüegg. «Da Sie mir offensichtlich nicht glauben, komme ich nicht umhin, Ihnen die Situation aus fachlicher Perspektive zu beleuchten.»
«Bitte», sagte Frau Wüthrich.
«Wie Sie sehen, ist die Inschrift keilförmig eingearbeitet. Bei dieser Technik, die ihre Ursprünge übrigens in der Keilschrift der Sumerer hat, wird mit dem Meissel von beiden Balkenseiten schräg in die Tiefe des Steins gearbeitet, bis sich die beiden Schrägen in der Mitte treffen. Sie können sich das wie ein V vorstellen. Dieser klassische Stil ist bei dem vermeintlichen Accent Aigu nicht vorhanden.»
«Das beweist gar nichts.» Emmelius’ Geduld schwand.
«Das beweist, dass hier kein Bildhauer am Werk war. Es könnte sich jemand einen Spass erlaubt haben und mit einem Werkzeug den Strich eingekratzt haben. Das geht bei einem Weichgestein wie Marmor relativ leicht.»
«Wer sollte so etwas tun?», fragte Frau Wüthrich.
«Ich weiss es nicht», fuhr Rüegg fort, «vielleicht ist auch einfach jemand aus Versehen mit einem harten Gegenstand etwas nah an den Stein geraten. Ein Trauernder. Oder ein Gärtner.»
Calvo erschrak. Hatte ihn der gute Rüegg da eben völlig aus dem Nichts zu einem möglichen Schuldigen in dieser Sache gemacht? «Ein Gärtner soll also eher einen Fehler machen als ein Bildhauer?», wehrte er sich.
Calvo sah zu Emmelius. Emmelius zu Frau Wüthrich. Und Frau Wüthrich nur mehr auf das Aigu, das also keines war.
Das Aufheben um sein Geheimnis wurde Emmelius langsam zu gross. Er drängte auf eine Lösung. «Hören Sie, Herr Rüegg, regeln wir die Angelegenheit doch einfach pragmatisch. Wie wäre es, wenn Sie den Fehler einfach behöben?»
Rüegg erklärte, dass man hierfür das Grabmal entfernen und zurück in die Werkstatt transportieren, die gesamte Vorderseite abfräsen, neu schleifen und mit dem Einmeisseln sämtlicher Ziffern, Buchstaben sowie der Lilie von vorne beginnen müsste. Er habe weiss Gott Besseres zu tun als zwei Tage Fronarbeit zu leisten für einen Fehler, den er nicht verantworte.
«Lassen Sie es uns so machen, Herr Rüegg», leitete Emmelius sein Machtwort ein, «Sie bringen das jetzt in Ordnung und die Pfarrei St. Peter und Paul empfiehlt Sie auch in Zukunft gerne wieder weiter.»

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Der braune Pritschenwagen rollte leise über das Kies und hielt am Fusse des Ostsektors. Rüegg entstieg dem Fahrzeug, zog die Handschuhe an und schwang sich auf die Ladefläche. Er schob die Stechkarre unter den ehemals vierhundert, jetzt nur mehr dreihundertssechzig Kilogramm schweren Gesteinsblock und schob ihn auf die Hubladebühne.
Calvo und Emmelius winkten ihm vom Gärtnerhaus aus zu und eilten herbei. Ersterer, um beim Aufstellen des Grabsteins zu helfen. Letzterer, um nach dem Rechten zu sehen. Rüegg erwiderte den Gruss mit einer minimalen Kopfbewegung.
Der Bildhauer schob die schwere Last über die Anhöhe des Ostsektors und setzte sie hinter Andre Wüthrichs Grab ab.
Gemeinsam mit Calvo hievte Rüegg den Koloss auf den Sockel. Emmelius musste mitansehen, wie der Stein zwar passgenau in der Verankerung einrastete, sich darauf jedoch unversehens nach vorne neigte. Immer weiter. Bis er vollends kippte und Calvos liebevoll gepflanzte Vergissmeinnicht dumpf plattmachte.
Calvo legte seine Hände über den Kopf. Emmelius stand statuenhaft dahinter.
«Was zum Teufel …», stiess es aus Rüegg hervor. «Sakrament! Wie ist das möglich?»
«Was ist da passiert?», fragte Calvo.
«Frag mich ’was Einfacheres!», antwortete Rüegg. «Ich habe das Betonfundament vor zwei Monaten erstellt. Wie immer exakt ein Jahr nach der Bestattung. Alles war bestens. Die Erde hatte sich gesetzt, der Boden war ausreichend verdichtet. Jetzt ist er locker wie direkt nach einer verdammten Beerdigung!»
Emmelius schloss die Augen.
Rüegg trat einen Schritt zurück und sagte: «Ruf die Polizei, Sepulturero.»

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.